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NEUZEIT/193: Geschichte der russischen Populisten Ende des 19. Jahrhunderts - 2. Teil (Archipel)


Archipel Nr. 174 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - September 2009

GESTERN - HEUTE - MORGEN
Das Volk sehen und sterben
2. Teil

Von Clark Kent (Revue Z)


Die Geschichte der russischen Populisten am Ende des 19. Jahrhunderts veranschaulicht das Scheitern eines politischen Bündnisses zwischen der städtischen Intelligentsia und dem Bauerntum. Menschen, die sich in Reaktion auf die Gewalt, die von der Autokratie ausgeht, radikalisieren und die, verloren in den eisigen Weiten Sibiriens, auf dem Schafott oder im Feuer ihrer eigenen Bomben enden.


Radikalisierung der Aktionsformen

Die Verhaftungswelle unerwarteten Ausmaßes zwang die noch in Freiheit gebliebenen Populisten dazu, ihr Handeln und ihre Ziele zu überdenken. Es erwies sich als nötig, Richtlinien für einen neuen Revolutionsansatz nach der Niederlage des Ganges ins Volk zu erarbeiten und sich zu organisieren, um die Kameraden in Gefangenschaft zu befreien. Der Ausbruch des Prinzen Kropotkin, einer der bekanntesten der gefangenen Populisten, im Jahre 1876, zeugt von dem schon zu dieser Zeit erreichten Organisationsgrad. Es ist das Werk von Aktivisten der neuen revolutionären "Partei" Zemlja i Wolja (Land und Freiheit), die sich hauptsächlich aus Entkommenen der Bewegung des Gangs ins Volk zusammensetzt. Ihr Programm behält die ideologischen Grundlagen des Populismus bei, aber es zielt auch auf die "Desorganisierung des Staates" ab, die auch die Beseitigung der wichtigsten staatlichen Repräsentanten beinhaltet. Die zu dieser Zeit erschaffenen terroristischen Methoden zielten noch nicht darauf ab, "Terror zu verbreiten". Sie galten als Mittel zur Selbstverteidigung oder zur Vergeltung gegen die Machthabenden.

Diese politische Plattform, die eine große Anzahl verschiedener Strömungen mit dem Ziel vereinigt, die Autokratie zu zerstören, ist von Beginn an Schauplatz tiefgehender Meinungsverschiedenheiten. Zwei Tendenzen zeichnen sich in der revolutionären Szene ab. Die "Landleute" wollen trotz der bestehenden Risiken die alte Strategie der Propaganda auf dem Land fortführen. Die "Städter" im Gegenzug wollen ihr Vertrauen nicht mehr allein in die Bauern setzen, um die Revolution voranzutreiben. Die politische Bewegung soll stattdessen durch den Terrorismus beschleunigt werden.

Zur gleichen Zeit entsteht eine gewisse Solidarität im Umfeld zahlreicher politischer Gefangener, deren Prozess zwischen dem 18. Oktober 1877 und dem 23. Januar 1878 stattfindet. Die politische Polizei will mit den Partisanen des Gang ins Volk abrechnen, und nach jahrelangen Ermittlungen und Untersuchungshaft in Einzelzellen führt sie 770 Personen der Justiz vor. Im Oktober werden schließlich über 193 Personen für als sehr schwerwiegend geltende Tatbestände gerichtet. 36 Personen werden zu Deportation oder Zwangsarbeit verurteilt. Aber der "Prozess der 193" hat sich in eine politische Tribüne verwandelt, durch die die Anklagen der Beschuldigten die Öffentlichkeit erreichen konnten.


Die Hintergründe des Terrors

Insbesondere die Behandlung der Personen in Untersuchungshaft während der Ermittlungen motiviert einen Teil der Aktivisten in Freiheit, mit Gewalt auf die Gewalt zu antworten. Ein konkretes Ereignis löst sowohl die Empörung der Öffentlichkeit, als auch das erste terroristische Attentat in der russischen Geschichte aus. Während eines Besuchs des Generals Trepow, Gouverneur und Polizeichef von St. Petersburg, im städtischen Gefängnis wird ein Gefangener, der sich geweigert hatte, seine Kopfbedeckung abzunehmen, solange ausgepeitscht, bis er ein Auge verliert. Am Tag nach dem Urteil im "Prozess der 193", dem 24. Januar 1878, dringt Wera Sassulitsch, Mitglied von "Land und Freiheit", in das Büro des Gouverneurs ein. Sie tötet ihn mit einer Kugel in den Kopf und stellt sich dann der Polizei. Als sie die Waffe nach dem Schuss niederlegt, kommt sie ihren potentiellen Anklägern mit dem Satz zuvor: "Ich bin eine Terroristin, keine Mörderin." Sie will so den politischen Charakter ihrer Tat unterstreichen.

