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KALENDERGESCHICHTEN/080: 08-2017 - Der kleine Dschinn - Selbstverteidigung ... (SB)



Schweinchen und Maus springen wie im Flug, bedrohlich gefolgt von dem fallenden Märchenbuch - Buntstiftzeichnung © 2017 by Schattenblick

Nach seinem Abenteuer als Lieblingsbecher, der vom Bücherregal geschubst wurde, hatte der kleine Dschinn erst einmal die Nase voll. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig vor dem Zerbrechen retten, indem er sich rasch in ein Märchenbuch verwandelte.

Unentschlossen und ratlos thronte der kleine Dschinn als dickes Märchenbuch immer noch auf dem Bücherregal. Er grübelte vor sich hin und bei genauem Hinhören konnte man ein leises Murren vernehmen, das dem Buch entwich. Als er vor lauter Langeweile das Märchenbuch durchwanderte, geriet er von einer merkwürdigen Begebenheit zur nächsten unglaublichen Geschichte. Das war oft gar nicht komisch, denn er traf auf böse Hexen und Zauberer, auf einen gefräßigen Wolf, einen gierigen Zwerg oder eine neidische, eitle Stiefmutter. Die Königskinder, die nicht zueinander finden konnten, taten ihm Leid wie auch das Schneewittchen, das einen vergifteten Apfel aß, oder Aschenputtel, dem von seinen Stiefschwestern übel mitgespielt wurde. Der kleine Dschinn hörte mit seiner Märchenwanderung auf und beschloss, dass er auf keinen Fall in einem Märchen vorkommen wollte!

"Nun", dachte der kleine Dschinn, "warum bin ich eigentlich so traurig? Ich kann mir doch alles wünschen, oder? Also wünsche ich mir jetzt einfach jemanden, der mich lieb hat. Warum bin ich da nicht früher drauf gekommen?" Mit diesem Gedanken fasste er wieder neuen Mut. Noch immer stand er im Bücherregal als dickes Märchenbuch und überlegte gerade, wen und was er sich denn genau wünschen wollte, als eine Maus anfing, genüsslich an ihm zu knabbern.

"Hey, was fällt dir ein, du tust mir weh, verdammt!", schrie der kleine Dschinn. Die Maus erschrak und plumpste auf ihr Hinterteil. Mit kugelrunden Mäuseaugen starrte sie auf das Buch, an dessen Ecke sie sich zu schaffen gemacht hatte. Eigentlich hätte sie lieber Schokolade oder Brot gefressen, aber weit und breit war davon in diesem Haus nichts zu finden. Alles war fein säuberlich in Kästen und Dosen verschlossen.

Die Maus kannte wirklich schon viele Geschichten aus der Mäusewelt. Ihre Großmutter schmückte die Geschehnisse von einst wortreich aus und die kleine Maus lauschte stets aufmerksam und neugierig. Deshalb war sie sich auch ganz sicher, nie etwas von fluchenden Büchern gehört zu haben. Was nun? Wie verhält sich Maus gegenüber einem solchen Wunderding? Schließlich fiel ihr nichts besseres ein, als ein "Oh, tut mir Leid" zu flüstern.

"Das ist ja wohl das mindeste, ich meine, stell' dir mal vor, ich würde in dein Ohr beißen", schimpfte der kleine Dschinn. Die Maus prustete los, sie lachte und japste und kugelte sich. Der kleine Dschinn staunte. Mit einem solch merkwürdigen Verhalten wusste er überhaupt nichts anzufangen. "Was hast du, warum lachst du so komisch? Ist dir nicht gut?", erkundigte er sich unsicher, denn die Maus hörte einfach nicht auf zu lachen."

Etwas außer Atem piepste sie schließlich ein paar mal und bemühte sich dabei ruhig zu werden. Sie blickte ungläubig auf das Buch und sprach wohl eher mit sich selbst: "Nein, also Lieschen, was du dir auch alles einbildest, ein schimpfendes Buch, nein, ist das komisch! Mag sein, dass das der Hunger ist, der mir solche Trugbilder vorgaukelt." Kaum hatte sie so gesprochen, als sie auch schon einen weiteren kräftigen Biss in das Papier des Märchenbuchs tat.

