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ABENTEUER/004: Gefährlicher Krabbenfang. Wolkenformen lesen (SB)

© Schattenblick 2010
Gefährlicher Krabbenfang - Opa erzählt

Mit Anhang: Wolkenformen lesen


"Oh, Mann ist das langweilig heute." Ole sah genervt aus dem runden 'Kombüsen'-Fenster. Es regnete Bindfäden. Opa hatte sie heute zum Frühstück in seine 'Kombüse' eingeladen, so nannte er die kleine Küche in seinem Leuchtturm. Da in dem engen Turm alles sehr funktional eingerichtet war, wie auf einem Schiff, hatte Opa den Räumen entsprechende Namen gegeben. So gab es die 'Brücke', der höchste Raum unter dem Leuchtfeuer, in dem er die Kontrollgeräte für den Leuchtturmbetrieb, eine kleine Wetterstation und ein hochmodernes Computerterminal untergebracht hatte. Opas Zimmer hieß schlicht 'die Kajüte' und bestand aus der verschließbaren 'Koje', einem Bett in einer Art Wandschrank, einem altmodischen, geräumigen Sekretär und einem gemütlichen Lehnstuhl, in den sich Opa für gewöhnlich mit einem guten Buch und einer frisch gestopften Pfeife zurückzog. Jeder nur denkbare Quadratzentimeter der Wand wurde von einer soliden Regalwand ausgefüllt, in der sich wohlgeordnet Bücher zu beinahe jedem Wissensgebiet, aber auch spannende Krimis, Science Fiction und andere Schmöker fanden. Opa ließ sich jeden Monat ein Paket mit neuen Büchern kommen, die er telefonisch bestellte. Ein Fernsehgerät konnte man allerdings nirgends entdecken.

Im Augenblick stand Opa geschäftig über den zweiflammigen Gasherd gebeugt und backte Pfannkuchen. "Oh, Pfannkuchen mit Blaubeermarmelade, was für ein köstliches Frühstück", meinte Malte mit vollen Backen. Essen war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, und in der Schulzeit vertrat er rundweg die Ansicht, man solle nur 10 Stunden in der Woche in die Schule gehen und dafür 45 Stunden mit Essen zubringen. Entsprechend schnell verschwanden auch die Pfannkuchen in seinem schlaksigen Körper. "Es ist genug für alle da", brummte Opa in seinen Bart. "Du kannst nach 5 Pfannkuchen ruhig mal 'ne Pause einlegen und die nächste Runde mit deinen Geschwistern teilen. Ich hör' erst auf zu backen, wenn ihr nicht mehr 'papp' sagen könnt." - "Papp", stöhnte Kerstin und wischte sich den Blaubeerbart von den Lippen, "ich kann wirklich nicht mehr." - "Scheint so, als ob die Runde doch an mich geht", grinste Malte, "Ole guckt sowieso nur die ganze Zeit in die Luft."

"Eine durchaus sinnvolle Beschäftigung", ließ sich Opa vernehmen, "na, Ole, mien Jung, kannst du denn was sehen?" - "Nee, Opa, nur Regen und grauen Himmel." Opa wendete den Pfannkuchen wie ein gelernter Smutje, drehte sich dann um, und strich sich nach einem Blick durch das Bullauge mit den Fingern durch den wirren Haarschopf. "Tja, wenn du meinst", sagte er gedehnt und wendete sich wieder den letzten Pfannkuchen zu. "Ich glaub', Opa sieht etwas, was du nicht siehst", mampfte Malte mit vollem Mund in sich hinein. "Oh, Opa, spielst du mit uns?", freute Kerstin sich sofort und rutschte ungeduldig auf der schmalen Holzbank hin und her, auf der sie knien mußte, wenn sie von der Tischplatte essen wollte, so klein war sie noch. "Ja, so könnte man es auch nennen", meinte Opa und servierte die letzten drei Pfannkuchen, von denen er sich selbst einen dick mit Zucker bestreute. "Dann mußt du aber noch eine Farbe nennen", ereiferte sich Kerstin, "sonst können wir ja nicht raten, was du meinst." - "Blau", sagte Opa, "himmelblau!" Kerstin schaute aus dem Bullauge, und richtig, in dem Einheitsgrau zeichneten sich erste Strukturen ab, und weiter entfernt über dem Meer blitzte sogar ein Stückchen blauer Himmel, obwohl es immer noch in Strömen regnete. "Ich denke, in einer halben Stunde können wir einen kleinen Gang ins Dorf machen und unsere Vorräte ergänzen."

