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WISSENSCHAFT/076: Von den Anfängen des Darwinismus - 4 (Archipel)


Archipel Nr. 172 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - Juni 2009

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Von den Anfängen des Darwinismus 4
Die Dekonstruktion der Evolution

Von Bertrand Louart


Besessen von der Idee, die Erklärungen des Theologen Paley von der "speziellen Schöpfung" zu widerlegen, kehrt Darwin diese einfach um. Mit dem Mechanismus der natürlichen Selektion versucht er die Anpassung der Lebewesen an ihre Lebensbedingungen zu erfassen. Er konzentriert sich in seiner Arbeit auf einen besonderen Aspekt des umfassenderen Problems, das die Evolution der Arten bedingt.


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Die Anpassung der Lebewesen an ihre Lebensbedingungen ist das wichtigste Phänomen, das Darwin mit dem Mechanismus der natürlichen Selektion zu erklären versucht. Schon in der Einführung seines Werks "Der Ursprung der Arten" (UdA)(1) weist er darauf hin. Die Evolution oder vielmehr die "Transmutation der Arten" und die "Abstammung mit Veränderungen" sind für ihn sekundär oder eine zusätzlichen Konsequenz dieses Mechanismus. Die eigentliche Motivation Darwins ist die Widerlegung der natürlichen Theologie des Pfarrers Paley. Er erklärt dies ausdrücklich im Absatz über religiöse Überzeugungen seiner Autobiographie: "Das alte von Paley entwickelte Argument einer Finalität in der Natur erschien mir früher schlüssig. Seit der Entdeckung des Gesetzes der natürlichen Selektion ist es jedoch hinfällig geworden. Wir können zum Beispiel nicht mehr behaupten, dass das schöne Gelenk einer zweiteiligen Muschelschale von einem intelligenten Wesen geschaffen wurde, so wie das Scharnier einer Türe von einem Menschen."(2)

Paley sah in der Anpassung der Lebewesen, in der Perfektion ihrer Organe und in der Ordnung und Harmonie der Natur die Beweise eines göttlichen Eingriffs. Darwin kehrt diese Erklärung um: An Stelle des Willens und der göttlichen Intelligenz setzt er den blinden und unpersönlichen Mechanismus der natürlichen Selektion. Er versieht sie mit einer "schöpferischen Macht", obwohl sie auf der Elimination der schlechter Angepassten beruht. Ansonsten behält er die wichtigsten Begriffe dieser Erklärung, vor allem jenen der Anpassung.

Dieser Begriff, der von den Evolutionisten am häufigsten benützt wird, ist in der Biologie einer der ungenauesten. Weit entfernt von einer wissenschaftlichen Definition beruht er eher auf einer Feststellung, die scheinbar auf gesundem Menschenverstand fußt: Die Lebewesen sind notwendigerweise an ihr Milieu angepasst, sonst könnten sie nicht überleben. Der Schluss des erwähnten Zitats zeigt, dass Darwin die Anpassung mit einem Problem verbindet, das man als Technologie der Organismen bezeichnen konnte: Die Lebewesen sind Maschinen, die um ihr Überleben kämpfen, in einem Umfeld der begrenzten natürlichen Reichtümer. Und obwohl sie ein Produkt von Versuchen und wiederholten Irrtümern sind und nicht eines intelligenten Ziels, entstehen sie nach der Logik eines Ingenieurs; das heißt ihre verschiedenen Teile sind durch die Nützlichkeit und den Vorteil bedingt, den sie für den ganzen Organismus bringen. Die natürliche Selektion schafft also die Optimisierung der Leistung der Organe, die als Werkzeuge oder Waffen im "Krieg, der Natur" eingesetzt werden.


Rechtfertigungen

Zahlreiche Evolutionisten bedienen sich des Mechanismus der natürlichen Selektion, um irgendwelche Erklärungen für die Anpassung der Lebewesen zu erfinden. Diese Erklärungen gleichen jedoch eher Rechtfertigungen für etwas, das schon existiert: Das System der mechanischen Zwänge dient ausschließlich dazu, Fakten zu interpretieren, das heißt mit Hilfe einer Handvoll einfacher Ideen wahrscheinliche Szenarien zu entwerfen, die es ermöglichen, diese in den vorgegebenen Rahmen einzuordnen. Anders gesagt, die Fakten bringen uns nie etwas Neues über die Natur der Lebewesen bei, über ihre Beziehungen oder die Dynamik, die sie antreibt. Sie dienen bloß dazu, das System zu illustrieren und zu bestätigen. Dieses System ist in sich geschlossen und erlaubt keine Weiterentwicklung.

Bei jedem besonderen Merkmal der Lebewesen kann man immer eine Rechtfertigung finden, um seinen Nutzen und Vorteil im Kampf ums Überleben zu erklären. Diese Form der Rhetorik bezeichneten in den 70-er Jahren Gould und Lewontin als "panglossisch"(3), in Bezug auf Dr. Pangloss, der im Candide von Voltaire sagt, dass "alles zum besten steht in einer Welt, wie sie nicht besser sein könnte". Diese Kritik, wie berechtigt sie auch sein mag, hilft allerdings auch nicht weiter, um den Begriff der Anpassung zu präzisieren und zu hinterfragen: sie bleibt auch heute noch die häufigste Erklärung betreffend der Form und Organisation der Lebewesen (4).

