Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

BERICHT/067: Suche nach dem universalen Ethos (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2008

Suche nach dem universalen Ethos

Von Christoph Böttigheimer


Die ideengeschichtlichen Wurzeln allgemeiner Menschenrechte reichen in der westlichen Zivilisation weit zurück und wirken bis in die Gegenwart. Unter dem Titel "Sein und Sollen des Menschen" befasste sich ein internationales Symposium auf vielfältige Weise mit Fragen des Naturbegriffs.


*


Schon in der Antike wurde die Vorstellung vertreten, dass über dem fehlbaren Recht der menschlichen Gesetzgeber ein höheres, ungeschriebenes und zeitloses Naturrecht steht, das göttlichen Ursprungs ist. Mit dem Symposium "Sein und Sollen des Menschen" kam die KU einer Bitte von Papst Benedikt XVI. nach: Kurz vor seiner Wahl bat er die Katholischen Universitäten, die anstehenden Fragen rund um das Naturrecht weiter zu verfolgen. Organisiert wurde die Tagung mit mehr als 20 Referenten durch den Fundamentaltheologen Prof. Dr. Christoph Böttigheimer, Philosophen Prof. Dr. Norbert Fischer sowie Dogmatiker Prof. Dr. Manfred Gerwing. Die Diskussion um das "Naturrecht" befasst sich mit einem Recht, das von gesellschaftlichen Bedingungen unabhängig und nicht von äußeren Machtverhältnissen oder Mehrheitsentscheidungen bestimmt ist. Aus dieser Überzeugung leitet sich ab, dass jeder von Natur aus unveräußerliche Rechte hat, wie etwa jenes auf Menschenwürde. Doch die klassische Naturrechtslehre tut sich heute schwer und zugleich wird im Zuge der Globalisierung die Suche nach einem universalen Ethos immer drängender.

Am ersten Tag des Symposiums stand die philosophische Reflexion im Vordergrund. Grundlegende wie aktuelle Problemstellungen kamen dabei ebenso zur Sprache wie konkrete Fragen nach dem heutigen politischen Handeln, mit denen sich unter anderem als prominenter Gastredner auch der ehemalige Bundesjustizminister Dr. Hans-Jochen Vogel befasste. Ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zum Prinzip der Menschenwürde beleuchtete er praktische Beispiele zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde aus der politischen Erfahrungswelt und reflektierte die Ableitungen des Menschenwürdeprinzips aus unterschiedlichen Grundüberzeugungen in Verbindung mit der christlichen Vorstellung der Gottebenbildlichkeit.

Prof. Dr. Dr. Friedo Ricken SJ (München) zeigte anhand eines Zitats von Schiller auf, dass seit der Aufklärung das Sein und Sollen des Menschen als Gegensätze gesehen würden, wie das Begriffspaar Pflicht und Neigung verdeutliche. Einen solchen Gegensatz hätte die griechische Antike nicht gekannt. Nach Cicero und Aristoteles könnten Neigungen letztlich nur durch die Sittlichkeit ihre Erfüllung finden. Die Sittlichkeit habe die Aufgabe, die Güter, die Ziele der natürlichen Neigungen des Menschen zu verwirklichen und zu schützen. Tugend schaffe Wohl wollen, Vertrauen, Freundschaft und Gemeinschaft unter den Menschen, und nur in Gemeinschaft könnten die Menschen die lebensnotwendigen und nützlichen Güter schaffen. Auch Thomas von Aquin hätte an der Einheit von Sein und Sollen des Menschen festgehalten, weshalb zum natürlichen Sittengesetz alles gehöre, wozu der Mensch aufgrund seiner Natur eine Neigung habe.

Prof. Dr. Norbert Fischer (Eichstätt) befasste sich mit der praktischen Philosophie Immanuel Kants, die zwar nicht auf ein "Naturrecht" im überkommenen Sinne ziele, nichtsdestotrotz das Anliegen naturrechtlicher Überlegungen in neuer Weise begründe. Obwohl Kant dem Pflichtbegriff den Vorrang zuspricht, gehe es ihm doch - ähnlich wie der antiken Philosophie - um das Ideal eines guten und glücklichen Lebens. Der kategorische Imperativ dürfe nicht im Sinne einer "kalten Pflicht" verstanden werden, vielmehr kulminiere die Kant'sche Ethik in der Achtung der Person, mithin in der "intellektuellen Liebe". Der Sinn der menschlichen Freiheit bestehe in der Heiligkeit des Willens, d.h. in der Achtung einer Person als Person. Kants Verständnis vom moralischen Gesetz stimme folglich durchaus mit der christlichen Lehre bzw. dem christlichen Liebesgebot überein.

