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NEUZEIT/213: Die Einheit einer Gesellschaft im Wesen ihrer Kommunikation (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 39|10 - Universität Konstanz

Die Einheit einer Gesellschaft im Wesen ihrer Kommunikation

Prof. Rudolf Schlögl erforscht im Rahmen der Reinhart Koselleck-Projekte
den Kern gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse in der frühen Neuzeit

Von Jürgen Graf


Hand aufs Herz: Auf welchen Wegen erfahren Sie Neuigkeiten aus Politik und Kultur, aus dem gesellschaftlichen Leben oder ganz allgemein darüber, was gerade in Ihrer Stadt und im Weltkreis so alles geschieht? Vielleicht stammen Ihre Informationen aus der Morgenzeitung oder aus den Abendnachrichten, vielleicht klicken Sie sich auch einfach durchs Internet oder hören die Nachrichten im Radio auf der Fahrt zur Arbeit. All diesen Fällen ist jedoch eines gemeinsam: Der Mensch, der die Botschaft verfasste, steht nicht leibhaftig vor Ihnen. Sie und Ihr Nachrichtüberbringer stehen sich nicht Stirn an Stirn Rede und Antwort - stattdessen sprach oder schrieb jemand aus weiter Ferne eine Nachricht an ein Publikum, das er möglicherweise niemals zu Gesicht bekommen wird, und Sie vernehmen nun die Botschaft eines Menschen, den Sie nur schwerlich rückadressieren können.

Wie anders gestaltete sich hingegen das alltägliche Leben in vormodernen Gesellschaften wie der frühen Neuzeit, einige Jahrhunderte vor unserem Informationszeitalter - zum Beispiel um 1500: Wann immer ein Mensch Nachrichten vernahm, er vernahm sie aus dem Mund eines körperlich anwesenden Gegenübers. Wann immer sich eine Politik oder gar ein Staat formierte, sie entstanden im Zusammensein von leibhaftig präsenten Menschen. Selbst wenn jemand die Bibliothek eines Klosters aufsuchte, war der Zugang zu den Handschriften in aller Regel mit direkter zwischenmenschlicher Kommunikation verbunden - immerhin musste ein Archivar die gewünschten Schriften nicht nur heraussuchen, sondern sie aller Wahrscheinlichkeit nach dem Bittsteller auch vorlesen und deuten. "Gesellschaften, die darauf angewiesen sind, ihre sozialen Institutionen vorwiegend über Interaktionskommunikation zu bauen, sind in ihren sozialen Strukturen anders und funktionieren auch anders als Gesellschaften, die interaktions- und distanzmedienvermittelte Kommunikation zur Verfügung haben", erläutert Prof. Rudolf Schlögl, Ordinarius der neueren Geschichte an der Universität Konstanz.

"Ich habe schon seit längerem das Gefühl, dass uns durch die Diversität der Forschung die Vorstellung abhanden gekommen ist - oder dass wir noch nie ein Vorstellung davon hatten -, was denn die frühe Neuzeit im Kern auszeichnet, was die Einheit dieser Gesellschaft darstellt." Im Kommunikationsmodell der Interaktion zwischen Anwesenden findet Rudolf Schlögl den Schlüssel, um das Wesen der Gesellschaft jener Epoche auf den Punkt zu bringen. "In dieser kommunikationstheoretischen Betrachtungsweise gewinnt die frühneuzeitliche Gesellschaft plötzliche eine Einheit. Sie kann in ihren Basisstrukturen als Gesellschaft beschrieben werden, die auf Kommunikation unter Anwesenden beruht. Gleichzeitig ist diese frühneuzeitliche Gesellschaft welthistorisch insofern einmalig, als sie sich auf die neuen Medien Schrift und Druck einlässt und sich den damit verbundenen Transformationsprozessen aussetzt."