"Oh Mann, bei dem Regen - ohne mich", meinte Ole, der eigentlich schon längst die nähere Umgebung des Dorfes hatte auskundschaften wollen. "Nee, nee", auch Malte hatte keine Lust, "die fünf Kilometer durch den schlammigen Sand möchte ich jetzt auch nicht mit vollem Magen abreißen. Das ist ja schon bei schönem Wetter ein Gewaltmarsch. Können wir nicht im Landrover ...?" - "Der ist in der Werkstatt und ich wollte ihn bei dieser Gelegenheit eigentlich abholen." - "Ach Opa, spazierengehen ist so langweilig", meldete sich nun auch noch Kerstin zu Wort." - "Na, dann setze ich mich eben mutterseelenallein in Tante Fredas Gartencafé, um meinen Bananenflip zu löffeln, denn in einer Stunde wird es so heiß sein, daß ich über eine kleine Erfrischung sehr dankbar sein werde. Ihr müßt dann allerdings in der Nähe des Leuchtturms bleiben. Man weiß ja nie, bei euch Landratten, was ihr als nächstes wieder anstellt. Und gebadet wird erst, wenn ich wieder da bin, das ist ja wohl klar."

In aller Seelenruhe begann er mit dem Abwasch. Kerstin und Ole halfen ihm in stillschweigendem Einvernehmen mit dem Abtrocknen, während Malte das Geschirr wegräumte. "Du, ich glaub', Opa denkt wirklich, daß es heute noch heiß werden wird", raunte Ole seinem Bruder leise zu. "Ach Quatsch, woher soll er das denn schon wieder wissen, er ist doch kein Hellseher. Aber eine schöne große Portion Eis mit Sahne, das wäre ja schon was ... " - "Opa, bist du kein Hellseher?", fragte Kerstin, die natürlich wieder mal gehört hatte, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. "Nee, mien Lütten, 'n Hellseher bin ich man nich. Aber die Wolken erzählen mir manchmal das eine oder andere." - "Die Wolken, können die denn reden?", wisperte Kerstin jetzt gespannt.

"Manche schon, aber das sind dann keine richtigen Wolken ... doch an solche Dinge glaubt ja sowieso kein Mensch. Ich habe mir schon lange, lange abgewöhnt davon zu sprechen. Doch wenn du dir jeden Tag mit wachen Sinnen den Himmel anschaust und das eine oder andere über die Entstehung von Wind und Wolken weißt, dann kann man in den Wolken lesen, was es für ein Wetter in den nächsten Stunden geben wird." Beinahe andächtig sahen die drei nun aus dem kleinen Bullauge. Der Regen hatte schon abgenommen und ein dünner Sonnenstreifen fiel über der Küste ins Meer. "Schöön", schwärmte Kerstin und wurde ganz aufgeregt, weil sie einen Regenbogen entdeckt hatte. Auch Ole sah nun, daß sich die Wolken zunehmend veränderten. "Weißt du, woher die Wolken kommen, Opa?" - "Na, aus dem Meer, du Dussel", wollte Malte seinen kleinen Bruder belehren, "Wasser verdunstet, und dann ... äh, ... wir haben das doch in der Schule gehabt ..."

"Hol doch mal das große Weckglas aus dem Regal da drüben, Malte", meinte nun Opa, "das ganz große Zwei-Liter-Glas." Feierlich stellte er das Gewünschte auf einen Untersetzer auf dem Küchentisch ab. "So", brummte Opa, steckte seine kalte Pfeife in den Mund und nahm den Kessel mit heißem Wasser vom Herd, mit dem er sich gerade noch eine Tasse Kaffee aufgebrüht hatte. Es war noch heiß, kochte aber nicht mehr. Er goß es 3 cm hoch in das große Glas. "Das Wasser darf nie kochen, wenn man es in ein Glasgefäß gießt", sagte Opa nun durch die Zähne, denn er wollte die Pfeife nicht aus dem Mund nehmen, "sonst könnte das Gefäß zerspringen. Kerstin, hol mal das kleine metallene Backblech und füll es mit Eiswürfeln aus dem Gefrierfach; und Ole, mach mal die Schotten dicht, es soll jetzt ganz dunkel werden in der Kombüse." Inzwischen hatte er das Backblech mit den Eiswürfeln auf das Einweckglas gestellt und beleuchtete das Glas mit seiner großen Taschenlampe, die er immer in seiner Nähe bereit hielt. "Seht ihr jetzt, wie Wolken entstehen?" fragte Opa.

Sie betrachteten gemeinsam, wie sich in dem Glas eine kleine Wolke gebildet hatte, die aus warmer Luft bestand und winzige Wassertröpfchen enthielt. Wenn die warme Luft schließlich auf das eisgekühlte Backblech traf, wurde sie so abgekühlt, daß noch mehr Feuchtigkeit kondensierte: aus den kleinen Tröpfchen bildeten sich am Backblech große Wassertropfen.

