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GUTE-NACHT/3277: Der kleine Nachtwächter horcht auf (SB)


Gute Nacht Geschichten

In all den Nächten, die er über die Stadt wacht, war der kleine Nachtwächter noch niemals wirklich ängstlich. Er kennt seine Stadt und ihre Geräusche. Alles ist ihm vertraut.

Er weiß, wie Schritte auf dem Asphalt klingen oder auf dem Kopfsteinpflaster. Das unterschiedliche Quietschen der Türen und Tore ist für ihn Musik in den Ohren. Wenn die Angeln einer Tür geölt wurden und das Quietschen verstummt ist, vermißt er dieses Geräusch.

Sobald der Regen gegen die Häuser prasselt oder auf ihre Dächer fällt, lauscht der kleine Nachtwächter den vertrauten Klängen. Selbst wenn die Regentropfen längst nicht mehr vom Himmel fallen, es aber immer noch zu regnen scheint, kann der kleine Nachtwächter die Tropfgeräusche auseinanderhalten. Dort tropft es von der Dachrinne in die Wassertonne hinein, weiter vorn geben die Zweige nach und lassen den auf die Blätter gefallenen Regen nun zu Boden fallen.

In der Dunkelheit können die Augen des kleinen Nachtwächters die Umgebung und die Dinge umher nicht so gut erkennen wie bei Licht. Seine Ohren aber sind jetzt viel aufmerksamer und bekommen eine Menge mit.

Eine Eule ruft. Das Rascheln von Blättern zeigt an, daß ein Igel unterwegs ist. Noch immer quietscht das Tor zu Bauers Scheune. Der Wetterhahn auf dem Kirchturm dreht sich im Kreis und läßt ein schleifendes Geräusch hören. Die Kirchturmuhr schlägt zur vollen Stunde.

All diese Geräusche sind dem kleinen Nachtwächter vertraut. Doch was ist das? Aus den Augenwinkeln nimmt er einen vorüberhuschenden Schatten war, und seine Ohren künden von einem Fremdling. "Was kann das sein?", fragt sich der kleine Nachtwächter, "die Stadttore sind doch verschlossen. Was verbirgt sich also hinter diesem Schatten?"

Die Augen strengen sich an, den Schatten noch einmal zu erspähen. Die Ohren sind gespitzt, das neue Geräusch zu ergründen. Aber an diesem Abend bietet sich dazu keine Gelegenheit mehr. Nicht noch einmal taucht der ungewöhnliche Schatten auf. So vergißt der kleine Nachtwächter den Eindringling und beruhigt sein aufgeregtes Herz: "War wohl nur eine Fatamorgana, ein Hirngespinst. Vielleicht bin ich heute auch nur zu müde." Der kleine Nachtwächter gähnt. Doch bevor ihn der Schlaf noch überfällt, beginnt er zu laufen.

"Kleiner Nachtwächter, läufst du vielleicht vor etwas fort?"


20. Oktober 2010

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