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WISSENSCHAFT/086: Leopold von Ranke, der Begründer der bürgerlichen Geschichtswissenschaft (Gerhard Feldbauer)


Zeigen, "wie es eigentlich gewesen ist"

Eine Betrachtung zu Leopold von Ranke, dem Begründer der bürgerlichen Geschichtswissenschaft

von Gerhard Feldbauer, 25. Oktober 2011


Es ist schon einige Zeit her, dass ich vor Studenten der Universität Heidelberg einen Vortrag über den Platz der DDR in der Geschichte hielt. Ich begann ihn mit einem Ausspruch des preußisch-konservativen Historikers Leopold von Ranke, zu dessen Grundprinzip der Forschung gehörte, zu zeigen "wie es eigentlich gewesen ist". Die heutigen bürgerlichen Historiker, so fügte ich hinzu, sind in ihrer Mehrheit heute nicht mehr imstande, dem Begründer ihrer Geschichtswissenschaft bei der Darstellung der DDR wie auch vieler anderer gesellschaftlicher Ereignisse zu folgen. Als ich noch einiges aus Rankes Biographie ausführte, steigerte das bei nicht wenigen Kommilitonen Verblüffung und Erstaunen, nicht zuletzt darüber, dass ein marxistischer Historiker das progressive Wirken eines konservativen Vertreters dieser Branche würdigte und realistisch seinen widersprüchlichen Werdegang darlegte, während einige von ihnen bekennen mussten, dass sie beispielsweise von Marx nichts gelesen hatten. Die Episode fiel mir wieder ein, als ich vor einigen Tagen im "Schattenblick" (1) über Napoleon Bonaparte als Repräsentant der Revolution und Eroberer einen Beitrag schrieb. Unter anders gearteten Gesichtspunkten gibt es auch bei Ranke aktuelle Aspekte.


Ein Konservativer begründete die bürgerliche Geschichtswissenschaft

Ranke war Anhänger der preußischen Monarchie und der feudalen Restauration, die nach der Niederlage Napoleons 1813/14 einsetzte. Er war Gegner der Französischen Revolution von 1789/94 und lehnte bürgerlich-revolutionäre Veränderungen ab. Trotz seiner konservativen Grundeinstellung wurde der am 20. Dezember 1795 in einer Pastorenfamilie geborene Ranke zum Begründer der bürgerlichen Geschichtswissenschaft und überhaupt zu einem der bedeutendsten deutschen Historiker seiner Zeit. Nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Geschichte an der Universität in Leipzig, wo er bereits mit 22 Jahren promovierte, wurde er zunächst Gymnasiallehrer, dann 1825, noch vor Erscheinen seiner "Geschichte der romanischen und germanischen Völker 1494-1535", zum ordentlichen Professor an die Berliner Universität berufen, 1841 zum Historiographen des preußischen Staates ernannt, später geadelt. Sein wissenschaftlicher Werdegang zeigt augenscheinlich, dass sich Persönlichkeiten nicht schablonenhaft in das Profil einer Klasse, der sie entstammen oder sich zugehörig betrachten, einordnen lassen.

Was befähigte den Monarchisten Ranke, als Historiker progressives, dem Bürgertum dienendes Gedankengut zu entwickeln und zu verbreiten? Erste Grundlagen dürften während des Studiums die Bekanntschaft mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes und die Vorlesungen bei Professor Georg Niebuhr, einem Vertreter der philologisch-kritischen Geschichtswissenschaft, gelegt haben. Jedenfalls wurde Ranke mit seiner Quellenverwertung zum Begründer der quellenkritischen Methode der Geschichtsforschung. Er meinte, die Lehre solle nicht nur Wissen, sondern ebenso allgemeine humanistische Überzeugungen vermitteln.

Während Ranke die Französische Revolution ablehnte, sah er in der Englischen, die 1688 in einen Klassenkompromiss zwischen Adel und Großbürgertum mündete, ein erstrebenswertes Vorbild, das er in der Reichsgründung durch Bismarcks Revolution von oben 1871 verwirklicht sah. Als königlicher Ratgeber, unterstützte er sie, um einer drohenden Revolution von unten zu begegnen und, wie Golo Mann schrieb, "tolerant, verstehens-bemüht, weltoffen (...) nur milde Veränderungen allmählich und weise" zuzulassen. Er erkannte die Bedeutung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für die Gesellschaft und empfahl dem Monarchen, diesen zu nutzen.