Malte dozierte altklug: "Die Entstehung einer Wolke kann man auch bei anderer Gelegenheit beobachten; allerdings müßten wir dazu einen sehr kalten Tag abwarten. Wenn man dann draußen im Freien durch den Mund ausatmet, entstehen lauter kleine, dünne Wölkchen." - "Ja, ja, Malte, du hast es erfaßt. Es ist immer das gleiche, die warme, feuchte Luft aus unserem Körper kühlt sich ab, wenn sie auf die kalte Außenluft trifft. Wir können auch beobachten, daß aus einem Tümpel oder See am Morgen kleine Wölkchen oder Nebelschwaden aufsteigen, wenn es nachts sehr kalt war. Das Wasser oder das Meer selbst ist wärmer als die Umgebungsluft."

"Ooch", meinte Kerstin nun ernüchtert, "und der liebe Gott hält dann wohl so ein Backblech mit Eiswürfeln, und wenn sich genug Wassertropfen gesammelt haben, dann regnet es?" - "Oh Mann, Kerstin, du bist echt peinlich", winkte Ole genervt ab. "Im Himmel gibt es doch keine Eiswürfel ..." - "Aber so ganz unrecht hat sie nicht", schaltete sich jetzt Opa wieder ein. "In den Wolken selbst ist es so kalt, daß sich kleine Eiskristalle bilden. Unten sind es noch wenige, doch je höher die Wolken steigen, um so dichter werden die Eiskristalle und um so kälter die Wolke. Ganz hohe Wolkenformationen nennt man deshalb auch Eiswolken. Aus diesen Wolken, ihr kennt sie vielleicht auch als weiße Schönwetterwolken, fällt kein Regen. Und sie sehen wirklich so aus wie eine große Portion Vanilleeis mit Sahnehäubchen. - Apropos, nun muß ich aber wirklich sehen, daß ich weiter komme. Ihr wolltet ja nicht mit!? ..."

Umständlich zog sich Opa nun seinen Anorak an, nahm Börse und Einkaufskorb in die Hand und sagte: "Ach ja, eh ich 's vergesse, muß ich lieber noch mal kurz auf die Brücke." Wie unter einem inneren Zwang folgten die drei ihrem Opa die steile Stiege hinauf in den Raum unter dem Leuchtfeuer. Opa erteilte ihnen den Befehl, ja nichts anzufassen und so konnten sie nur ehrfürchtig zusehen, wie er bald an diesem, bald an jenem Gerät etwas ablas oder verstellte und Notizen in eine Tabelle eintrug. Ein Fax war gerade im Faxgerät angekommen. Opa las es und murmelte: "Ja, ja, genau das habe ich mir gedacht." Dann drehte er ein paar Knöpfe an der riesigen Funkstation und setzte sich altmodische Kopfhörer auf, die mit einem einarmigen Mikrophon verbunden waren, in das Opa jetzt sprach: "Hier Alpha-Omega fünf, Außenstelle, Offenbach, bitte kommen." Es knackte und piepte im Gerät, dann hörten sie eine Stimme: "Hier ist DWD Offenbach, Fritz, bist du's?" - "Ja, höchstpersönlich, ich schicke euch gleich die Daten. Was sagen denn die Satelliten, kann ich heute noch mit meinen Enkeln Eis essen gehen oder kommen wir dann vom Regen in die Traufe." - "Es klart auf. Ich wünsch' dir noch einen schönen Tag." - "Dir auch Paul, mach 's gut."

"So, Kinder, nun kann's wirklich losgehen. Ach ja, ihr wolltet ja nicht mitkommen", stellte Opa nun fest, "die offizielle Wetterprognose vom Deutschen Wetterdienst wird euch sicher auch nicht umgestimmt haben, oder?" Damit machte er sich auf den Weg.

"Warte Opi, warte", rief nun Kerstin, "ich komme mit!" Und flugs hatte sie schon ihre Windjacke übergestreift. Ole, den es nur so juckte, Opa nach all diesen tollen Geräten zu fragen, und wie er so cool mit dem Wetterdienst per Funk gesprochen hatte, wollte es sich nun doch nicht entgehen lassen, auf Opas Gesellschaft zu verzichten. Und Malte dachte nur eins: "Eine große Portion Eiswolke mit Sahne!" Im nu war er angekleidet und bei den anderen draußen. Mit Todesverachtung machten sie sich auf den aufgeweichten, regennassen Weg. Aber tatsächlich, es regnete schon nicht mehr.

Unterwegs löcherten sie Opa, bis er ihnen versprach, die Geräte in seiner Wetterstation einmal ganz genau zu erklären. Kerstin nahm seine Hand und fragte ihn direkt: "Sag' mal Opa, warum bist du Metrologo geworden bist?"

