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FORSCHUNG/013: Ausstiegsoptionen aus kulturellen Gruppen im Liberalismus (impulse - UniBremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2008

Abschied von der Gruppe
Ausstiegsoptionen aus kulturellen Gruppen im Liberalismus

Von Dagmar Borchers


Gehen können, wenn man will, das ist für viele Menschen eine Kurzformel für Freiheit. Anders leben zu müssen, als es die eigenen Maßstäbe, Werte, Ideen oder Pläne vorsehen, scheint dagegen für sie eine unangenehme Vorstellung zu sein. Ein Projekt am Lehrstuhl für angewandte Philosophie der Universität Bremen untersucht, was der Ausstieg aus den kulturellen oder religiösen Gruppen und Normen für den Einzelnen und für die Gruppe bedeutet und welche Möglichkeiten eine liberale Gesellschaft vorhalten muss.


Das eigene Leben frei gestalten. Diese einfache Formel beinhaltet Großes: einmal, die persönlichen Ansichten und Lebenspläne ändern zu können und zum anderen, die äußeren Lebensverhältnisse dann auch an die neuen inneren Haltungen anpassen zu können, wenn man es wünscht. Wer sich verändern will, muss aber auch bereit sein, sich von vertrauten Lebensformen zu lösen und sein gewohntes Umfeld zu verlassen.

Jeder von uns gehört im Laufe seines Lebens einer Reihe unterschiedlicher Gruppen an. Manchen sind wir freiwillig beigetreten, in andere sind wir hineingeboren. Es ist für uns selbstverständlich, Gruppen auch wieder zu verlassen, wenn sich unsere Interessen ändern, zum Beispiel Bürgerinitiativen, Sportvereine, Parteien oder Berufsverbände. Mit anderen Gruppen, mit deren Werten und Normen, sind wir tiefer verbunden, etwa mit religiösen, ethnischen oder kulturellen Gruppen. Im Laufe des individuellen Reifungsprozesses kommt es immer wieder vor, dass wir uns zunehmend auch von deren Lebensformen und traditionellen Überzeugungen distanzieren und schließlich erwägen, uns von diesen Gruppen ganz zu lösen.

Aus Sicht des Einzelnen bedeutet "Ausstieg", die Autorität einer Gruppe über sein Leben und Handeln zurückzuweisen und sich ihrer Einflusssphäre zu entziehen. Man betrachtet die Regeln und Normen der Gruppe nicht länger als verbindlich und sieht sich nicht länger verpflichtet, ihren rechtlichen, moralischen, sozialen, kulturellen oder politischen Ansprüchen zu entsprechen. Auch ohne einen Groll zu hegen, kann man der Gruppe überdrüssig sein. Nicht selten aber gehen der Entscheidung Unzufriedenheit, Missbilligung oder gar massive Ablehnung und ein entsprechend unüberwindbarer Dissens voraus.

Umgekehrt kann auch die Gruppe ein Mitglied ausschließen, meist als Bestrafung, in Form einer Ächtung, Exkommunikation oder Verbannung. Die Freiheit zur Trennung haben also nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen. Und nicht nur Individuen nutzen sie, um ihren Idealen treu zu bleiben. Gruppen schützen auf diese Weise jene Werte und Normen, die für ihr Selbstverständnis konstitutiv sind und wahren so ihr Profil. Offensichtlich sind verschiedene Varianten von Trennung denkbar und deren Form ist durchaus von rechtlicher, moralischer, politischer oder sozialer Bedeutung - für den Einzelnen, die Gruppe und die Gesellschaft. Mehr noch: Nicht alle denkbaren Formen von Ausstieg oder Ausschluss sind mit einem liberalen Rechtsstaat vereinbar. Das geltende Recht eines Staates legt also immer auch fest, welche Art der Trennung überhaupt zulässig ist.


