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WIRTSCHAFT/011: Made im alten China (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2008

Made im alten China

Von Birgit Fenzel


Zwar steht "Made in China" heutzutage in der Regel nicht unbedingt für Güter erster Klasse, sondern zumeist eher für Billigware oder massenhaft schlechte Kopien. Doch galt das Reich der Mitte über lange Zeit hinweg als eine Hochburg der Kultur und des Erfindergeistes. Dagmar Schäfer leitet am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte eine Selbstständige Nachwuchsgruppe und beschäftigt sich mit den Themen Innovationskultur und Kopistentum in China.


Chinesische Handwerker, Architekten, Gelehrte, Generäle und Ärzte erfanden Dinge, die im Westen oftmals erst viele Jahrhunderte später bekannt wurden: Schubkarre, Schießpulver, Papier, Buchdruck und vieles mehr. "Wenn Chinesen aber heute ein paar Gucci-Taschen, Ritter-Sport-Schokoladetafeln oder Rolex-Uhren kopieren, redet alle Welt von geistigem Diebstahl, statt einfach froh zu sein, dass China nicht den Rest der Welt auf Billionen verklagt, allein für das Nachkochen von Stahl", schreibt dazu der Autor Christian Schmidt - Titanic-Lesern als Verfasser der Kolumne "Bliefe von dlüben" bekannt - in seinem neuesten China-Buch Allein unter 1,3 Milliarden.

Und Schmidt nennt auch gleich noch einige weitere Dinge chinesischen Ursprungs, ohne die unser Alltag anders aussehen würde. "Eindeutig geklaut hat der Westen andere chinesische Erfindungen, wie - und das ist nur eine kleine Auswahl -Nudeln, faltbare Regenschirme, Drachen, den Kompass, Seide, Papiergeld und Toilettenpapier. Bezahlt wurde nie, denn als die Westler die Erfindungen abkupferten, war das Copyright noch nicht erfunden."

Innovationskultur und Kopistentum in China sind zwei Themen, die auch die Sinologin Dagmar Schäfer, Leiterin einer Selbstständigen Nachwuchsforschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, schon lange faszinieren. Schon zu Habilitationszeiten begann sie, sich im Rahmen eines Seminars mit diesen doch sehr gegensätzlichen Eigenschaften chinesischer Kultur auseinanderzusetzen. "Die Frage an die Studenten war: Ist die chinesische Gesellschaft nicht innovativ, beziehungsweise was sagt das ausgeprägte Kopistentum und die geringe Entwicklung eigener Patente aus der historischen Perspektive über die Innovationskultur der Volksrepublik, etwa in der Phase der wirtschaftlichen Modernisierung aus und wie war es um diese im kaiserzeitlichen China bestellt?"


Zettelwirtschaft aus 600 Jahren

In den Fokus rückten dabei auch die Fragen, wann welche Innovationen stattfanden und wie und wann sie in einer Kultur wahrgenommen, geschützt und verbreitet wurden. Als wichtigen Aspekt erkannte Schäfer außerdem die Frage, welche Rolle dabei die Verschriftlichung von technischem Wissen spielte - ein Thema, das die Forscherin direkt in die Geschichte des Reichs der Mitte führen sollte und das zu einem Teil ihres aktuellen Forschungsprojekts wurde.

"Neben privaten Schriften chinesischer Gelehrter aus der Zeit, deren Essays und Monografien, verwenden wir vor allem Archivmaterial, kaiserliche Dokumente, Familiengenealogien, Lokalgeschichten, aber auch Objekte aus Museen und anderen Sammlungen", beschreibt die Projektleiterin das vielfältige Material, das ihr zur Verfügung steht. Manche der Texte sind gedruckte offizielle Standardwerke, andere rein privater Natur, einige der Objekte sind unscheinbar und alltäglich, vieles stammt aber aus den Beständen offizieller Institutionen wie dem Palastmuseum, dem Ersten Historischen Archiv und der Nationalbibliothek in Peking sowie der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Auch aus Taiwan kommt Material, denn auch dort lagern Schriften, die Chiang-Kai-shek-Anhänger auf ihrer Flucht aus dem kommunistischen China mitgenommen hatten.

