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KALENDERGESCHICHTEN/050: 02-2015   Weggefährten - Das Nadelöhr (SB)


Das Kamel steckt zwischen zwei Bäumen fest, die Gans versucht auf seinen Rücken zu fliegen - Buntstiftzeichnung: © 2015 by Schattenblick

Was bisher geschah

Das Kamel Doro kam als Gastgeschenk aus einem fernen Land. Aber hier war Doro alles fremd und sie war verängstigt und wollte nur noch in ihre Heimat zurück. Als sie sich fürchterlich erschrak, rannte sie so schnell sie konnte aus der Stadt hinaus auf eine Wiese bis an den Waldrand, wo sie der Gans Edith begegnete, die es für absolut wichtig hielt, das Kamel zu verstecken ...


Nun hockte Edith sich vor das Kamel und dachte darüber nach, wie und wo sie Doro unterbringen könnte. "Klein bist du ja nicht gerade", schätzte Edith, da das Kamel sie im Liegen schon überragte. "Aber wunderschöne große Augen hast du." - "Ja, das höre ich gern, danke. Doch wie hilft mir das dabei, mich zu verstecken?" - "Wohl gar nicht", räumte Edith ein.

"Gibt es denn hier überhaupt keine Kamele?", wollte Doro wissen. "Ich habe jedenfalls noch nie eines gesehen. Bei uns auf dem Hof laufen aber eine Menge Kühe herum, die auch ganz schön riesig sind. Vielleicht könnten wir dich in der Herde unterbringen?", überlegte Edith laut.

"Haben diese Kühe auch so schöne Höcker wie ich?" - "Nein, du wärst dann die einzige 'Kuh' mit Höckern, aber das ist ja nicht schlimm, denke ich."

"Ich weiß nicht, vielleicht wollen sie mich gar nicht, weil ich nicht so aussehe wie sie?" - "Quatsch, die sind viel zu gutmütig, vielleicht ein wenig neugierig", erklärte Edith. "Gut, dann lass uns aufbrechen", Doro beugte ihren Kopf nach vorn und stand behäbig auf.

"Boah, du bist ja noch viel riesiger als ich dachte!", staunte Edith, "kannst du mich dort oben überhaupt hören?", brüllte sie zu Doro hinauf. "Ja, ich bin ja nicht schwerhörig, du brauchst nicht so zu schreien. Also, wo geht 's nun längs zu deinem Hof?" Das Kamel wußte nicht, was ein Hof ist und kannte auch keine Kühe, aber es vertraute der Gans und so würde es sich überraschen lassen. Edith watschelte eilig voraus und Doro folgte ihr.

"Am besten ist es, wenn wir durch den Wald gehen, denn das ist der kürzere Weg." Kaum gesagt, trippelte Edith auch schon mit raschen Gänsefüßen auf den Wald zu. "Ich glaube nicht, dass ich da hineinpasse." Doro blickte bekümmert drein.

"Na, versuche es doch erst einmal, wer weiß, vielleicht geht 's ja doch", ermunterte Edith sie. Also näherte sich das Kamel vorsichtig den vielen Bäumen und zwängte sich zwischen die ersten beiden Fichten. Kopf und Hals passten prima hindurch, aber ihr Bauch war zu rund. Dort pieksten die Fichtennadeln in ihr Fell und sie kam nicht mehr weiter, aber auch nicht so einfach wieder zurück. "Was soll ich nur machen, ich stecke fest?"

"Nur nicht bewegen, ganz ruhig bleiben, ich denke nach, ja, ich muss nachdenken. Hab keine Angst, Doro, mir fällt etwas ein", redete Edith hektisch, obwohl sie das Kamel eigentlich beruhigen wollte. Doro ließ den Kopf hängen und schaute die Gans Hilfe suchend an. "Ich hab 's, ich habe eine Idee. Also pass auf. Ich fliege, mit deiner Erlaubnis selbstverständlich, auf deinen Rücken zwischen deine Höcker, und dann stemme ich mich vom Baum ab, gegen deinen Bauch. Der wird an der Stelle dünner und wenn ich laut rufe, gehst du einen Schritt rückwärts. Soweit alles klar? Hast du alles verstanden?", hakte Edith noch mal nach. "Ja, ich denke schon", murmelte Doro unsicher.

