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ARCHITEKTUR/039: Die innovative Architektur der Karolinger (RWTH Themen - TH Aachen)


RWTH THEMEN 01/2012 - Sommersemester 2012
Berichte aus der rheinisch-westfälischen Technischen Hochschule Aachen

Die innovative Architektur der Karolinger
Perspektiven einer interdisziplinären Pfalzenforschung in Aachen

von Judith Ley und Marc Wietheger



Aachen war einst die bedeutendste Pfalz im karolingischen Reich. Ab der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts überwinterte hier immer häufiger der königliche Hof, wurden die großen Festtage begangen und Gesandte aus aller Welt empfangen. Der hohe machtpolitische Rang Aachens lässt vermuten, dass die Pfalzarchitektur nicht nur den Erwartungen der weitgereisten, hochrangigen Gäste entsprechen musste, sondern auch gemäß den besonderen Ansprüchen des karolingischen Hofes entwickelt wurde. Es ging hierbei gleichermaßen um die Konzeption zeremonieller Raumprogramme, die gezielte Aussagekraft der architektonischen Formensprache wie auch die Entwicklung neuer baukonstruktiver Lösungen.

Neben der Pfalzkirche, dem heutigen Aachener Dom, gibt es noch weitere, weniger bekannte Überreste der in Stein errichteten Pfalzbauten. So steht das Rathaus der Stadt Aachen auf den Grundmauern der Regierungshalle Karls des Großen, an deren Ostseite sich der so genannte Granusturm erhob. Wie auch von anderen archäologisch fassbaren Gebäuden der Pfalz ist nicht bekannt, welche Funktion dieser Turm übernommen hat. In den historischen Quellen werden hingegen zahlreiche weitere Bauten im Pfalzbereich benannt, deren Lage bisher aber nicht näher zu bestimmen ist.

Entgegen der augenscheinlichen Bedeutung und Größe der Aachener Pfalz im frühen Mittelalter gibt es demnach hinsichtlich ihres Aussehens, den funktionellen Zusammenhängen und dem architektonischen Konzept der Anlage bis heute nur Spekulationen. Defizite aus wissenschaftlicher Sicht sind die fehlende Dokumentation der erhaltenen originären Bausubstanz sowie die unzureichende Aufarbeitung der Befunde aus den Altgrabungen und der überlieferten schriftlichen Quellen. Im Rahmen einer umfangreichen Forschungszusammenarbeit von mehreren RWTH-Lehrstühlen mit dem Denkmalamt der Stadt Aachen sowie der Stadtarchäologie sollen in den nächsten Jahren diese Forschungslücken aufgearbeitet werden.

In einer Kooperation der Lehrstühle für Denkmalpflege und Baugeschichte erfolgt eine genaue Dokumentation des Baubestandes der profanen Pfalzbauten mit modernen Bestandserfassungsmethoden. Für diese Dokumentation stehen Mittel aus dem von Bund und Stadt Aachen geförderten "Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten" zur Verfügung. Zum anderen fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das Projekt "Die Aula Regia in Aachen - Karolingische Königshalle und spätmittelalterliches Rathaus", das die Analyse und bauhistorische Einordnung der mittelalterlichen Baubefunde zum Ziel hat. Um die unmittelbare Vergleichbarkeit der neuen Dokumentationsergebnisse innerhalb der gesamten Pfalz zu gewährleisten, orientieren sich diese Aufnahmen an den durch den Landschaftsverband Rheinland und die Aachener Dombauhütte von 2000 bis 2006 durchgeführten restaurierungsbegleitenden Untersuchungen der Pfalzkirche. Die Forschungsarbeiten werden zudem vom Rathausverein maßgeblich unterstützt.

Die Aufarbeitung der Altgrabungen und der schriftlichen Quellen übernimmt der Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, ebenfalls mit Mitteln aus dem Investitionsprogramm. Vor dem Hintergrund der neuen Forschungsergebnisse werden die schriftlichen Quellen abschließend im "Repertorium der deutschen Königspfalzen" analysiert.

Abgestimmt wird dieser fachübergreifende Wissenstransfer im Arbeitskreis Pfalzenforschung. Ein Produkt dieser Zusammenarbeit wird ein dreidimensionales Computer-beziehungsweise Datenmodell (GeblS) der Pfalz sein, das erstmals den erhaltenen Baubestand gebäudechronologisch einordnet und die archäologischen Befunde und Archivalien räumlich verortet.