Prof. Dr. Martin Heisenberg (Würzburg) wandte sich aus der Perspektive des Hirnforschers einem derzeit heftig diskutierten Thema zu: der Möglichkeit von Freiheit im Verhalten bei Menschen und Tieren. Anhand naturwissenschaftlicher Gründe argumentierte er gegen die von einigen Hirnforschern im Anschluss an die Beobachtung von B. Libet (1983) vorgetragene Bestreitung der Willensfreiheit. Obwohl in der Mikrophysik der Begriff der Freiheit nicht vorkäme und sich die Neurobiologie bevorzugt mit Ursachen beschäftige, sei nach Heisenberg die Freiheit in der Verhaltensforschung unübersehbar - schon Tiere täten von sich aus, was getan werden müsse. Dr. Paolo Bavastro (Stuttgart) thematisierte die umstrittene Praxis des Hirntodes bzw. der Transplantationschirurgie, die einen Anwendungsfall der grundsätzlichen Überlegungen zur Würde des Menschen darstellt. Eine phänomenologische Betrachtung zeige, dass "hirntote" Menschen keineswegs tot seien: Es sind Schwerstkranke, Sterbende und damit keine Toten, so dass die Organentnahme die Tötung eines Sterbenden darstelle. Die Gleichsetzung Hirntod und Tod gleiche einer utilitaristischen Setzung. PD Dr. Tine Stein (Berlin) führte in die biopolitische Debatte zur Frage nach der Verfügbarkeit menschlichen Lebens an seinem Beginn und Ende sowie zur Aufgabe, eine inhaltliche Bestimmung des Menschenwürdeprinzips vorzunehmen, ein. Sie plädierte, dass den biblischen Erzählungen ein besonderer Rang in der Begründung dieses Prinzips zukomme. Auch wenn eine verfassungsrechtliche Interpretation nicht auf theologische Argumente zurückgreifen könne, so sei doch zum Verständnis des Menschenwürdeprinzips als einer metapositiven Norm und einem archimedischen Punkt in der Rechtsgemeinschaft die Einbeziehung der biblischen Erzählungen von besonderem Belang. Die schöpfungstheologisch und soteriologisch begründete Bestimmung des Menschen als frei und mit unverfügbarer Würde ausgestattet habe nämlich Auswirkung auf den Charakter der irdischen politischen Gemeinschaft: Ihr Verfügungsbereich als menschliche Macht über Menschen wird kategorisch begrenzt.

Am zweiten Tag wurde schwerpunktmäßig die (naturrechtliche) Begründung der Menschenrechte reflektiert sowie ihre Anwendung und Vermittlung in andere Kulturen und Religionen. Prof. Dr. Christoph Böttigheimer (Eichstätt) fragte nach den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sowie nach den inhaltlichen und religiösen Grenzen des Toleranzprinzips, das zeitlich wie ideengeschichtlich den Menschenrechten vorausliege und die westliche Welt wesentlich zusammengehalten hätte. Er legte dar, dass aufgrund der faktischen Nichtuniversalität sowohl des christlichen Glaubens als auch der säkularen Rationalität eine gemeinsame ethische Basis nur interkulturell und interreligiös gefunden werden könne, w bei der christliche Glaube und die westliche Rationalität als große Komponenten der westlichen Kultur eine bedeutende Rolle zu spielen hätten. PD Dr. Peter Paul Müller-Schmid (Mönchengladbach) verwies darauf, dass der Inhalt der Menschenwürde heute zunehmend unklar werde. In den differierenden Verständnissen würden sich unterschiedliche Weltanschauungen und philosophische Strömungen (Postmoderne) widerspiegeln.