"M e t e o r o l o g e", verbesserte sie Malte und betonte dabei jeden einzelnen Buchstaben.

"Eteo Ro, ja, ja", lachte Opa nun ganz unvermittelt und betonte die Silbe Teo wie einen Namen, "der hatte allerdings auch etwas damit zu tun." - "Hä?" - Drei Fragezeichen staunten ihn an. Doch Opa schmunzelte nur und meinte rätselhaft: "Ach, das will ja sowieso niemand wissen, und glauben tut mir das ja doch kein Mensch." Ole machte Malte ein Zeichen, indem er seinen kleinen Finger über seiner Schläfe kreisen ließ und die Augen zur Nase verdrehte. Das hieß: "Laß ihn, ich glaub', Opa hat 'ne Meise." Malte legte den Finger an den Mund und blickte ihn zornig an, was soviel heißen sollte wie: "Opa ist schon in Ordnung, laß ihn bloß nicht merken, was du über ihn denkst." - "Ich will es aber gerne wissen, Opa", quengelte Kerstin, die eine Geschichte witterte, "mir kannst du 's doch erzählen."

"Ja, ja", schmollte Opa, als hätte er die geheimen Zeichen seiner Enkel bemerkt. "Ihr wärt nicht die ersten, die mich für komplett durchgedreht halten. Aber trotzdem habe ich etwas erlebt, was wohl nicht so viele Menschen in ihrem Leben erlebt haben dürften und ... ja, deshalb habe ich mich auch schon als kleiner Junge, etwa in eurem Alter für das Wetter interessiert." - "Ach Opa, nun erzähl doch endlich", drängte sich Kerstin an ihn. "Vielleicht nachher, wenn wir in der Eisdiele sind, aber nun sagt mir doch mal, was ihr von diesem Himmel haltet ..."

Nach einem kurzen Fußmarsch kamen sie an dem Campingplatz vorbei, den sie auf ihrem Hinweg nur flüchtig bemerkt hatten. Dort gab es auch einen Supermarkt, wo sie ihre Einkäufe tätigen konnten, und eine einladende Terrasse mit Sonnenschirmen, wo man sich hinsetzen und Kaffee, Kuchen und Eis verzehren konnte. Den drei fiel nun doch ein Stein vom Herzen, daß sie nicht die ganzen fünf Kilometer bis zum Dorf laufen sollten. Und mit einer eisgekühlten Stärkung würden sie es auch noch bis zur Autowerkstatt schaffen. Opa wollte sie dann mit dem Landrover zum Leuchtturm zurückfahren. Sie löffelten das Eis, von dem jeder behauptete, noch nie im Leben etwas so Erstklassiges gegessen zu haben und erinnerten Opa nach und nach wieder an die versprochene Geschichte. Opa genoß seinen Banana Split in vollen Zügen und bestellte sich anschließend noch eine Tasse Kaffee, zu der er sich endlich seine Pfeife stopfte. Dann lehnte er sich gemütlich im Gartenstuhl zurück und begann mit seinen Jugenderinnerungen.

Und als er zu erzählen begann, versank die Welt mit dem Holztisch an dem sie saßen, und den Holzbänken, ... nur der hellgelbe Seesand blieb, und der Strandhafer und der Geruch nach Wellen und Meer ...


*


Es war im Jahr 1937, kurz vor dem Krieg, als ich noch ein kleiner Junge war, etwa so alt wie du, Ole. Ich wohnte mit meinen Eltern, drei jüngeren Schwestern und unserer Großmutter in einem kleinen Dorf in Dänemark in der Nähe von Esbjerg in einem kleinen Haus in den Dünen. Um das Häuschen herum war ein großer Küchengarten mit Beerensträuchern und allem, was man so an Gemüse und Kräutern zum Leben braucht. Damals war das ja nicht so, daß Kinder einfach Kinder sein konnten, viele mußten schon mitarbeiten. Auch meine Eltern hatten alle Mühe, genug Geld für unseren Unterhalt aufzutreiben, denn mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg sein Bein verloren und bekam als ehemaliger Lehrer nur eine ganz kleine Pension. So waren wir darauf angewiesen, was Mutter in mühseliger Heimarbeit zu nähen bekam. Doch war auch das zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel; immer nur kleine Aufträge, von den Bauern ringsum, hier mal ein Hemd nähen oder dort mal einen Kragen ansetzen. Dabei hatte sie die Damenschneiderei erlernt und hätte mit Leichtigkeit auch mal ein schönes Kleid nähen und etwas mehr Geld verlangen können. Doch von modernen Damenkleidern wollte man bei uns auf dem Dorf damals nichts wissen. Die Menschen waren überhaupt einfach zu arm für derartigen Luxus. So ernährten wir uns zum Großteil von dem, was der Garten oder das Meer hergaben und das war mein Bereich. Eigentlich hatte ich Glück, denn meine Eltern ließen mir die freie Entscheidung, ob ich fischen oder im Gemüsegarten ackern wollte, und ich war unheimlich stolz auf alle guten Dinge, die ich anschleppte. Zu dem Zweck hatten wir, wie viele in unserem Dorf auch, ein kleines Fischerboot, so etwas wie ein Einmann-Segelschiff, am Strand liegen. Damit fuhr ich so oft ich nur konnte zum Krabbenfang bei einsetzender Ebbe vor die Sandbank.