Über Beschäftigungsmangel können sich die Berliner Forscherinnen und Forscher bei ihrem Projekt also keineswegs beklagen. "In den Archiven gibt es Materialien aus 600 Jahren Buchhaltung", so Schäfer. Schier endlose Regalmeter, vollgestopft mit Korrespondenzen, Lieferlisten, Haushaltsregistern - und eben auch gedruckten technischen Schriften über Architektur, Brückenbau oder Seidenherstellung im Allgemeinen bis hin zu dezidierten Vorschriften für das Schreinerhandwerk oder Bauanleitungen für Häuser und Paläste. Schon allein die Vielfalt der Texte begeistert die Historiker. Spiegelt sie doch das alltägliche Leben im China vergangener Zeiten wider und - für Dagmar Schäfer und ihr Team noch wichtiger - den sehr differenzierten Umgang mit technischem Know-how, das vielfältigen Zwecken diente.

Insbesondere die Archive des Kaiserpalasts stecken für die Forscher voller Überraschungen. Seit jeher waren sie für Ausländer verschlossen. Jetzt allmählich öffnet sich der Zugang. Doch nur einen Spalt, wie Dagmar Schäfer bei einem Besuch des Palastmuseums feststellen musste. "Ich habe vor allem viele, viele Türen gesehen, von denen sich höchstens eine öffnet." Ganz so freizügig gibt das Palastmuseum offenbar doch noch nicht seine Geheimnisse preis. Etwas größere Häppchen historischen Materials liefert das Erste Historische Archiv, das gerade dabei ist, Teile seines Bestandes zu digitalisieren. "Viele dieser Dinge hat noch nie jemand gesehen", sagt Schäfer.

Mithilfe einer Datenbank bringen die Forscher Ordnung in diese Flut von Archivmaterialien und gedruckten Texten. Nach der Generalinventur geht es ans Eingemachte: Was verraten die historischen Dokumente über Formen und Funktionen von Wissensmanagement im alten China? Welche Rolle wird Technik, ihrem Wandel, Fortschritt und Erhalt zugemessen? Das Projekt ist noch im vollen Gange. Aber ohne sich zu weit aus dem Fenster zu hängen kann die Forscherin schon jetzt vorab so viel verraten: "Technik war im alten China in vielfältige kulturelle Traditionen eingebettet."

Speziell interessieren sich die Berliner Forscher für Schriften von der Song- bis zur Mitte der Qing-Dynastie, die vom 10. bis 18. Jahrhundert einen Zeitraum von rund 800 Jahren abdecken. Vor allem die Dynastien der Song und Ming gelten als Epochen wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands, kultureller Blüte und ausgeprägten Erfindergeistes, wobei Letzterer erstmals auch vermehrt in der Literatur seinen Niederschlag findet. "Ab dem 10. Jahrhundert erstellten chinesische Gelehrte umfangreiche Assemblagen der Ursprünge und Anfänge von Dingen und Sachen", erklärt Schäfer. "In diesen Katalogen werden technische und zivilisatorische Neuerungen mit einer Geschichte und Tradition versehen und somit kulturell legitimiert."

Was es mit diesen Texten auf sich hat, untersucht in der Berliner Nachwuchsforschergruppe Martina Siebert. In ihrem Projekt versucht sie herauszufinden, wie technische Neuerungen allgemein rezipiert werden und wann technische Dinge und Praktiken als wichtige Erkenntnisse gewertet und in die chinesische Schriftkultur aufgenommen wurden. Daran knüpften sich weitere Fragen, etwa danach, wie bei der Aneignung des Neuen das bekannte und auch das überwundene Wissen behandelt wurden. Denn wie alte und neue Dinge eingeschätzt werden, hängt von vielen Faktoren ab - unter anderem von gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Gegebenheiten. Erfindungen etwa wurden in früheren Zeiten nicht unbedingt als wertvolle Innovationen gefeiert. "Wie in Europa auch war 'neu' nicht zwangsläufig positiv behaftet, als besser galt meist alles, was alt war", erklärt Dagmar Schäfer. Dies habe auch den Umgang mit Entdeckungen geprägt. "Man deklarierte Dinge als aus der Tradition kommend, um sie wertvoll zu machen."


Nicht jedes Handbuch sollte eines sein

Schon unter den Texten ab dem 10. Jahrhundert fanden die Forscher vermehrt Schriften technischen Inhalts - von hoch spezialisierten Beschreibungen zur Herstellung von Tusche über die Gewinnung von Zucker bis hin zum Weben von Seidenstoffen. Dabei stießen sie jedoch immer wieder auch auf Dokumente, in denen technische Beschreibungen in Erörterungen über die Führung des eigenen Haushalts oder des Staates, in soziale Erwägungen, kosmologische Studien oder politische Diskussionen eingebunden sind. Ein Fall von "Thema verfehlt" sei das jedoch nicht, sondern reine Absicht des Verfassers. "Die praktische Verwertbarkeit des Inhalts war entweder von vornherein nicht beabsichtigt oder trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund des Interesses, während der Kontext an Bedeutung gewann", so Schäfer.

