Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2744: Eisbär- und Drachenschicksal (SB)


Auf dem Arbeitstisch liegt der Block des Zeichners. Das oberste Blatt zeigt Spuren, die darauf hindeuten, daß auf dieser Oberfläche radiert wurde. Schaut man genauer hin, wird erkennbar, daß einst ein kleines Gesicht hier zu sehen war.

Im Bett liegt der Zeichner und scheint angenehm zu träuen. "Du brauchst mich gar nicht zu leugnen. Auch wenn du mich nicht siehst, bin ich dennoch vorhanden", flüstert es vom Arbeitstisch her. Bei dem Flüstern schrickt der Träumende aus dem Schlaf hoch. "Hat da jemand nach mir gerufen?", fragt er.

"Ja, ich, dein Mondgesicht. Warum hast du mich so durchsichtig gemacht?", fragt das Gesicht und strengt sich an, wie eine Prägung aus dem Papier emporzusteigen.

Der Zeichner will es gar nicht glauben. "Ich träume wohl noch immer!", sagt er zu sich selber und will sich noch einmal aufs Ohr hauen. "Nichts da!", schimpft das Gesicht, dem der Zeichner wieder aus dem Blickfeld verschwindet, "ich will jetzt mein Gesicht wiederhaben und dazu einen Körper mit Armen und Beinen."

"Zuerst brauche ich einen starken Kaffee", sagt der Zeichner wie zu sich selber. Das Gesicht protestiert, kann aber nichts an dem Ablauf ändern. Der Zeichner dagegen denkt, daß er mit einem klaren Kopf, keine Stimmen mehr hören wird.

Während das Wasser heiß wird, holt der Zeichner die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Eine große Schlagzeile kündigt an, daß der Ziehvater des Eisbären Knut gestorben ist. Nach den ersten Zeilen weiß der Zeichner, daß der Eisbär nie erfahren wird, warum sein Ziehvater nun nie mehr wieder zu Besuch kommen kann. Ein Lied fällt dem Zeichner ein. Darin geht es um einen jungen Drachen, der einen Freund hatte. Dieser Freund war ein kleiner Junge. Der Junge wurde älter und größer und besuchte den Drachen immer wieder. Dann aber, eines Tages war der Junge sehr alt geworden und starb. Er hatte dem Drachen versprochen, wiederzukommen. Aber das war unmöglich geworden. Der Drache aber wartete und wartete, er wurde älter und älter und wartete noch immer. Und wenn er nicht gestorben ist, so wartet er noch heute...

Entschlossen, die parallele Geschichte von dem Eisbären und dem Drachen in Bildern festzuhalten, setzt sich der Zeichner an seinen Arbeitstisch. Er blickt auf seinen Block und will gerade loslegen, da bringt sich das Mondgesicht wieder in Erinnerung. Diesmal kann der Zeichner nicht leugnen, daß jemand mit ihm spricht. "Okay, du bekommst dein Gesicht wieder, aber alles andere hat zu warten, denn ich will zuerst die Geschichte von dem Eisbären und dann eine zweite von dem einsamen Drachen auf meinen Zeichenblock bannen. Aber du bist ja mittendrin. Es wird dir also nicht langweilig werden."

Damit wendet sich der Zeichner seinen beiden Hauptfiguren zu und achtet nicht mehr auf das Mondgesicht.

24. September 2008

Gute Nacht