Alle kannten mich in unserem Dorf, und weil ich den Fischern und Handwerkern häufig bei der Arbeit zuschaute oder ihnen mit kleinen Diensten half, versorgten sie mich gerne mal mit ein paar guten Tips oder einem überzähligen Catcher. Oh, ich glaub', ich hatte damals viele Freunde, aber niemanden, dem ich so richtig mein Herz hätte ausschütten können oder der immer für mich da gewesen wäre. Alle hatten im Grunde wenig Zeit und viele eigene Probleme zu lösen. So war ich, wie gesagt, meist auf mich allein gestellt. Nun war ich beileibe kein Musterknabe, denn um meiner Familie helfen zu können, mußte ich manchmal auch zu einer Notlüge greifen, sonst hätte ich mit Sicherheit viele Dinge gar nicht tun dürfen. Zum Beispiel bei Ebbe mit dem Boot zum Krabbenfang losrudern oder mir vom reichen Bauer Henningsen ein paar Kohlköpfe borgen ... Aber je größer die Not, um so weniger Fragen wurden gestellt, und ich konnte mehr oder weniger tun und lassen, was ich wollte.

Eines Tages beschloß ich, Krabben fischen zu gehen und genug einzuholen, daß ich auch noch etwas davon an den Fischhändler verkaufen konnte. Mit meinem Dinghi segelte ich in der Nachmittagsflut vor den Sandbänken auf und ab und catcherte, was das seichte Wasser an Krabben hergab. Das war für einen neunjährigen Jungen sehr anstrengend. Es fordert nicht nur Kondition, sondern man darf auch nicht zappelig sein und muß sehr genau gucken. Mit einem Wort, ich war bald müde. Das wurde noch gefördert von dem regelrechten Bilderbuchwetter - ruhige See, nicht zu warm, eine leichte Brise aus Süd-Südwest, gerade genug für die leichte Fahrt, die man zum Catchern braucht. Kleine Schleierwolken am Himmel, wie gezupfte Watte ... Ich hatte ordentlich Glück gehabt und reichen Fang gemacht, so daß ich nun eigentlich zurückrudern konnte.

Doch damit hatte ich es nicht eilig. Angeregt von dem leichten Plättschern des Wassers an die Bootswand spielte ich, daß ich Captain Drake sei, der Bezwinger der sieben Weltmeere - und ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen.

Als ich erwachte, bekam ich einen ziemlichen Schreck, denn ich wußte nun nicht mehr, wie spät es inzwischen geworden war. Und dann kam der nächste Schreck: kein Land mehr in Sicht. In welcher Richtung sollte ich die Küste suchen?

Ich befand mich tatsächlich in größter Gefahr, denn die Ebbe hatte eingesetzt und was das auf dem offenen Meer bedeutet, könnt ihr euch ja inzwischen vorstellen. Offensichtlich war ich mit der einsetzenden Strömung um die Sandbank herum nach draußen gezogen worden. Zum Glück war ich immer schon ein aufmerksamer Beobachter gewesen und so konnte ich schließlich an der Strömung erkennen, in welcher Richtung die Küste sein mußte. Ein furchtbares Gefühl der Verlassenheit überkam mich und der starke Wunsch, mich jetzt mit einem Kameraden beraten zu können.

Dazu kam, daß ich nun die ganze Strecke rudern mußte, denn den Wind konnte man nur als Flaute bezeichnen, wie Segler sagen. Das Segel setzen hatte also auch keinen Zweck.

Mir fielen die ganzen Schreckensgeschichten ein, die man sich bei uns im Dorf abends an der Eiche immer wieder erzählte, und ich muß zugeben, ich hatte die Hosen gestrichen voll. Tja, mir liefen vor lauter Angst die Tränen über die Wangen. In dem Moment hätte ich mich sogar gefreut, meinen Vater zu sehen, auch wenn er mir für diesen Leichtsinn sicher die Büx stramm gezogen und auch mit Flüchen und wüsten Beschimpfungen nicht gespart hätte. Doch schließlich sagte ich mir selbst, daß ich mit heulen auch nicht weiterkam. Ich überlegte, daß ich etwa noch drei Stunden Zeit hatte, bis es dunkel werden würde - weiß einer von euch, wann Mitte August die Sonne untergeht? Es war später Nachmittag, etwa fünf Uhr. Ich begann zu rudern.