Nicht nur das Volk ist in Aufruhr, auch das Justizministerium ist der wiederholten Einmischung der politischen Polizei in Justizangelegenheiten überdrüssig. Der Prozess gegen Wera Sassulitsch findet am 1. April 1878 statt, obwohl noch nicht alle Strafen für die 193 verkündet worden sind. In dieser politisch aufgeladenen Atmosphäre wird sie einem Schwurgericht vorgeführt, dessen hoher Anteil von Menschen aus dem einfachen Volk ihr zugute kommt. Im Laufe des Prozesses werden die Rollen von Opfer und Ankläger vertauscht. Es geht weniger darum, über ein begangenes Verbrechen zu urteilen, sondern vielmehr - mit Blick auf die Grausamkeit Trepows - über die Legitimität der Tat. Zum allgemeinen Erstaunen und unter Beifall des Publikums und der Justizbeamten wird die Aktivistin einstimmig für unschuldig erklärt. Die politische Polizei schlägt den darauf folgenden Aufruhr des Volkes mit Gewalt nieder und versucht, Wera Sassulitsch zu verhaften. Sie ist gezwungen unterzutauchen.

Dieses Ereignis ist das erste einer Reihe von Mordanschlägen. Das Volk organisiert den Widerstand, die Polizeistation in Odessa wird Anfang 1878 mit Waffengewalt angegriffen, ein Mordversuch gegen den Zaren Alexander II. im April 1879 schlägt fehl. Es ist der Höhepunkt der Solidarität zwischen Bauern und Aktivisten. Zum letzten Mal.


Die Organisation des Terrors

Eine Fraktion von "Land und Freiheit" lehnt die terroristische Entwicklung der revolutionären Bewegung ab. Nach einem Parteikongress in Woronesch im Sommer 1879 ist "Land und Freiheit" gespalten. Auf der einen Seite will die "schwarze Umverteilung"(1) (Tschornyi Peredel) die Propaganda in den Dörfern auf dem Land weiterführen, um die gesellschaftliche Basis der Revolution aufzubauen. Auf der anderen schwört der "Volkswille" (Narodnaja Wolja) auf die Zerstörung der Autokratie durch Gewalt. Erstaunlicherweise gehört Wera Sassulitsch zu den Aktivisten, die die schwarze Umverteilung unterstützen und die sich zu Ende des Jahrhunderts im Schweizer Exil dem Marxismus zuwenden werden.

Der "Volkswille" besteht zu einem Viertel aus Frauen, und kein einziges Mitglied des Exekutivkomitees ist über 30 Jahre alt. Im breiteren revolutionären Milieu schließen sich Bauern und Arbeiter zum ersten Mal den adligen und bürgerlichen Studenten an. Das Programm des "Volkswillen" zeugt von einer extrem strengen Organisation und einer eindeutig radikalen Ideologie:

"Jedes Mitglied des Komitees verpflichtet sich dazu:

sich mit allen Kräften seines Geistes und seiner Seele der revolutionären Sache hinzugeben, und für sie auf alle Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen zu verzichten;
wenn nötig sein Leben zu lassen ohne Rücksicht auf sich selbst oder andere;
nichts zu besitzen, was nicht gleichzeitig der Organisation gehört;
jeglichem individuellen Willen zu entsagen und sich den Mehrheitsentscheidungen der Organisation unterzuordnen."(2)

In den Zeugnissen der Aktivisten, die im geheimen vom Volkswillen rekrutiert wurden, wird der Terror eindeutig als zu verfolgendes Ziel benannt.

Schon am 25. August 1879 hält das Komitee einen internen Prozess ab, verurteilt den Zaren zum Tode und beginnt mit den Vorbereitungen, um das Urteil zu vollstrecken. Es besteht weiterhin Uneinigkeit, wie der terroristische Anschlag letztendlich gerechtfertigt werden soll. Für einige handelt es sich darum, Druck auf die Regierung auszuüben, um sie dazu zu zwingen, demokratische Reformen einzuleiten. Andere wiederum sehen darin ein Mittel, die Macht zu ergreifen, um sie dann dem Volk zu übergeben.

"Ich muss es tun. Es ist meine Sache. Alexander II. gehört mir und ich überlasse ihn niemandem," versichert Alexander Solowjow im Jahre 1879(3). Er endet nach dem Scheitern des Attentats am 2. April des gleichen Jahres am Galgen. Alexander II. entkommt sechs Mordversuchen, bis ihn am 1. März 1881 eine vom jungen Grinewitz geworfene Bombe am Ufer des Katharinenkanals in St. Petersburg tötet. Dieser sehr genau vorbereitete Anschlag mobilisierte mehrere Schützen und Späher und forderte letztendlich drei Tote: die Zielperson, den Bombenwerfer und einen Passanten.