Liberalismus ermöglicht den Ausstieg

Liberale Philosophen verbindet die Überzeugung, dass es zu den Grundfreiheiten jedes Einzelnen gehört, seine Gruppenzugehörigkeit frei bestimmen zu können, also über Beitritt und Austritt frei entscheiden zu können. Die Ausstiegsoption ist somit ein Kernelement liberaler Gesellschaften. Dafür wurden in liberalen Demokratien klassische Lösungen entwickelt, die als Freiheits- und Schutzrechte kondensiert und institutionalisiert wurden. Auch Minderheitenrechte gehören dazu: Viele Ausnahmeregelungen ermöglichen kulturellen und ethnischen Minderheiten einen Rückzug aus einer Gruppe, etwa die Befreiung muslimischer Mädchen vom Sportunterricht oder nichtchristlicher Schüler vom Schulgebet. Jeder muss ohne Nachteile die Möglichkeit zum Fernbleiben haben; solche Optionen zu schaffen ist staatliche Pflicht.

Diese Ausstiegsoption (Exit Option) ist dementsprechend auch Element vieler liberaler Konzeptionen im Kontext der Politischen Philosophie. Gehen zu können, wenn man will, ist, je nach Interpretation, Ausdruck der individuellen Autonomie (Will Kymlicka), Voraussetzung für ein Leben nach den Maßstäben des eigenen Gewissens (Chandran Kukathas) oder unverzichtbar für die Wahrung individueller Grundrechte und den Schutz des Einzelnen vor Übergriffen von Seiten der Gruppe (Brian Barry). Die Idee, jederzeit aus einer Gruppe auch wieder austreten zu können, korreliert darüber hinaus ideal mit wichtigen Zielvorstellungen für den Liberalismus, von denen hier vier genannt seien.

Pluralismus für die Gesellschaft: Durch die Ausstiegsoption können neue Gruppen entstehen, neue Ideen ausprobiert, vorhandene Traditionen und Gebräuche in neuen Gemeinschaften modifiziert werden. Kulturelle Dynamik und Pluralismus hängen direkt von dieser Option ab.

Individuum: Die Ausstiegsoption garantiert maximale Freiheit für den Einzelnen. Niemand ist gezwungen, sein Leben in Kontexten zu verbringen, die man selbst nicht länger für adäquat hält. Irrtümer können korrigiert, Fehleinschätzungen revidiert und Lebenspläne modifiziert werden.

Stabilität für Gruppen: Auch Gruppen profitieren von der Ausstiegsoption. Sie ermöglicht es, Personen mit abweichender Überzeugung auszuschließen und dadurch das Profil der Gruppe zu erhalten oder zu schärfen.

Minimale Aufgaben für den Staat: Zentrales Anliegen des liberalen Staates ist der Schutz individueller Grundfreiheiten und Grundrechte. Gleichzeitig ist sein Bestreben, auch den Gruppen möglichst wenig Restriktionen aufzuerlegen, sodass sie sich möglichst frei entwickeln können. Die Ausstiegsoption verbindet beides. So kann sich der Staat zurück nehmen und lediglich für die Einhaltung bestimmter Rechte und Pflichten sorgen. Dies entspricht der liberalen Vorstellung eines neutralen Staates, der die Lebensgestaltung weitgehend seinen Staatsbürgern überlässt und keine Vorgaben über das Gute Leben macht.


Stiefkind der liberalen Theorie

Die philosophische Bearbeitung der Ausstiegsoption zeigt sich paradox. Einerseits nimmt die Ausstiegsoption in den meisten liberalen Konzeptionen multikultureller Gesellschaften einen prominenten systematischen Ort ein. Andererseits befindet sie sich bei den Theoretikern quasi im toten Winkel der Wahrnehmung. Nur wenige liberale Theoretiker äußern sich überhaupt zu den Ausstiegsmodalitäten. Ausführungen zu den Details fehlen. Aus liberaler Perspektive scheint es sich von selbst zu verstehen und keines weiteren Kommentars zu bedürfen. Abgesehen aber von einer sorgfältigen theoretischen Fundierung muss es den liberalen Philosophen eigentlich auch darum gehen, den praktischen Inhalten dieses Kernelements ihrer eigenen Konzeptionen genau nachzugehen. Am Institut für Philosophie der Universität Bremen startete 2006 ein Projekt, das Ausstiegsoption philosophisch analysiert.