Ich wußte anfangs nicht, ob es noch mein inneres Schluchzen oder eine Art seltsamer Schluckauf war oder ob mir meine Sinne jetzt einen Streich spielten - jedenfalls hörte ich plötzlich eine Art Zischlaut und hatte nicht mehr das Gefühl, allein zu sein.

Ich drehte mich um, doch es war niemand zu sehen, und ich setzte das Rudern fort. "Ts, tsssss", da war es doch wieder gewesen. Ich hielt die Ruder hoch und sah mich um. "Ts, ts, hier oben, du zwergenhafte Promenadenmischung." Ich blickte in den Himmel, doch ich konnte immer noch nichts sehen. Zwischen den fedrigen Wölkchen hatte sich eine einzige, dichte Wolke aufgetürmt, die ich jedoch nicht weiter beachtete. Allerdings regte sich in mir so etwas wie Ärger. Wollte mich da einer zum Narren halten oder narrte mich schon mein eigener Verstand?

"He, kleiner Döskopp! Ts, ts, manometer, was sind die Menschen oder die sich so nennen doch für eine traurige Gattung. Immerzu jammern sie rum, daß es ihnen soooo schlecht geht oder daß sie ja sooooo einsam sind. Und unsereinen können sie nicht von einer ganz flauschnormalen Federwolke unterscheiden."

Allmählich ging mir der Kerl auf die Nerven. Von Klaubautern hatte ich ja schon genug gehört, aber daß sich einer am hellerlichten Tag an einem kleinen Fischerboot vergriff, das war schon seltsam. Vor Wut, Erschöpfung und Ratlosigkeit fing ich schon wieder zu weinen an. Ich konnte die Tränen einfach nicht mehr runterschlucken, und es war mir auch ganz egal, ob das nun einer sah oder nicht.

"Ja, meine Güte, du jämmerlicher Regenmacher, wie lange soll ich mir denn noch die Kehle aus dem Hals schreien? Liegt da faul in der allerbehaglichsten Lage, bei wärmstem Sonnenschein auf der ruhigsten See vor romantischer Abendstimmung in seiner kuscheligen Pennschaukel rum und flennt, als hätte das Meer nicht ohnehin genug Salzwasser. Das versteh' mal ein Klimatiker! Hier bin ich, hier oben, schiffbrüchig und dennoch guter Dinge - by the way, ich brauche deine Hilfe."

"Das glaubt mir doch kein Mensch", erkannte ich nun staunend, "da quatscht doch tatsächlich diese dicke Wolke mit mir. Das halt' ich einfach nicht aus ..." - "Na endlich", sprach die Wolke und senkte sich, so daß wir uns Auge-in-Auge gegenüberstanden, wenn man davon überhaupt sprechen kann. "Weiter hätte ich aber auch nicht gehen dürfen. Uns Klimatikern ist nämlich keine Kontaktaufnahme gestattet, wenn wir nicht von einem logisch denkenden Wesen als ebensolches erkannt werden. Doch bei den Menschen ist es ja mit der Logik nicht weit her." Naja, und so schimpfte er eine Weile weiter über die Blindheit und Unwissenheit der Menschen im Vergleich zu einem Klimatiker usw. Ich war so unsinnig glücklich, nicht mehr allein zu sein, daß ich auf sein dummes Gequatsche nicht weiter achtete. Ich glaub', es war ziemlich beleidigend.

Irgendwie schnallte ich allmählich, daß ich es mit einem Wesen zu tun haben mußte, das vorgab, offensichtlich über ausgeprägte Kenntnisse, Wahrnehmungs- und Kombinationsfähigkeiten zu verfügen. Und es hatte anscheinend auf irgendeine Weise Schiffbruch erlitten und kam ebenfalls nicht mehr nach Hause. Wir waren also Schicksalsgenossen. "Das tut mir leid", sagte ich leise. Ich glaube nicht, daß dieses Weiß-nicht-was es gehört hatte. Denn nun schimpfte es auf die Stratosphäre, die irgend ein Irsx mit seinem Orxks gemacht hatte und weshalb es nun nicht mehr in den Weltraum starten konnte. Also ein Außerirdischer? Und natürlich gab er auch dafür den Menschen die Schuld.

"Ts, tsss. Ich vergaß mich vorzustellen. Gestatten, mein Name ist Eteo Ro", meinte er schließlich, als er mal eine kurze Pause in seiner Schimpfkanonade auf die Menschheit einlegte und sich auf seine (sich immer wieder verändernden) Formen besann. "Ich komme eigentlich von dem Planeten 'Klima', etwa eine Viertelmillion Lichtjahre von hier entfernt."