Nur wenige Naturalisten durchschauten, dass diese Logik sich im Kreis dreht, unter ihnen der französische Biologe Etienne Rabaud: "Die Hypothese hält der elementarsten Kritik nicht stand. Genügt es nicht festzustellen, dass die Bewertung eines Vorteils sich in einem Teufelskreis dreht? Falls der Organismus sich behauptet, beschließen wir, dass er über eine vorteilhafte Anlage verfügt, und wir erklären jegliche Anlage als vorteilhaft, genau weil der Organismus sich durchsetzt."(5) Rabaud weist auch darauf hin, dass die Erklärungen sich oft auf einzelne Organe beziehen, der Organismus jedoch eine Einheit darstellt. Und nur ganz selten werden Vergleiche zwischen Lebewesen mit analogen Bedingungen angestellt, um die Tatsache eines Vorteils festzustellen, oder auch was für eine Rolle das Organ für die betroffenen Lebewesen spielt. Er weist auch darauf hin, dass die vorgeschobenen Interpretationen, um die Existenz einer Besonderheit bei einer Art zu erklären, meistens nicht darauf eingehen, dass andere Arten im gleichen Milieu leben und diese angeblich vorteilhafte Disposition nicht vorweisen. Oder sie verfügen gar über die gegenteilige Anlage, ohne Schaden davonzutragen. Er schließt daraus, dass der Begriff der Anpassung trügerisch ist und ein Hindernis für eine genauere Studie darstellt, die den wirklichen Beziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt nachgeht. Für Rabaud sind die Umweltbedingungen nicht nur Zwänge, denen sich der Organismus unterwerfen - muss, sondern vor allem auch ein Raum, in dem er seine autonomen Aktivitäten entwickeln kann: das Lebewesen ist nicht dem Milieu angepasst; im Gegenteil, es findet in der Umwelt spezifische Elemente, die ihm helfen, sein Überleben zu sichern.


Umwelt

Kommt man auf die Ideen von Lamarck zurück, ergänzt durch genauere Studien vom deutschen Verhaltensforscher Jakob von Uexküll (6), 50 kann man verstehen, dass die "Anpassung" bestimmt wird durch die Art. und Weise, in der das Lebewesen für seinen Unterhalt aufkommt, durch seine Gewohnheiten, sein Verhalten und eventuell auch auf die Kooperation mit anderen Organismen, gewisse Aspekte seiner Morphologie, wie die mehr oder weniger entwickelte Spezialisierung der Organe. Das Lebewesen ist also nicht nur ein Produkt von durch die Umwelt geschaffenen objektiven Zwängen, es ist nicht ein bloßes Objekt und Spielzeug der Umstände (auch keine Kriegsmaschine, im Überlebenskampf mit einer feindlichen Umwelt). Es ist zuallererst ein Wesen mit einer autonomen Aktivität, durch sein Verhalten, seine Physiologie und seinen Stoffwechsel; es hängt zwar für seinen Lebensunterhalt von den Umweltbedingungen ab, aber sein Unterhalt ermöglicht ihm auch gemäß seinen Fähigkeiten eine Unabhängigkeit. Dies erlaubt ihm auch Beziehungen mit dieser aufzubauen, die nicht notwendig sind. Es ist also die subjektive Wahrnehmung, die signifikant und bedeutend ist in einer Umwelt. Sie bestimmt sein Verhalten und seine Evolution, gesteuert von Modifikationen einer internen Dynamik.

Im Gegensatz zu Lamarck schlägt Darwin keine Definition des Lebens vor. Er bemüht sich nicht zu bestimmen, was Lebewesen von leblosen Objekten unterscheidet (und noch weniger von Maschinen). Im Schlusswort der letzten Ausgabe der UdA vergleicht er das Leben mit einer physischen Kraft, die der Gravitation gleichkommt, in der vitalistischen Tradition des XVIII. Jahrhunderts, gegen die Lamarck seine Theorie aufgebaut hat! Und genau hier liegt der radikale Unterschied zwischen Darwin und Lamarck. Darwin klammert sich ausschließlich, an den Mechanismus der Anpassung, indem er die meisten Fakten durch die natürliche Selektion interpretiert, während Lamarck versucht, die Biologie (er erfindet das Wort) als autonome Wissenschaft zu begründen. Er beschreibt, was die Lebewesen von den leblosen Objekten unterscheidet, die von der Physik untersucht werden.

Als Lamarck die Klassifizierung der Wirbellosen realisierte, die ungefähr 80 Prozent des Tierreichs ausmachen (gleichzeitig erstellte Cuvier, ein Gegner von Lamark und Vertreter der Theorie der Konstanz der Arten, die Klassifizierung der Wirbeltiere), bemerkte er die zunehmende Kompliziertheit ihrer Organisation, das heißt die Organismen können nach neuen Funktionen und weiterentwickelten Organen, die sie sich im Laufe der Zeit aneignen, klassifiziert werden.

