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GUTE-NACHT/2753: Einladung zum Tee (SB)


"Was unternehmen wir heute?", mit dieser Frage begrüßt das kleine Wesen Zeichner Raimund, als es sich erst spät am Nachmittag zeigt. Es gähnt noch und streckt die Arme aus dem Fenster heraus. Dann ist es für einen Augenblick verschwunden, um gleich darauf aus der Tür zu treten und wieder auf dem Zeichenblock zu erscheinen.

"Oh, was für ein schöner bunter Baum", freut sich das kleine Herbstwesen und bestaunt das rote Blatt, das Zeichner Raimund noch gestern Abend auf den Zeichenblock aufgeklebt hat. Das rote Blatt unter der gelben Sonne ist noch immer das einzig Bunte auf dem weißen Papier mit seinem Haus aus schwarzen Tuschestrichen.

"Bei dir ist alles schön bunt, bis auf die Grenze nach draußen. Die ist durchsichtig", stellt der kleine Herbst fest. "Du meinst die Glasscheibe des Fensters. Sie ist nicht immer durchsichtig. Wenn du die Scheibe unter einem ganz bestimmten Blickwinkel betrachtest, spiegelt sich die Umgebung darin und auch das Licht läßt sich einfangen. Dann erscheint die Scheibe nicht durchsichtig. Du hälst sie auch nicht mehr für Luft oder wie beim Fenster für einen Ausgang."

Das Herbstwesen will mehr aus der Welt des Zeichners erfahren. Am liebsten möchte es dessen Umgebung einmal selber bereisen. Doch wie könnte das möglich werden? Das kleine Wesen wird merklich stiller und sieht traurig aus. "Wenn du mich hier draußen besuchen möchtest, gut! Ich habe da so eine Idee, wie wir das hinbiegen können." Der Zeichner nimmt seine Tuschefeder und beginnt zu zeichnen. Am Rande des Zeichenblocks entsteht eine kleine Figur ohne Gesicht. Sie hat die Größe des kleinen Wesens. Nun nimmt der Zeichner ein Schneidemesser und zieht die Kontur entlang. Noch geschieht nichts weiter.

Jetzt läd der Zeichner das kleine Wesen ein, doch einmal in die leere Kontur zu schlüpfen und sich genau in die Figur hineinzustellen. Das kleine Wesen schlüpft sofort hinein. Alsdann nimmt der Zeichner die ausgeschnittene Figur heraus und trägt sie hinüber zum Stubentisch, auf dem eine Kanne mit Tee steht. Auch ein Teepot steht schon bereit und eine Tageszeitung liegt daneben. "Hier möchte ich es mir mit dir gemütlich machen", erklärt der Zeichner. Er lehnt die Papierfigur an seine Tasse, denn von alleine stehen kann sie nicht. Sie kippt sogar fast um. Doch Zeichner Raimund richtet sie wieder auf. "Na, an deiner Standfestigkeit sollten wir noch ein wenig herumexperimentieren."

Der kleine Herbst - jetzt als Anziehpuppe - sieht das flackernde Licht, das in dem Stövchen unter der Teekanne brennt. Er möchte sogleich dorthin, denn das Licht erinnert den kleinen Herbst an die Sonne über seinem Haus. "Vorsicht!", mahnt der Zeichner, "du bist aus Papier und darum leicht entflammbar. Dann brennst du lichterloh und ich kann dich nicht wieder in dein Haus zurückbringen. Denn dann bleibt von dir nur ein verbranntes, dunkelbraunes Ascheblättchen zurück, das bei der geringsten Berührung auseinanderfällt."

Das möchte das kleine Wesen auf keinen Fall. Deshalb richtet es seine Aufmerksamkeit auf einige andere Dinge, die sich ebenfalls auf dem Tisch befinden. Aus der Tischschublade holt der Zeichner eine Tüte mit Süßigkeiten. Diese hat er zu seinem letzten Geburtstag geschenkt bekommen und sie für einen besonderen Anlaß aufgespart. Dieser ist nun ein besonderer Anlaß, denn es gelangt nicht jeden Tag ein kleines Wesen aus der Zeichenwelt in die körperliche Welt.

Den Inhalt der Tüte leert der Zeichner in ein Schälchen. Bunte Figuren sind da zu sehen. "Das sind verschiedene Tiere", erklärt der Zeichner und stellt sie dem kleinen Wesen einzeln vor. Darunter sind Affen, Nilpferde, Krokodile und viele Arten mehr. Als auch das letzte Tier Bekanntschaft mit dem kleinen Wesen geschlossen hat, nimmt der Zeichner einen großen Schluck Tee und schnappt sich dann eines der Krokodile am Schwanz, reißt seinen Rachen weit auf und läßt das Krokodil hineinfallen.

"Geht das Krokodil jetzt baden?", fragt das kleine Wesen. Gerade in diesem Moment kaut der Zeichner genüßlich auf dem Gummitier herum. "Autsch!" Das kleine Wesen bekommt große Augen. Noch einmal verschwindet ein Gummitier im Schlund des Zeichners, dann ein weiteres und noch eines. Das kleine Wesen bekommt es mit der Angst zu tun. Hatte der Zeichner es nur deshalb aus dem Zeichenblock befreit, um es jetzt zu verspeisen? Plötzlich drückt ein Windstoß das Fenster auf. Es war nicht wirklich verriegelt gewesen. Der Windstoß pustet die Kerze aus und fegt auch das kleine Wesen vom Tisch.

Der Zeichner springt auf, um das Fenster zu schließen. Ein Blumentopf wurde vom Wind mit heruntergerissen. Der Zeichner flucht, wendet sich aber dem entzweiten Blumentopf zu, hebt ihn auf und sucht nach Ersatz. Dabei vergißt der Zeichner wohl das kleine Wesen, das nach seinem Absturz unten auf dem Fußboden zum Liegen gekommen ist.

7. Oktober 2008

Gute Nacht