"Ohh", sagte ich, unfähig irgendetwas Geistreiches entgegenzusetzen.

Schließlich raffte ich mich auf und sagte in ebenso beleidigendem Ton, mit dem er auf mich eingeschimpft hatte, denn das war wohl so Sitte bei den Klimatikern: "Sag mal, du kümmerlicher Wolkenpfropfen, wenn du schon so schlau und genial bist wie alle wunderbaren Klimatiker, kannst du mir dann nicht sagen, wie ich am schnellsten mein Boot an Land bringe?" - "Nichts leichter als das", meinte der Klimatiker, "doch wenn wir deine Schlafschaukel an Land bringen, dann können wir uns nicht mehr unterhalten, denn dann haben wir zu viele Zeugen - und wie ich schon sagte, ein Kontakt mit niederen Lebensformen ist uns eigentlich nicht gestattet."

"Niedere Lebensformen, Schlafschaukel, hast du noch mehr solcher Beleidigungen auf Lager? Ich bin mir ja noch nicht einmal sicher, ob du überhaupt wirklich existierst. So etwas wie dich gibt es nämlich gar nicht." - "Wieso Beleidigungen, ich bemühe mich nur um eine verständliche und präzise Ausdrucksweise, die in kürzester Form keinerlei Mißverständnisse aufkommen läßt. Und deine Zweifel an meiner Existenz - wo ich hier vor dir schwebe und mit dir spreche - müßten dir doch selber sagen, was für einen eingeschränkten Horizont du besitzt." - "Du, du, du aufgeblasene Hechtsuppe du ..." - "Also, ich muß schon sagen, Fritz", unterbrach mich hier mein neuer Bekannter, "jetzt bist D U beleidigend, denn Hechtsuppe ist äußerst unpräzise, mein Körper enthält keinerlei organische Bestandteile und am allerwenigsten Fisch ..."

So etwa müßt ihr euch den Beginn einer 'wunder'baren Freundschaft vorstellen. Man 'wunderte' sich mit Eteo Ro am laufenden Band, man konnte überhaupt nicht aufhören, sich zu wundern. Und das Wunderbarste an jenem Abend war, daß er mich und mein Schiff mit dieser Wolkenmasse umhüllte, die sich unerwarteter Weise kein bißchen feuchtkalt anfühlte, und als er sich wieder verzog, schipperte ich nur ein paar Ruderschläge vom heimatlichen Strand entfernt und hatte nicht einmal eine Krabbe von meinem Fang verloren.

Seht ihr, von da an hatte ich auf einmal ein recht großes Interesse an der Beobachtung des Himmels und seiner Wettererscheinungen, besonders wenn ich allein war, ohne Zeugen. Denn sonst hätte sich ja mein Freund Eteo Ro nicht gezeigt. Und er, das wußte ich nun, konnte in allen möglichen Wettererscheinungen stecken, immer ein klein wenig abweichend vom gerade vorhandenen Wetter. Das war quasi unser Erkennungszeichen. Das erste Mal war er zum Beispiel als dicke Wolke an einem völlig blauen Sommerhimmel mit einigen Schleierwölkchen aufgetaucht. Ich mußte jetzt lernen, wie der Himmel eigentlich auszusehen hat und was da nicht reinpaß. Eins habt ihr jedenfalls heute auch gelernt. In Fachsprache ausgedrückt: An einem Himmel mit Cirren, so heißen die feinen, fedrigen, zusammenhanglosen Wolkenerscheinungen, paßt einfach keine einzelne haufenförmige Cumuluswolke.

An jenem Abend jedenfalls, als sich Eteo Ro so wortlos verzogen hatte, war ich mir schon wieder nicht mehr sicher, ob ich das alles nicht doch bloß geträumt hatte.

Raute

ANHANG: Wolkenformen lesen

Geübte Wolkenbeobachter wissen, daß sich aus dem Entstehen und Vergehen der zahlreichen Wolkenformen das Wetter der nächsten Stunden mit guter Treffsicherheit ablesen läßt. Man muß die Wolkenentwicklung aber über einen längeren Zeitraum aufmerksam verfolgen und dabei auf Zu- und Abnahme der Bedeckung, auf die Veränderung der verschiedenen Wolkenarten und auf ihre Lebensdauer achten.

Eine Wolke ist nichts anderes als eine Vereinigung von feinen Wassertröpfchen. Wo kommen die aber her?

Bei ihrer Bildung spielt der unsichtbare Wasserdampf eine wichtige Rolle, der bis zu 16 Kilometer Höhe einen Bestandteil der Luft (bzw. Atmosphäre) ausmacht. Je nach Luftwärme ist er mehr oder weniger vorhanden. Warme Luft kann nämlich wesentlich mehr Wasserdampf aufnehmen als kalte.