"Hör auf, jetzt reicht 's mir aber, sehe ich etwa aus wie ein Brot?", brüllte der kleine Dschinn, denn angefressen werden schmerzt doch sehr. Er beschloss, sich sofort zu verwandeln, denn diese kleine Maus schien doch sehr hungrig zu sein, wer wußte schon, was sie als nächsten vorhätte. Da ihm so schnell nichts einfiel, nahm er wieder die Gestalt des Schweinchens an. Aber, oh weh, daran hatte er nicht gedacht. Das Regal krachte unter seinem Gewicht von der Wand, die Bücher polterten hinterher und veranstalteten einen Riesenlärm. Jetzt musste er schnell handeln. "Bloß schnell weg von hier", dachte er und wünschte sich an irgendeinen kühlen, dunklen Ort.

"Das war knapp, so ein Unglück und wir haben es überlebt!", freute sich die Maus. Der kleine Dschinn grunzte. Er versuchte sich erst einmal zurecht zu finden. Wo war er überhaupt. Im Schummerlicht erblickte er viele Bänke, bunte riesige Fenster, ein Podest auf dem sich ein klobiger Tisch mit langen Kerzen befand. Und ein Gemälde, ein beeindruckend großes, buntes Bild, nahm den gesamten Platz dahinter ein. "Wo bin ich nur hingeraten", murmelte das Dschinn-Schweinchen.

"Wir sind in einer Kirche, du Dummkopf!", prahlte die Maus, "hast du noch nie eine Kirche gesehen?" Erst jetzt begriff der kleine Dschinn, dass er die Maus mit an diesen Ort gewünscht hatte. Aber wie konnte das angehen? Verdutzt starrte er sie an. "Wie kommst du denn hierher?"

"Na, also, das glaubst du nicht. Das Buch, also dieses wundersame, fluchende Buch, war ganz plötzlich weg! Pah! Du meinst ich spinne, sag 's nur, aber es war einfach fort. Und ich sah nur noch wie ein Schweinchen gefolgt von purzelnden Büchern zu Boden stürzte - und ich mittendrin. In meiner Not sprang ich auf das fliegende Schwein und - da bin ich nun!", schloss die Maus ihren Bericht, schnäuzte sich ihr Näschen und reckte sich würdevoll in die Höhe, um noch hinzuzufügen: "Übrigens, du siehst genauso aus wie dieses Schweinchen!"

"Natürlich sehe ich genauso aus! Weil ich es bin, ebenso wie ich das Buch war", regte sich der kleine Dschinn über die angeberische Maus auf. Zu spät merkte er, dass er nahe daran war, sein Geheimnis zu verraten.

"Willst du mich auf den Arm nehmen, mich verspotten, du dämliches Schweinchen, so dumm, dass du nicht einmal ein Kirche erkennst, willst mir einen Bären aufbinden!", empörte sich die Maus.

Jetzt reichte es dem kleinen Dschinn. Diese Maus gebärdete sich wirklich ziemlich frech und überheblich. Er überlegte kurz, ob er ihr sagen sollte, dass er ein Dchinn sei oder lieber nicht. Sie würde ihn mit Sicherheit nicht lieb haben und schon gar nicht würde sie ihn in sein Dschinn-Zuhause begleiten. Aber plötzlich hatte er eine ganz andere Idee, die ihn mit Schadenfreude erfüllte. Vor der übermütigen Maus saß, wie aus dem Nichts heraus, statt des Schweinchens ein grimmig fauchender dicker Kater.

"Hilfe!", schrie die kleine Maus und ergriff so blitzgeschwind die Flucht, dass der kleine Dschinn nur noch die Spitze ihres Mäuseschwänzchens um die Ecke verschwinden sah. Nun saß er da als dicker Kater und war seinem Ziel, wieder ins Dschinn-Zuhause zurückkehren zu dürfen, keinen Schritt näher gekommen. "Ach ja, ich wollte mir doch, bevor mich die freche Maus angeknabbert hatte, einfach jemanden wünschen, der mich lieb hat, ja, genau, denn ich bin ein Dschinn und kann mir alles wünschen!", erinnerte er sich. Doch war er inzwischen sehr müde geworden. Das viele Verwandeln kostete Energie. Als Kater suchte er sich unter einer Kirchenbank ein geschütztes Plätzchen, um dort in aller Ruhe ein Nickerchen zu halten. Dann wollte er mit neuen Kräften und frischem Mut weitersehen ...

Weitere Abenteuer des kleinen Dschinn folgen ...


zum 1. August 2017


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