Falls "jedes Lebewesen von einem anderen Lebewesen stammt", so folgert Lamarck daraus, wenn es komplexere Lebewesen gibt, so gibt es notwendigerweise eine Geschichte, um dahin zu gelangen, d. h. eine Evolution der Arten. Anders gesagt, auch wenn es überhaupt keine fossilen Funde im Pflanzen- und Tierreich gäbe, könnte die aktuelle Gegenwart mit komplexen Lebewesen nur als historisches Produkt einer Evolution von früher einfacheren Formen begründet werden.


Organisation ist Ergebnis der Umstände

Es genügt nicht festzustellen, dass die Lebewesen eine eigene Organisation haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Organisation sich selbst-produziert: ein Eiskristall ist das Produkt von Umständen, von einer Dynamik, die sich außerhalb seiner Existenz abspielt; das Lebewesen hingegen ist das Produkt seines eigenen Stoffwechsels, seiner internen Dynamik physikalischer und chemischer Natur in Beziehung mit seinem Milieu. Komplexe Lebewesen können nicht durch Urzeugung entstehen. Sie sind das Resultat einer langen Folge von Generationen, die einer andauernden Transformation ausgesetzt sind. Neben der Tendenz zu einer Spezialisierung je - nach den herrschenden Umständen ("die Anpassung"), sieht Lamarck in der Evolution vor allem eine globale Tendenz zu einer immer größeren Komplexität der Organismen, die das Produkt der eigenen internen Dynamik der Lebewesen ist.

Die Ideen Lamarcks sind für die Wissenschaft seiner Zeit zu vielschichtig und "philosophisch", vorgetragen in der etwas veralteten Sprache des XVIII. Jahrhunderts (7). Sie wurden zu seiner Zeit kaum verstanden, nicht einmal von seinen Anhängern. Darwin wollte von dieser Tendenz zu einer immer größeren Komplexität nichts wissen. Er versteht deren Ursprung nicht und assimiliert sie mit einer "übernatürlichen Kraft". Die "Ordnung der Natur" als Konsequenz daraus entspricht einem Argument Paleys, um die Existenz Gottes zu beweisen. Trotzdem, die Fakten liegen vor, störrisch und einfach zu beobachten. In den letzten Ausgaben der UdA finden sich denn auch die konfusesten Stellen genau dort, wo Darwin versucht, diese wachsende Komplexität einerseits herunterzuspielen und sie doch in den Rahmen der natürlichen Selektion einzuordnen. (8)

Aber es handelt sich hier nicht um eine "Anpassung": An welche Umwelt ist zum Beispiel das menschliche Wesen angepasst? In Wirklichkeit an keine im Besonderen. Der Mensch kolonisierte sie überall und veränderte sie dermaßen, dass er heute seine eigenen Lebensbedingungen gefährdet. Die zunehmende Komplexität der Lebewesen kann als eine immer größere Autonomie zur Umwelt interpretiert werden.(9) Die gegenwärtige ökologische und soziale Krise ist ein Symptom dafür, das Lebendige und die Gesellschaft normalisieren zu wollen, um sie den Bedürfnissen der industriellen Produktion und der staatlichen Verwaltung anzupassen. Ein fataler Irrtum: Was ihre eigentliche Essenz ausmacht, wird verneint, nämlich die Freiheit und die Autonomie ihrer Aktivität.


Anmerkungen:

Bertrand Louart ist Redakteur von Notes & Morceau choisis, Bulletin critique des Sciences, des technologies et de la société industrielle, im Verlag La Lenteur, Paris. Diese Artikelserie ist die Vorbereitung eines Buches mit dem Titel L'autonomie du vivant, in dem die Ideen und Analysen dieses Artikels eingehender behandelt werden.

(1) UdA-GF, Seite 47

(2) Autobiographie, Verlag Seuil, 2008, Seite 83

(3) Gould, S.J., Lewontin, R. C., The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptationist Programme; Proceedings of The Royal Society of London, Series B, Vol. 205, No. 1161 (1979). Auf Internet.

(4) Siehe Dossier Pour la Science No 63, L'évolution, rien ne l'arrête! April-Juni 2009

(5) Etienne Rabaud, Introduction aux sciences biologiques, 1941

(6) Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909) und Bedeutungslehre, 1934

(7) A. Pichot, Histoire da la notion de gène

(8) A. Pichot, Histoire de la notion de vie

(9) Siehe Josef Reichholf, Der schöpferische Impuls: eine neue Sicht der Evolution, 1992

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Die ersten drei Teile des Artikels sind im Schattenblick zu finden unter:
www.schattenblick.de -> INFOPOOL -> GEISTESWISSENSCHAFTEN -> GESCHICHTE
WISSENSCHAFT/070: Von den Anfängen des Darwinismus - 1 (Archipel)
WISSENSCHAFT/072: Von den Anfängen des Darwinismus - 2 (Archipel)
WISSENSCHAFT/075: Von den Anfängen des Darwinismus - 3 (Archipel)


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 172, Juni 2009, S. 7-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009