Gegner preußisch nationalistischer Auswüchse

Obwohl er den Sieg im Eroberungskrieg gegen Frankreich begrüßte, trat er im Gegensatz zu den Scharfmachern dieser Zeit, wie dem Hauptvertreter der reaktionären subjektivistischen Geschichtstheorie Heinrich von Treitschke, nationalistischen Auswüchsen entgegen und äußerte, dass sich der "Antagonismus" der Mächte Europas nicht in der "Waffenfähigkeit" und der "Stärke der Armeen" erschöpfen dürfe, sondern "zugleich ein Wettkampf der inneren Gesamtkraft der einen mit der anderen, ihrer Entwicklungs- und Leistungsfähigkeit" sein solle. In diesem Kontext vertrat er auf der Grundlage seines eurozentristischen Historismus ein Konzept des Gleichgewichts der europäischen Großmächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland. Das widerspiegelte sich auch in seiner Hervorhebung des Primats der Außenpolitik gegenüber der Innenpolitik. Seine widersprüchlichen Ansichten zeigten sich hier in der gleichzeitigen Verherrlichung des Krieges, der Taten "großer Männer" und der Negierung der Rolle der Volksmassen.

Sein Spezialgebiet war die Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Auf Grund seiner, wie Marx einschätzte, klassenmäßigen Beschränktheit war er nicht imstande, den vor sich gehenden historischen Prozess des Übergangs vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft einzuschätzen, anerkannte jedoch, dass "die Ordnungen seiner Zeit historisch geworden und nicht vom Himmel gefallen waren" (Golo Mann). Er stellte viele politische, sozial-ökonomische, geistig-kulturelle und nationale Aspekte dieser Entwicklung realistisch dar. Davon zeugt seine sechsbändige "Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation", in der sich auch widerspiegelt, dass seine historischen Auffassungen vom lutherischen Protestantismus, aber auch, anknüpfend an Herder, vom Gedanken des Rechts der Völker auf nationale Selbstbestimmung und Freiheit geprägt wurden. Mit seinem weltoffenen, humanistischen Blick, seiner Fähigkeit zu, wenn auch begrenzten, aber doch realistischen Erkenntnissen, wirkte er über die preußisch-deutsche Zeit hinaus.


Ranke liest man noch heute mit Gewinn.

Getreu seinem Grundsatz, dass der Historiker nicht richten und belehren, sondern nur darstellen solle, "wie es eigentlich gewesen" ist, forderte Ranke, alles Unbewiesene aus der Geschichtsbetrachtung zu entfernen, das Tatsächliche kritisch herauszuarbeiten und ein wahrheitsgetreues Bild der Vergangenheit darzulegen. Die Verfechtung dieses Grundprinzips einer unparteiischen Objektivität in der Geschichtsforschung ist an ihm besonders hervorzuheben. Davon ausgehend legte er großen Wert darauf, wo immer möglich, auf schriftliche, originale Quellen zurückzugreifen, womit er wichtige Grundlagen für die Methodologie in der Geschichtswissenschaft legte. Mit dieser Quellenerschließung hat er, wie sein Schüler Heinrich von Sybel, Direktor des preußischen Staatsarchivs, bemerkte, in der Geschichtswissenschaft geradezu epochemachend gewirkt.

Ranke hinterließ ein umfangreiches wissenschaftliches Werk, aus dem neben der Preußischen Geschichte vor allem die Werke über Die Päpste, über Englische, Französische und Spanische Geschichte sowie über die der Völker Germaniens zu nennen sind. Rankes Publikationen zeichnen sich durch lebensnahe Darstellungskraft dramatischer Ereignisse und einen brillanten Erzählerstil aus. Fast erblindet begann er 1871 mit dem Diktat seiner "Weltgeschichte", an der er bis zu seinem Tode am 23. Mai 1876 arbeitete. Sie erschien in 9 Bänden. In Rankes Werken liest nicht nur der Historiker, sondern auch der an Geschichte allgemein Interessierte noch heute mit Gewinn.


Anmerkung:
(1) www.schattenblick.de → Geisteswissenschaften → Geschichte → Memorial
MEMORIAL/025: Vor 205 Jahren brachte Napoleon Preußen eine vernichtende Niederlage bei (Gerhard Feldbauer)


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Quelle:
© 2011 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2011