Als Beispiel führt die Forscherin die Schrift Su Songs aus dem Jahr 1094 an, des Erbauers einer mit einem Wasserrad angetriebenen astronomischen Uhr für Kaifeng, die Hauptstadt der Song. Darin beschreibe dieser zwar ausführlich die Details einer von ihm entwickelten mechanischen Riesenuhr in Wort und Bild, "doch ging es ihm nicht primär um die Weitergabe technischer Details. Su Song warb um die Aufmerksamkeit und Unterstützung des Kaisers. Sein Traktat formuliert eine staatspolitische Verpflichtung zur Himmelsbeobachtung."

Auch das von Qi Jiguang (1528 bis 1587), einem erfolgreichen General der Ming-Dynastie im Jahr 1561 veröffentlichte Traktat zur Militärstrategie sei ein weiteres Beispiel dafür, dass der Verschriftlichung technischen Wissens nicht unbedingt die praktische Anwendung folgen muss. Neben traditioneller Kampfkunst widmete sich Qi Jiguang in diesem Werk auch westlichen Waffen, indem er ausführlich die Konstruktion einer Hakenbüchse beschreibt und detailgetreu die Befestigungsschraube und die Mutter illustriert, die den Waffenhahn arretieren. Möglicherweise folgten seine Offiziere seinen strategischen Anweisungen, die Waffenkonstruktion mit Mutter und Schraube verstaubte jedoch ungenutzt im Archiv.


Chefsache Handwerk

Bis zum 18. Jahrhundert sei diese Technik ausschließlich in westlichen Waffen verwendet worden. "Zwar machte Qi Jiguangs Dokumentation die technischen Inhalte verfügbar und verbreitete sie, doch löste sich das Wissen nicht von seinem Kontext - weder wurde die Befestigungsschraube in anderen Bereichen verwendet, noch regte sie weitere Neuerungen an", erklärt die Dagmar Schäfer. Nicht alle Erfinder stammten wie der Gelehrte Su Song oder der General Qi Jiguang aus den oberen Schichten der Gesellschaft. Oft handelte es sich um Handwerker aus dem Volk - einfache Männer, die wohl ihr Handwerk meisterhaft verstanden, aber weder lesen noch schreiben konnten. Ihr Wissen gaben sie wie schon ihre Väter und Vorväter mündlich weiter. "Das war damals der übliche Weg im Handwerk", so Schäfer. Dass ihr Wissen dennoch niedergeschrieben wurde, sei der - zum Teil nicht ganz freiwillige - Verdienst von Gelehrten und hohen Beamten des Hofs. Die Kaiser der Song-Dynastie und noch viel mehr die der Ming hatten das Handwerk als wichtige Basis der Entwicklung der Wirtschaft zur Chefsache erklärt und ihre Mandarine persönlich verantwortlich für das Gedeihen bestimmter Gewerke gemacht.

Seit dem 14. Jahrhundert engagierte sich der chinesische Staat immer direkter in der Produktion von Gütern, deren Herstellung chinesische Spezialität war. So entstanden etwa in der Textilbranche große staatliche Manufakturen mit mehreren Dutzend Webstühlen und speziell geschulten Webern. Der Gründungskaiser der Ming-Dynastie, Zhu Yuanzhang (1382 bis 1398), hatte offenbar die Bedeutung hoch spezialisierter Handwerkskünste für Wirtschaft und Wohlstand seines Reichs erkannt und hochrangige Minister dazu verpflichtet, die Funktionstüchtigkeit solcher staatlichen Betriebe zu gewährleisten. Als Chefmanager kaiserlicher Manufakturen entwickelten die Mandarine dabei sehr effiziente Maßnahmen, um einen kontinuierlichen Transfer innovativer Techniken von der Privatwirtschaft in die Staatsbetriebe zu sichern.


Beamte mit neuem Selbstverständnis

In Throneingaben und Lokalberichten stießen die Max-Planck-Forscherinnen und Forscher auf umfangreiche Materialien zu diesem verstaatlichten Wissenstransfer der Ming- und Qing-Zeit. Sammlungen wie das Ming jingshi wenbian, ediert von Chen Zilong (1608 bis 1647), und das Huang-chao Qing jingshi wenbian von He Changlin und Wei Yuan ergänzten ihre Materialbasis. "Damit können wir die staatspolitische Einflussnahme auf den Informationsaustausch von Handwerkern als Faktoren, welche die Innovationskultur Chinas historisch geprägt haben, chronologisch erfassen", erklärt Schäfer die Bedeutung dieser Kollektionen für die Wissenschaftsgeschichte.