Als erster Historiker erhielt Rudolf Schlögl für sein Projekt "Vergesellschaftung unter Anwesenden und ihre Transformation. Eine Gesellschaftsgeschichte und Theorie der europäischen Frühneuzeit" den Zuschlag für das Förderprogramm der Reinhart Koselleck-Projekte. Dieses Förderprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) richtet sich an wissenschaftliche Pionierarbeit, die "besonders innovativ und im positiven Sinne risikobehaftet" ist. "Es freut mich, dass damit anerkannt wurde, dass es auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften Risiken in der Forschung gibt", eröffnet Rudolf Schlögl.

"Ich möchte nicht die Ereignisgeschichte revolutionieren. Was auf der ereignisgeschichtlichen Oberfläche passiert, ist nicht Hauptgegenstand meiner Betrachtung", erläutert Rudolf Schlögl das Ziel seines Forschungsprojekts: "Ich möchte die Tiefenströmungen und die Mechanik der gesellschaftlichen Prozesse soweit verstehen, dass ich beschreiben kann, warum die Ereignisse ihre jeweilige Gestalt gefunden haben." Anknüpfungspunkte für seinen innovativen Ansatz findet der Historiker in den Kommunikationstheorien der Literatur-, der Medien- und der Sozialwissenschaften, insbesondere in der Systemtheorie Niklas Luhmanns: "Ich bin habituell ein interdisziplinärer Historiker. Ich glaube, dass die Geschichtswissenschaft eine historische Text- und Sozialwissenschaft ist."

Die Kommunikation unter Anwesenden wird für Rudolf Schlögl zur Einheitsfigur der frühneuzeitlichen Gesellschaft und ihrer politischen Prozesse: "Wer die Eigenheiten dieses Politikstils verstehen will, muss über dessen Form von Kommunikation nachdenken. Im zweiten Schritt muss sehr viel genauer überlegt werden, was denn Interaktionskommunikation kann, welchen Restriktionen sie unterliegt, wie ihre Strukturbildungsfähigkeit gesteigert werden kann, wo ihre Grenzen liegen." Unter diesen medialen Gesichtspunkten wird Rudolf Schlögl die symbolisch generalisierten Formen von Macht zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ausleuchten: Religion, Ökonomie, der politische Code der Macht, doch auch die Selbstbeschreibung dieser frühneuzeitlichen Gesellschaft und die Frage, was unter "Öffentlichkeit" zu verstehen ist: "In einem politischen Gebilde, das im Wesentlichen auf Anwesenheitskommunikation basiert, kann sich eine eigenständige öffentliche Sphäre nicht ausdifferenzieren. Alles, was wir heute so schnell als Öffentlichkeit in der Frühneuzeit bezeichnen würden, ist eigentlich politische Operation."

"Wenn ich diesen kommunikations- und medientheoretischen Ansatz ernst nehme, dann verschieben sich manche Dinge, die uns Historikern geläufig sind. Dann muss man von Kausalität auf Kontingenz umschalten", erklärt Rudolf Schlögl die Innovation seines Forschungsprojekts: "Für mich persönlich besteht der Clou an diesem Projekt darin, die Andersartigkeit und Fremdheit der vormodernen Gesellschaft auf den Punkt zu bringen - und doch im selben Zuge sagen zu müssen, dass in dieser Gesellschaft die Moderne entsteht. Es gibt zu Beginn der frühen Neuzeit einen welthistorisch einmaligen Schub. Es bleibt in diesen europäischen Gesellschaften von 1600 bis 1800 kein Stein auf dem anderen, aber das Haus bleibt trotzdem stehen."


Prof. Rudolf Schlögl ist seit 1994 Ordinarius der Neueren Geschichte an der Universität Konstanz. Er ist Sprecher des Exzellenzclusters "Kulturelle Grundlagen von Integration" wie auch des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration". Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Gesellschaft der Frühen Neuzeit, ihre politische Herrschaftsbildung und ihre soziale Ordnung in einem besonderen Hinblick auf Medien- und Kommunikationsmodelle.


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Quelle:
uni'kon 39|10, S. 8-9
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2010