Mit wildem Geflatter und Gekreische hob Edith tatsächlich ein Stück vom Boden ab. Sie strengte sich mächtig an, schlug mit ihren Flügeln, doch das half alles nichts - das Kamel war viel zu hoch. Aber so schnell gab die Gans nicht auf. Noch einmal startete sie einen Versuch, und diesmal gelang es ihr, zwischen Doros Höckern zu landen. Völlig aus der Puste japste sie: "Ich muss nur ein wenig verschnaufen, gleich geht 's weiter. - Oh, verflixt noch mal, das ist vielleicht hoch, soweit oben war ich noch nie!"

Edith war ganz begeistert, da sie sich schon ausmalte, wie es sein würde, wenn sie erst richtig allein so hoch fliegen könnte und vielleicht noch viel höher. Sie zappelte und jauchzte vor Vergnügen. Doro wunderte sich über das Gewusel auf ihrem Rücken. "Hey, Edith, was treibst du da eigentlich?"

"Pardon, ich war ganz beeindruckt von mir, ich meine, diese Höhe, oh, Doro, ich muss unbedingt fliegen lernen." - "Ja das verstehe ich, aber wolltest du mich nicht aus meiner misslichen Lage befreien?" - "Oh, ja, natürlich. Also ich rutsche jetzt deinen Bauch hinunter bis zur dicksten Stelle, dann ...", Edith japste, "... alles wie besprochen! Also, bist du bereit?" - "Ja."

Edith führte ihren Plan aus und das war keine leichte Sache. Sie drückte sich mit ihren Füßen vom Baum ab und stemmte sich mit aller Kraft gegen Doros Bauch. Dann schnaufte Edith: "Los, Doro, jetzt langsam zurück ..."

Gerade hatte das Kamel ein Hinterbein für einen Schritt gehoben, als laut kreischend ein Eichhörnchen über die Bäume angeflitzt kam, einen Satz über Doro hinweg zum nächsten Baum machte und sofort weiterraste. Das Kamel wusste nicht, wie ihm geschah, schon folgte mit irrwitziger Geschwindigkeit ein Baummarder genau dem Weg des Eichhörnchens. Doro erschrak dermaßen, dass sie einen riesigen Hopser tat, so dass Edith hinunterplumste, schimpfte und fluchte bis sie plötzlich ganz still war. Doro hatte nur noch den Wunsch zu flüchten, nur weg von diesem Unglücksort. Da aber sah sie die Gans, die völlig schlapp in ein Moosbett gepurzelt war und überhaupt einen ganz jämmerlichen Eindruck machte. Die Sorge um ihre Gefährtin war stärker als ihre Absicht fortzulaufen und so blieb sie einfach still stehen. Längst waren Eichhörnchen und Baummarder über alle Berge und der Wald stand ruhig im Sonnenlicht. Auch die aufgescheuchten Vögel hatten ihr Gelärme eingestellt und zwitscherten wieder munter.

Besorgt senkte Doro ihr Haupt, um sich Edith aus der Nähe anzusehen. Vorsichtig stupste sie die Gans mit ihrem weichen Maul an und pustete durch ihre Nüstern in das Gänsegesicht. Da regte Edith sich, drehte ihren Kopf und sah in zwei wunderschöne große Kamelaugen.

Das Kamel beugt sich hinunter zu der im Moos liegenden Gans - Buntstiftzeichnung: © 2015 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2015 by Schattenblick

"Hallo, Doro, du bist frei! Na prima, dann können wir jetzt endlich zum Hof losmarschieren," versuchte es Edith mit einem Aufruf zum Aufbruch. Allerdings klangen die Worte heiser und leise. Doro zweifelte, ob die Gans nach diesem Sturz wirklich schon wieder laufen konnte, behielt ihre Sorge jedoch für sich. "Wie du meinst, Edith, ich bin bereit."

Die Gans rappelte sich auf ihre Füße, tat zwei Schritte, wankte und stolperte, fiel aber nicht um. Dann lachte sie, sah zu Doro hinauf und rief: "Nur keine Sorge, bin gleich wieder ganz die alte ..." Verblüfft blickte Doro zu ihr: "Oh, die alte Gans? Bist du denn wirklich schon alt?" - "Nein, das sagt man nur so, wenn es einem wieder besser geht." - "Ach so."

Fortan gingen sie immer am Waldrand entlang, Edith voran, Doro hinterher, bis sie an eine Koppel gelangten, auf der viele Kühe grasten. Dahinter lag der Hof, auf dem Edith lebte.

Fortsetzung folgt ...

zum 1. Februar 2015


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