Die Folgen dieser Tat sind jedoch weit entfernt von den Erwartungen der Aktivisten des Volkswillens. Sie löst weder eine politische noch eine soziale Revolution aus. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Bevölkerung verurteilt das Attentat, und die populistische Bewegung verliert von da an die Unterstützung, auf die sie bei den Prozessen von 1877 und 1878 zählen konnte. Zwanzig Jahre lang wird keine nennenswerte Aktion stattfinden, außer einem Mordversuch gegen den Zaren im Jahre 1887, in den der Bruder Lenins verwickelt war. Außerdem verschärft sich das Regime beachtlich unter der Herrschaft Alexander III. Er gründet schon bald nach dem Tod seines Vaters die Ochrana, die Geheimpolizei, welche die revolutionäre Bewegung vernichten soll. Sie schleust hauptsächlich Agenten als Provokateure in alle politischen Gruppen ein. Innerhalb von zwei Jahren ist der Volkswille zerschlagen, seine Mitglieder werden entweder zum Tod durch Erhängen verurteilt oder für lebenslanges Exil nach Sibirien verschleppt. Die blutige Repression trifft ebenfalls die Schwarze Umverteilung, die ideologisch und historisch mit dem Volkswillen verbunden wird. Für zahlreiche Historiker endet der Populismus hier.


Die Rückkehr des revolutionären Terrorismus

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwacht die revolutionäre Bewegung in Russland erneut, vor allem mit dem Aufkommen der Partei der Sozialrevolutionäre (SR) und den Maximalisten, die sich als Erben von "Land und Freiheit" bezeichnen und sich ebenfalls auf die Mittel des Terrorismus und der Enteignung berufen. Jenseits einer langen Reihe von Anschlägen gegen Staatsvertreter organisieren sie am 11. August 1906 ein extrem blutiges Selbstmordattentat in der Datscha des Ministers Stolypin, der an diesem Tag auf der Aptekarski-Insel nahe St. Petersburg eine Sitzung abhält Der Minister entkommt dem Anschlag, aber fast dreißig Personen werden getötet, darunter die drei Terroristen. 1909 organisierten die Maximalisten ebenfalls den spektakulären Ausbruch von dreizehn politischen Gefangenen aus dem Gefängnis Nowinski in Moskau. Es handelt sich allerdings nur um einen relativen Erfolg dieser Bewegung, denn von Beginn ihrer Machtergreifung an verfolgen die Bolschewiki die meisten Aktivisten dieser anarchistischen Strömung und ziehen einen endgültigen Schlussstrich unter die Geschichte der populistischen Bewegung.


Einsame Helden

Getrieben von ihrem Wunsch nach Heldentum, haben sich die populistischen Revolutionäre von eben jenem Volk isoliert, das sie zu befreien vorgaben. Sie scheiterten an ihrer eigenen Haltung, die es unmöglich machte, sich mit dem Volk zu vereinen.

Die Populisten glaubten, alleine Widerstand gegen die vielfältigen Machtmechanismen des Staates leisten zu können. Sie glaubten, seine Macht werde allein von seinen Vertretern verkörpert. Der Zar ist tot, aber die Unterdrückung besteht weiter.

So haben die Populisten nur erneut das Lied des romantischen Heldentums angestimmt, das immer tragisch enden muss. Es ist schwierig, nicht zu vergessen, dass jegliches politisches Engagement eine andauernde Bewegung zwischen Bezugsgruppen, aktionsgebundenen Kooperationen und größeren politischen Zusammenhängen, in denen gewisse allgemeine Ideen geteilt werden können, bedeutet. Dieser ständige Wechsel ist eine unerlässliche Bedingung für eine politische Föderation und für eine gemeinsam erschaffene Emanzipation.


Übersetzung: Inga Frohn

Anmerkungen:

(1) Der Name kommt daher, dass das Adjektiv Schwarz häufig benutzt wurde, um die Leibeigenen zu bezeichnen.

(2) Dokumentiert von Wera Figner in "Nacht über Russland".

(3) Alexander Solowjow, zitiert von Hans Magnus Enzensberger in "Traktat und Bombe oder die Träumer des Absoluten"

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der erste Teil des Artikels ist zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Geisteswissenschaften -> Geschichte
NEUZEIT/190: Geschichte der russischen Populisten Ende des 19. Jahrhunderts (Archipel)


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 174, September 2009, S. 5-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2009