Die meisten Liberalen sprechen einfach von "Gruppen", einige auch von "kulturellen und ethnischen Gruppen". Im Werk Contemporary Political Philosophy von Will Kymlicka findet sich hingegen eine Klassifikation verschiedener Arten von Minderheiten, die allerdings umstritten ist und von anderen liberalen Theoretikern als unangemessen zurück gewiesen wird. Die angeführten Beispiele sind oft sehr abstrakt. Insgesamt muss man konstatieren, dass die vorwiegend angelsächsische Debatte unter einer einseitigen Diät in Bezug auf die angeführten Beispiele leidet. Offensichtlich ist es hier dringend geboten, zwischen "verschiedenen Arten von Gruppen" und "unterschiedlichen Formen von Gruppenzugehörigkeiten" zu differenzieren.

Diese Differenzierung macht deutlich, dass es natürlich auch verschiedene Arten von Ausstieg gibt, die sich je nach Motiv des Ausstiegskandidaten und dem von ihm angestrebten Effekt unterscheiden. Allgemein bedeutet ein Ausstieg die Aufkündigung der Zusammenarbeit oder den Abbruch des Zusammenlebens. Es ist aber keine "Entweder-Oder-Option": Neben einem formellen und einem informellen Ausstieg sind diverse Formen eines graduellen Ausstiegs denkbar.

Zentrales Problem der Ausstiegsdebatte ist allerdings die Kostenfrage. Der Ausstieg aus einer Gruppe ist für diese selbst, aber auch für das weichende Mitglied mit ökonomischen, sozialen und psychologischen Kosten verbunden. Sie können sogar so hoch sein, dass ein Ausstieg aus Sicht des Einzelnen gar nicht mehr in Frage kommt. Offen ist, ob dieses Problem ausschließlich Sache des Einzelnen ist, ob es zu den Lebensrisiken gehört, mit denen der Mensch selbst fertig werden muss, oder ob der Staat hier eine Verpflichtung gegenüber seinen Bürgern hat und damit die Aufgabe hat, Kosten zugunsten des Einzelnen umzuschichten.

Diese drei Themenkomplexe sind Gegenstand des im Frühjahr erscheinenden Buches von Dagmar Borchers mit dem Titel "Kann man aus kulturellen Gruppen aussteigen? Die theoretischen und praktischen Implikationen der Ausstiegsoption in der Multikulturalismus-Debatte des Liberalismus". Es versteht sich insgesamt als ein Votum für einen offensiven Liberalismus, der im Zuge der Gestaltung der Ausstiegsmodalitäten aus kulturellen und religiösen Gruppen nicht umhin kommt, für seine Werte einzustehen und sie auch gegenüber jenen kulturellen Gruppen zu vertreten, die sie unter Hinweis auf ihre traditionellen Überzeugungen für ihre Gruppenmitglieder nicht gelten lassen wollen.

Natürlich ist es auch sinnvoll, die Ausstiegsproblematik in speziellen Kontexten zu untersuchen. Das Dissertationsprojekt von Christina von Behr widmet sich daher Kindern und Jugendlichen, die aus eigenem Antrieb eine kulturelle oder religiöse Gruppe verlassen möchten. Geschieht dies gegen den erklärten Willen der Eltern, gerät der liberale Staat in eine Bredouille zwischen der Fürsorgepflicht gegenüber Kindern und Jugendlichen und dem Respekt vor dem Lebensstil der Eltern. Hier stellt sich in besonderem Maße die Frage nach der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Bereich und welche Aufgaben der liberale Staat übernehmen kann, wenn Kinder ihre Familien verlassen, um sich gegen Maßnahmen, Traditionen oder Bräuche zur Wehr zu setzen, an denen sie unter keinen Umständen teilhaben möchten.


Dagmar Borchers ist Juniorprofessorin für Angewandte Philosophie in Bremen. Nach dem Studium der Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaften in München, Hamburg und Bremen war sie zunächst mehrere Jahre Regie- und Dramaturgieassistentin am Theater. Sie promovierte und habilitierte sich in Bayreuth. Seit Dezember 2004 ist Borchers in Bremen, wo sie zu Ethik, Ausstiegsoptionen und zu Gütekriterien empirischer und normativer Theorien forscht.

Weitere Informationen:
www.philosophie.uni-bremen.de


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2008, Seite 22-25
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2009