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GUTE-NACHT/2847: Milchmann allein zuhaus (SB)


Gute Nacht Geschichten


"Hast du meine schwarze Hexenfigur gesehen?", fragt Melly ihren kleinen Bruder. Die beiden sind gerade erst mit ihren Eltern hier im Haus eingezogen. Da gibt es noch dieses und jenes, was unausgepackt in den Umzugskisten steckt. Tom meint, er habe die Hexe nicht gesehen, verdrückt sich aber flugs in sein neues Zimmer. Eigentlich wäre dieser schnelle Rückzug für Melly ein totsicheres Zeichen, daß ihr Bruder irgendetwas mit dem Verschwinden ihrer Hexe zu tun hat. Doch heute ist Melly, die eigentlich Melanie heißt, mehr auf ihre eigenen Dinge konzentriert, als auf ihren kleinen Bruder. Da ruft Mama, daß es Zeit wird, zur Schule zu fahren.

Das Haus ist jetzt leer, denn auch der Vater hat bereits vor einer Stunde das Haus verlassen. Mama schließt ab und hofft, daß in ihrer Abwesenheit Milchmann nichts anstellt. Warum die Kinder ihren Hund, als er noch klein war, ständig Milchmann gerufen haben, ist Mama unverständlich, da er doch rabenschwarz ist und nur die Schwanzspitze ein paar weiße Haare aufweist. "Kommt Leute! Es ist schon spät!"


*


"Da sind wir beide wohl allein!", ruft Hexe Wackelpeter vom obersten Regalbrett herunter. Den schwarzen Hund allerdings sieht sie nicht. "Wo der Milchmann wohl steckt?"

Als treuer Freund und Begleiter der Familie kann Milchmann es gar nicht verstehen, daß er hier in dem fremden Haus ganz allein gelassen wird. Ob sie ihn hier zurückgelassen haben, mit all ihren Sachen? Einmal war das schon mal geschehen. Da war die Familie für ganze Tage fort. Zwar kam jemand vorbei, der ihn fütterte und mit ihm Gassi ging, aber mehr war nicht drin.

Milchmann bleibt jetzt lieber vor der Haustür liegen und wartet, als sich um sonst irgendwas in der neuen Umgebung zu kümmern.

Vorsichtig schaut Hexe Wackelpeter um die Ecken. Sie will lieber keine direkte Bekanntschaft mit dem Hund der Familie machen. So wie der sein grünes Tuch zerrissen hat, bleibt sie lieber auf Abstand. Vom Flur aus kann Hexe Wackelpeter den Hund vor der Haustür liegen sehen. Immer auf der Hut, hat sie auch jetzt ihren Zauberstab dabei.

"Das ist gut so", flüstert sie, "bleib du nur auf Abstand. Ich sehe mich inzwischen mal in der neuen Wohnung um." Von Zimmer zu Zimmer geht Hexe Wackelpeter. Meist ist noch alles in Kisten verpackt. Nur die Küche scheint bereits eingeräumt. Auf dem Tisch steht das schmutzige Geschirr von heute morgen. Hexe Wackelpeter schleckt am Honig. Dabei ist sie ganz ausgelassen und wirft das Honig-Drückdings um. Es fällt auf die Tasse dahinter, diese geht zu Bruch.

Milchmann horcht auf. Was war das da eben in der Küche? Schnell verläßt er seinen Posten an der Haustür und läuft dorthin. Da sieht er die schwarze Hexe mit dem ebenso schwarzen und spitzen Hut auf dem Küchentisch. Milchmann bellt die Hexe an. Die lacht nur, spingt aber vorsichtshalber hoch auf den Lampenschirm unter der Decke. Milchmann möchte hinterher, um den Eindringling zu fassen. Er springt auf den Stuhl und von dort auf den Tisch. Dann schnappt er nach der Lampe, bekommt sie aber nicht zu fassen. Sein Auftritt auf dem Tisch bringt einiges in Unordnung. Auch fällt ein Porzellanbecher zu Boden und zerspringt.

An dem Stromkabel der Küchentischlampe seilt sich die Hexe hinab. Dann sucht sie das Weite und rettet sich auf die Hutablage der Garderobe im Flur gleich neben der Eingangstür. Milchmann folgt ihr sogleich. Er bellt und springt. An die Hutablage reicht er aber nicht heran. Den Quälgeist nicht aus den Augen lassend, legt sich Milchmann vor der Garderobe hin.

"Nunja, mir gefällt es hier oben auch ganz gut. In dem dunklen Hut ist es richtig gemütlich. Guckuck!", sagt die Hexe und versteckt sich im Inneren von Vaters Hut. Dann spät sie wieder über den Rand und ruft: "Da bin ich wieder!"

Von der Garderobenablage hat die schwarze Hexe einen richtig guten Ausblick. Durch das Oberlicht in der Haustür kann sie sehen, wer sich dem Haus nähert. Milchmann rückt jetzt nicht mehr von der Tür weg. Die schwarze Hexe vertreibt sich damit die Zeit, zu beobachten, wer hier vor dem Haus so vorbeikommt. Gegen Mittag dann fährt ein Auto vor. Die schwarze Hexe sieht, wer da angekommen ist. Sie nutzt diese Gelegenheit, um Milchmann auf ihre Seite zu ziehen. "Was hältst du davon, wenn ich dir deine Familie zurückbringe. Mama und Papa, Melly und Tom. Dann bist du doch bestimmt friedlich zu mir?"

Bei den letzten Worten schaut Milchmann auf die aus dem Hut blickende Hexe und bewegt seinen Kopf im Rhytmus hin und her, so als wolle er sein Interesse bekunden. Für die Hexe wird es Zeit, ihren Zauberspruch auszusprechen, wenn sie will, daß Milchmann das Erscheinen der Familie mit ihr in Verbindung bringt.

Die schwarze Hexe schwingt ihren Zauberstab und sagt:
Simsalabim, alleine sein ist schlimm. Drum zaubere ich sie wieder her, Papa, Mama, Melly und Tom, bitte sehr. Simsalabim!"

Milchmann starrt noch ganz gebannt auf die Zauberstab schwingende Hexe, da geht die Haustür auf. Tom huscht als erster herein und begrüßt seinen Hund stürmisch. Mama und Melly folgen. Während Mama ihre Jacke an der Garderobe aufhängt, ist Melly bereits an der Küchentür. Sie erfaßt sofort, was hier los ist und ist schnurstracks nach oben verschwunden, ohne auf das Chaos in der Küche hinzuweisen. Auch Tom hat bereits die Treppe hinter sich gelassen und Milchmann ist ihm gefolgt, als Mama in der Küche einen Schrei losläßt.

Da hält selbst die kleine Hexe im Hut auf der Garderobe sich die Ohren zu.

2. Februar 2009

Gute Nacht