Wenn die Luft gerade kühl ist, so daß sie nicht mehr allen Wasserdampf aufnehmen kann, wandelt sich der überschüssige Dampf in jene kleinen Tröpfchen um, die dann zusammen eine Wolke bilden.

Die Wassertröpfchen der Wolken sind noch lange keine Regentropfen. In zunehmender Höhe, wo es kälter ist, gefrieren sie zum Beispiel zu Eiskristallen. Eine Wolke enthält meist ein jeweils unterschiedliches Gemisch aus Wassertröpfchen, Eiskristallen und Wasserdampf. Das Aussehen einer Wolke ist aber nicht nur durch ihre Bestandteile Wasser und Eis bestimmt, sondern auch durch die Luftströmungen in der Atmosphäre.

Die Bestimmung der Wolken kann erleichtert werden, wenn man sie in sogenannte "Wolkenstockwerke" einordnet:
1. Hohe Wolken (6 - 13 km Höhe)
2. Mittelhohe Wolken (2 - 6 km Höhe)
3. Tiefe Wolken (0 - 2 km Höhe)


*


Ein wenig Kenntnis über Wolkenformationen und ihre Entwicklung ist der zuverlässigste Ausgangspunkt für die eigene Wettervorhersage am Ort. Die folgende Wolken-Kurzbeschreibung ist verbunden mit Wetterhinweisen bei ihrem Erscheinen. Die Namen geben Auskunft über die Form:
"cirrus" = schleierförmig
"stratus" = schichtartig
"cumulus" = rundliche Haufenform

1. Hohe Wolken (6 - 13 km Höhe) - Cirrus (Federwolken):
Weiß; zarte durchsichtige Fäden; hohe Eiswolken, aus denen kein Regen fällt. Es heißt auch: Weiße Wolken befeuchten die Erde nicht. Wenn sie sich zunehmend und rasch verdichten oder kommaähnliche Haken bilden, künden sie Regen an.

2. Mittelhohe Wolken (2 - 6 km Höhe) - Altocumulus (grobe Schäfchenwolken):
Flache Wolkenfelder, wie Walzen, teils auch flockig; an der Unterseite häufig dunkel bzw. grau; Vorboten von Wetterverschlechterung, oft mit Regen verbunden. Entwickeln sich aus dieser Wolkenschicht am Morgen turmähnliche Quellungen, ist mit Gewitter zu rechnen.

3a. Tiefe Wolken (0 - 2 km Höhe) - Stratocumulus (tiefe Haufenschichtwolken):
Die häufigste Wolkenart, Schollen, Ballen oder Walzen, unregelmäßig oder in Schichten, Bändern, Feldern; grauweißlich mit dunkler Unterseite. Trotz ihres bedrohlichen Aussehens bringen diese Wolken selten Niederschläge. Wenn zwischen ihren Lücken blauer Himmel durchscheint, ist sogar mit beständiger Wetterbesserung zu rechnen.

3b. Tiefe Wolken (0 - 2 km Höhe) - Stratus (tiefe Schichtwolken, Hochnebel):
Einförmig graue Wolkenschicht, milchig, nebelähnlich, weist auf anhaltend trübes Wetter hin und bringt oft Sprühregen.


Dann gibt es noch Wolkenarten, die sich in die Höhe erstrecken, d.h. von 0 bis 13 Kilometer vorkommen:

a. Nimbostratus (Regenwolken):
Dunkle, dichte Wolkenschicht, aus der anhaltend Regen oder Schnee fällt.

b. Hochreichende Cumuluswolken (Haufen-, Quellwolken):
Rundliche, scharf abgegrenzte Wolken, als kleine Haufen und Hügel formiert; wachsen sie turmartig, oft blumenkohlähnlich, nach oben, so entsteht im Sommer ein Gewitter oder zumindest ein heftiger Schauer.


Ein typisches Anzeichen für schlechteres Wetter ist auch der sogenannte chaotische Himmel mit wildem Durcheinander vieler Wolkenformen.

Die Formenvielfalt der Wolken ist hier lange nicht vollständig erfaßt. Es gibt noch zahlreiche Namen, die aber den Anfänger nur verwirren - und mal ehrlich, was sagen Namen denn schon wirklich über das Wetter aus?


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Und hier nochmal die Zutaten, die ihr braucht, wenn ihr selbst eine Wolke im Einweckglas entstehen lassen wollt:

Ein 2-Liter Marmeladen- bzw. Weckglas, ein Backblech, Eiswürfel, heißes Wasser (nicht kochend) und eine Taschenlampe.

Fortsetzung folgt


Erstveröffentlichung im Schattenblick 3. September 1999

23. Juli 2010