Prof. Dr. Eckart Klein (Potsdam) erläuterte aus juristischer Sicht, dass sich im Rahmen der Globalisierung die Frage nach den Menschenrechten in einer ganz neuen Weise stelle. Einerseits sei jede Rechts tradition von einem bestimmten Menschenbild geprägt und andererseits zeige sich die Notwendigkeit, die Menschenrechte international umzusetzen und zu schützen. Dazu würden übernationale Gerichte dienen, die von den einzelnen Staaten anerkannt und auf einer allgemein anerkannten Rechtsbasis arbeiten würden, die in Bezug auf die Menschenrechte nicht auf den kleinst möglichen Nenner reduziert werden dürfte. Prof. Dr. Hans Waldenfels SJ (Essen) arbeitete für den interkulturellen Dialog heraus, dass im Hinblick auf die Grundlegung ethischen Verhaltens das unterschiedliche Verständnis zwischen europäischem und asiatischem "Natur"-Verständnis wahrgenommen werden müsse. Fremde Ansätze müssten in ihrer Fremdheit erkannt werden und eigenes Vorverständnis von "Natur" dürfe nicht vor eilig zum Maßstab erklärt werden. Die Frage, ob und inwieweit das ethische Verhalten des Menschen im "Natur"-Verständnis verankert sei, würde zudem dadurch erschwert, dass das Schlüsselwort für asiatisches Denken nicht "Vernunft" heiße, sondern "Kontemplation".

Prof. Dr. Tilman Nagel (Göttingen) wandte sich dem Islam zu und wies auf, dass im Koran Naturphänomene als Zeichen für das allumfassende Schöpfungswirken Allahs gedeutet würden. In der sich ab dem 9. Jh. entwickelnden islamischen Theologie stelle sich indes die Frage, welcher Sinn der Scharia zukäme, wenn es "Natur" als eine aus sich selber erklärbare Erscheinungsweise des Diesseits gar nicht gäbe bzw. die beobachtete Welt einzig durch Allahs souveränen, unausrechenbaren Ratschluss zu einem Kosmos zusammengefügt würde. Prof. Dr. Matthias Morgenstern (Tübingen) fragte vor dem Hintergrund der neueren jüdischen Philosophie und der noachidische Gebote nach Anschluss möglichkeiten des christlichen Naturverständnisses innerhalb der jüdischen Religion, obgleich es den Naturbegriff im jüdischen Denken nicht gäbe und dem Noachismus kein naturrechtlicher Charakter zukäme.

Der letzte Tag des Symposiums griff noch einmal die Gesamtthemenstellung der Tagung auf, indem die theologische Anthropologie in ihrer biblischen Grundlegung, ihrer theologiegeschichtlichen Entfaltung und - exemplarisch und punktuell - unter gegenwärtiger Problemstellung zu Wort kam. Prof. Dr. Manfred Gerwing (Eichstätt) gab anhand des Menschenverständnisses des Nikolaus von Kues exemplarisch Einblick in die geschichtliche Tradition der theologischen Anthropologie. Prof. Dr. Ulrich Lüke (Aachen) ging von der Äußerung des Wiener Kardinals Schönborn aus: "die Leugnung eines Plans in der Biologie" sei "Ideologie nicht Wissenschaft", und verdeutlichte die Argumentationsweise der Vertreter eines Intelligent Design und einer Darwinschen Evolutionstheorie. Sodann fragte er, woran ein Plan bzw. ein Zufall in der Evolution erkannt werden könne. Er unterschied zwischen einem subjektiven und objektiven Zufallsbegriff und betonte: Zufall heißt nicht Planlosigkeit, Plan und Zufall schließen einander nicht zwangsläufig aus. Da die Evolution offen sei, könne die Frage nach Plan oder Planlosigkeit nicht definitiv beantwortet werden.

Sämtliche Beiträge werden im Herbst 2008 in einem Sammelband im Aschendorf-Verlag erscheinen und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Weitere Informationen sind erhältlich über christoph.boettigheimer@ku-eichstaett.de.


Prof. Dr. Christoph Böttigheimer ist Dekan der Theologischen Fakultät und seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie an der KU. Zuvor war er als Privatdozent an der Universität München tätig.


*


Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2008, Seite 24-25
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
Eichstätt-Ingolstadt
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
85071 Eichstätt,
Tel.: 08421 / 93-1594 oder 1248, Fax: 08421 / 93-1788
E-Mail: pressestelle@ku-eichstaett.de
Internet: www.ku-eichstaett.de

AGORA erscheint einmal pro Semester und
kann kostenlos bezogen werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2008