So zeige sich am Beispiel von Qiu Juns (1421 bis 1495) politischem Handbuch Daxue yanyi bu ("Supplement zu den Erläuterungen zum großen Lernen", 1506) für hohe Beamte, dass die Wahrnehmung und Kontrolle von handwerklichem Wissen zu einem wichtigen Thema für die literarisch gebildete Elite wurde. "Qiu Juns Diskussion zeigt exemplarisch einen subtilen und vielschichtigen Prozess der Selbstidentifikation der Kopfarbeiter im Verhältnis zu den Handarbeitern." Denn mit der systematischen Einbindung handwerklicher Werkstätten in den Staatsbetrieb habe der Ming-Kaiser Zhu Yuanzhang seine Beamten in ihrem Selbstverständnis herausgefordert, führt Schäfer diesen Interpretationsansatz aus. "Schließlich verlangte er von ihnen, sich mit Fähigkeiten und Arbeiten zu beschäftigen, die nicht ihrem Stand entsprachen."

Doch hätten diese durchaus Flexibilität gezeigt und die Not zur Tugend gemacht. "Beamte wie Qiu Jun begegneten dieser Herausforderung mit einer intellektuellen Wendigkeit, die ihre Fähigkeit, dem Staat vorzustehen, auf subtile Weise stärkte." Ein deutliches Indiz sei die in Schriftstücken dieser Periode plötzlich vermehrt auftretende Vorliebe für Listen und Zahlenkolonnen bei der Erhebung von Dienstleistungen.


Ringen um Spezialwissen

"Statt auf eine technische Profilierung weist dies auf eine wachsende Fragmentierung des Arbeitsprozesses hin", so Schäfer, die darin eine Strategie der Machtsicherung der Mandarine sieht. Durch die Modularisierung praktischer Arbeit wurde die Tätigkeit des Einzelnen einfacher und der Arbeiter austauschbar. Dafür war nun ein Verwalter nötig, der den Überblick hatte - damit besaß der Beamte die Kontrolle über das Können des Handwerkers. In schönstem Beamtenchinesisch verfassten diese Beamten dezidierte Regularien, mit denen sich Arbeitsprozesse normieren und kontrollieren ließen. Das notwendige Detailwissen ließen sich die Bürokraten des Kaisers gern auch frei Haus liefern. "Immer wieder wurden Handwerker auch aus entfernten Regionen an den Hof geholt, damit sie ihr Wissen preisgeben", berichtet Schäfer über die gängige Praxis.

Aber nicht immer rückten diese ihre oft als Familiengeheimnis über Generationen hinweg mündlich überlieferte Fertigungstechnik auch heraus. "Die Handwerker verstanden es durchaus, ihre Geheimnisse zu wahren", sagt die Max-Planck-Wissenschaftlerin und nennt als Beispiel die Ofenmacher von Jindezhen. "Da gab es eine Art, einen Ofen zu bauen, mit dem sie mit wenig Feuerholz eine hohe Porzellanqualität erreichen konnten." Diese Ofentechnik sei im Besitz von zwei Familien gewesen und habe sich nie verbreitet.

Welche Wendungen dieses subtile Tauziehen um die Kontrolle technischen Spezialwissens zwischen Handwerkern und Bürokraten nehmen konnte, zeige sich auch am Beispiel von zwei Schriften zur Architektur: dem Lu Ban jing, einem Manual für Schreiner aus dem 15. Jahrhundert (auch bekannt als "Der Leitfaden des Lu Ban") sowie dem staatlichen Architekturhandbuch Yingzao fashi ("Die Standards des Baugewerbes"). Während das erste neben technischen Anweisungen für die Handwerker Informationen zu Ritualen, Geomantik und Tagewählerei (etwa Glück oder Unglück verheißende Tage für den Baubeginn) enthält, legt das zweite ästhetische und andere Standards für Gebäude fest.

In beiden Büchern entdeckten die Forscher Ritualisierung als einen weiteren Grundzug der technischen Wissenskultur im alten China. Auch Rituale können der Normierung von Prozessen dienen, da sie strikte, unbedingt zu beachtende Vorschriften beinhalten. Mit ihnen lassen sich Herrschaftsverhältnisse festigen - schließlich heißt es nicht umsonst: Die Gewohnheit der Macht beruht auf der Macht der Gewohnheit. Doch funktioniert auch diese Form der Kontrolle von Wissen und seiner Anwendung nicht uneingeschränkt, wie die Rezeptionsgeschichte beider Werke im alten China zeigt. Denn im Lauf der Zeit verloren sie ihren Anwendungscharakter und verwandelten sich in Ikonen mit quasi-religiösem Status. "Man tat so, als würde man sich an die Vorgaben halten, hatte aber andere Vorgehensweisen", beschreibt Schäfer den Umgang der zeitgenössischen Pragmatiker mit diesen Handwerksbibeln.

