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GUTE-NACHT/3262: Der kleine Nachtwächter hört von einem fernen Land (SB)


Gute Nacht Geschichten

Im Herbst, wenn die Tage wieder kürzer werden und es auch am frühen Morgen auf dem Heimweg des kleinen Nachtwächters noch dunkel ist, sieht er manchmal tagelang kein Tageslicht. Denn bei Tag liegt er im Bett und schläft. Aber das macht dem kleinen Nachtwächter nichts aus. Er liebt die Dunkelheit. Deshalb hat er sogar schon einmal überlegt, ob er seine Stadt nicht verlassen und in den Norden ziehen soll. Wieso er darüber nachdachte, das kam so. Eines Abends im Sommer, als es gerade mal wieder nicht dunkel werden wollte, trat ein Fremder an das verschlossene Stadttor.


*


"Ich bitte um Einlaß!", ruft der Fremde. "Tut mir leid", kommt die Antwort des kleinen Nachtwächters, "die Tore sind bis zum Morgen geschlossen. Erst in der Früh' werden sie von der Stadtwache geöffnet." - "Und was soll ich so lange hier anfangen? Vielleicht herumsitzen oder gar einschlafen und von einem wilden Tier angefallen werden?" - "Du kannst dir ein Feuer anzünden, das hält die wilden Tiere fern." - "Aber dann ist es warm und ich schlafe ein. Das Feuer wird ausgehen und schon sind die wilden Tiere wieder da."

Der kleine Nachtwächter überlegt einen Moment. Er denkt daran, was er selber unternimmt, wenn er - so selten es auch vorkommen mag - doch einmal während seiner Wache müde wird. Dann rät er: "Du kannst Lieder singen, möglichst lustige und mit einem schnellen Takt. Dann bleibst du sicher wach. Wenn das immer noch nicht reicht, tanzt du dazu um das Feuer herum." Das ist dem Fremden gar nicht recht: "Ich bin doch nicht Rumpelstilzchen. Nein, um das Feuer springe ich nicht herum. Kannst du nicht für mich Wache halten und ich schlafe ein bißchen?" So bittet der Fremde.

Da setzt sich der kleine Nachtwächter in seinen Ausguck etwas schräg über dem Stadttor. So hat er das Tor, aber auch die Ferne und sogar die Straßen der Stadt im Blick. Inzwischen hat der Fremde ein Feuer angezündet aus Zweigen und Ästen, die in der Nähe des Stadttores zu finden waren. Dann wickelt er sich in seine Decke und lehnt sich gegen die Stadtmauer, weit genug vom Feuer entfernt, daß kein Funke ihn erwischt.

"Bevor du nun einschläfst, erzähl mir doch, woher du kommst?", bittet der kleine Nachtwächter. "Ich komme aus dem hohen Norden. Dort wo es im Winter auch am Tag nicht hell wird. Deshalb habe ich mich auf die Wanderschaft begeben. Es betrübt mich, wenn es immer dunkel ist." Diese Neuigkeit, daß es ein Land gibt, wo es immer dunkel ist, findet der kleine Nachtwächter äußerst spannend. Da er die Dunkelheit über alles liebt, möchte er wissen, wo er dieses Land finden kann und was es dort noch so alles gibt. Der Fremde ist jetzt gar nicht mehr müde und berichtet aus seiner Heimat. Er beschreibt die Landschaft mit seinen Seen und Wäldern, berichtet von den Menschen, die sehr geduldig, manchmal auch ein bißchen wortkarg sind. Er flüstert, als er von dem Weisen des Nordens erzählt und wird wehmütig bei den Liedern, die er aus seiner Heimat singt.

Das alles findet der kleine Nachtwächter sehr spannend und er glaubt bereits, das Land seiner Träume gefunden zu haben. Da berichtet der Fremde von den langen Sommernächten, von der Sonne, die nicht untergehen will und den Festen ihr zu Ehren. "Keine Dunkelheit im Sommer?", wagt der kleine Nachtwächter den Redeschwall des Fremden zu unterbrechen. "Ja, Dunkelheit im Winter, ständiges Licht im Sommer und dazwischen die Übergangszeiten von beidem - Licht und Dunkelheit", ergänzt der Fremde.

Der kleine Nachtwächter stöhnt auf: "Das wäre ja auch zu schön um wahr zu sein. Da bleibe ich lieber hier und bewache meine Stadt." Doch nicht nur der kleine Nachtwächter weiß was für ihn das beste ist. Auch der Fremde hat plötzlich eine Eingebung. Er steht auf, löscht das weit heruntergebrannte Feuer ganz und winkt dem kleinen Nachtwächter zu. "Wohin willst du Fremder? Auch die anderen Städte haben zu dieser Stunde ihre Tore noch geschlossen!" - "Ich will in keine deiner Städte. Ich kehre zurück, dorthin wo Sommer und Winter so gänzlich verschieden sind, wo ich die Menschen kenne und verstehe und wo mein Herz lacht und zuhause ist."


28. September 2010

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