Darüber hinaus wird am Beispiel des Architekturhandbuchs Yingzao fashi deutlich, wie kreativ die Beamten bei der Verschriftlichung des Handwerkerwissens teilweise vorgehen mussten. Da dieses Know-how im alten China traditionell mündlich weitergegeben wurde, existierte kein passendes System von verschrifteten Termini für die Arbeiten am Bau. Also musste sich der Verfasser überlegen, mit welchen Schriftzeichen er hier eine eigene schriftliche Architektursprache entwarf.

Wie Schäfers Kollege Feng Jiren in seinem Beitrag im sinologischen Journal T'oung Pao herausgefunden hat, wählte der Autor des Yingzao fashi oft botanische Begriffe. "Zum Beispiel verwendete er für einen Säulentypus das Wort 'ma' - was übersetzt 'Stiel der Blume' heißt", beschreibt die Forscherin eine Beobachtung ihres Kollegen. Auch bei der Beschreibung dekorativ ausgestalteter tragender Elemente der ausladenden Dachkonstruktionen habe der Verfasser Blumen sprechen lassen und Schriftzeichen aus der Botanik verwendet, die in ihrer grafischen Form eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Vorbild aus der Natur sowie der stark stilisierten Kunst am Bau aufweisen.


Mangel an Nachwuchswissenschaftlern

Richtige Skizzen suchten die Forscher dagegen lange Zeit vergeblich in den Archiven. "Man dachte schon, dass es die im alten China überhaupt nicht gab", erzählt die Berliner Sinologin. Bis im Jahr 2005 eine Ausstellung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Bauzeichnungen lenkte - zwischen den geografischen Karten. "Das war für uns ein echtes Aha-Erlebnis", sagt sie. Schließlich verrate eine solche Einordnung ebenfalls eine besondere Sicht auf die Dinge.

Vor rund einem Jahr begann Dagmar Schäfer im Rahmen der zweiten Stufe ihres Forschungsprojekts solche Skizzen, aber auch Modelle und Artefakte zur Baukunst genauer zu untersuchen. Dass auch unter diesen Materialien noch viele ungehobene Schätze schlummern, ist für die 40-Jährige keine Frage. Doch trotz der Unterstützung, die ihrem Projekt von vielen Seiten zuteil wird, fehlen ihr die Leute. Seit der Öffnung Chinas Ende der 1980er-Jahre befinde sich die klassische Sinologie auf dem absteigenden Ast. "Die deutschen Universitäten haben das Fach in seiner historischen Ausrichtung fast eingestellt, und die guten Nachwuchswissenschaftler gehen in die Wirtschaft, wo sie viel Geld verdienen können", bedauert sie.

Mit Forschungsprojekten wie ihrem lässt sich eben kein großer Reichtum erwerben - aber dafür biete die Perlentaucherei in den alten Archiven der Volksrepublik andere Perspektiven, die vielleicht nicht nur für Wissenschaftshistoriker oder klassische Sinologen interessant sein dürften. "Wenn wir das alles erfasst haben, wird sich unser Bild der chinesischen Kultur mit Sicherheit verändern", ist Schäfer überzeugt.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 26-27: Auch die Schubkarre stammt aus China - die europäische Kopie sieht zwar etwas anders aus, doch das Prinzip ist das Gleiche: Einer muss schieben.

Abb. S. 28-29: Und es gibt sie doch. Lange dachten Forscher, dass im alten China keine Skizzen angefertigt wurden, denn man hatte in den Archiven zwischen den Bauanleitungen keine gefunden. Inzwischen sind die ersten aufgetaucht - sie lagerten zwischen den geografischen Karten im Archiv.

Abb. S. 30: Handwerkskünste wie das Weben hatten im alten China Konjunktur. Die kaiserlichen Beamten sollten das Wissen von Meistern abschöpfen und dem Staat verfügbar machen.

Abb. S. 31: Baumeister im alten China brauchten eigentlich keine Detailskizzen. Ihnen reichte der Durchmesser eines bestimmten Balkens, um daraus die restlichen Maße abzuleiten.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2008, Seite 26 - 31
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2008