Die jüngsten bauhistorischen Untersuchungen konzentrierten sich zunächst auf den Granusturm. Die neu erstellten Pläne zeigen, dass der Turm in seinem Inneren eine komplexe räumliche Struktur aufweist: In den unteren vier Geschossen aus karolingischer Zeit führen tonnengewölbte Treppenaufgänge um quadratische, von Klostergewölben überspannte Innenräume. Dies erfolgt jedoch weder in einer regelmäßig fortlaufenden Spirale noch über gleich hohe Geschosse. Wie bereits erwähnt, ist die ursprüngliche Funktion dieses ungewöhnlichen Turmes nicht bekannt. Durch die jüngste Vermessung wurde jedoch deutlich, dass für die Errichtung der Treppengänge der meiste Aufwand betrieben wurde: Das angenehme Steigungsmaß und die bequeme Treppenbreite sowie schmückende Säulen und eine gezielte Belichtung unterstreichen die bedeutende Funktion dieses ersten repräsentativen Treppenhauses nördlich der Alpen.

Wie die Pfalzkirche zeigt auch der Granusturm, dass beim Bau der Pfalz in Aachen die Idee des römisch-byzantinischen Monumentalbaus mit der kleinräumigen Zellenbauweise der germanischen Architekturtradition verbunden wurde. Das bedeutet, dass nun nicht mehr wie in der Antike alle Gebäudeabschnitte zu einem großen Einheitsraum verschmolzen, sondern die einzelnen Raumabschnitte klar voneinander abgegrenzt wurden. Der Granusturm ist somit nicht, wie bei byzantinischen Treppenhäusern üblich, mit einer gleichmäßig aufsteigenden Treppe errichtet worden, sondern mittels der unterschiedlich hohen, verschließbaren Innenräume sowie den Wechseln in der Drehrichtung der Treppen in einzelne Turmabschnitte unterteilt. Es handelt sich gewissermaßen um mehrere kleine Treppenhäuser, die aufeinandergesetzt wurden, um die unterschiedlichen Geschosse der an ihn an grenzenden Gebäudeteile miteinander zu verbinden beziehungsweise. wie eine Schleuse voneinander abzuriegeln.

Die Pfalz in Aachen ist aber nicht nur ein Schlüsselbau für die Entwicklung einer neuen, mehrere kulturelle Traditionen miteinander vereinenden europäischen Formensprache, sondern markiert auch den Übergang des monumentalen Steinbaus von der Antike zum Mittelalter. Der Vergleich von Granusturm und Pfalzkirche zeigt, dass die Bauweise der Pfalzgebäude einer einheitlichen Konzeption entstammt, welche die Kenntnis antiker Bautechnik am Hof Karls des Großen voraussetzt und diese an die neuen Raumvorstellungen der Karolinger schrittweise anpasst. Beispielsweise wurden die Gewölbe in beiden Bauten auf einer Holzschalung gegossen und bestehen zumeist aus einem leichten grobporigen Gestein - eine Bautechnik, die noch heute an römischen Bauwerken in Köln zu beobachten ist. Neu scheint jedoch der Einsatz von hölzernen und eisernen Ringankern, die dazu dienten, die Außenwände zu stabilisieren, solange der Mörtel noch nicht abgebunden hatte beziehungsweise um die Schubkräfte der Gewölbe aufzunehmen. Diese Bautechnik ist auf die gewünschte zellenartige Raumwirkung ausgerichtet und unterscheidet sich daher von den bekannten antiken Gewölbekonstruktionen.

Wie die Architektur des Granusturms zeigt, experimentierten die Karolinger auf der Suche nach neuen Diktionen mit bekannten Bauformen und baukonstruktiven Lösungen, indem sie am Aachener Hof Erfahrungen aus unterschiedlichen Kulturkreisen miteinander in einer neuartigen Architektur verbanden. Einige dieser experimentellen Ideen - wie die des repräsentativen Treppenhauses - gingen im Hochmittelalter wieder verloren, was oftmals das Verständnis für die karolingische Architektur erschwert. Die innovative Architektur der Karolinger mit ihren zum Teil bis heute gültigen neuen Repräsentations- und Raumvorstellungen war jedoch wegweisend für die Entwicklung der europäischen Architektursprache.


Autoren:
Dr.-Ing. Judith Ley und Dipl.-Ing. Marc Wietheger sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Baugeschichte und am Lehr- und Forschungsgebiet Denkmalpflege.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

  • Bild 1: Architekturstudierende vermessen den Granusturm 2008.
  • Bild 2: Das Forschungsteam bei der Dokumentation im Marienturm.
  • Bild 3: Studentisches Aufmaß des Granusturms, Ost-West-Schnitt und Grundrisse der karolingischen Geschosse.
  • Bild 4: Treppenaufgang im Granusturm.
  • Bild 5: Innenraum im Granusturm.
  • Bild 6: 3D-Scan des ersten Obergeschosses des Granusturms.

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Quelle:
Wissenschaftsmagazin RWTH THEMEN 01/2012, Seite 14-18
Herausgegeben im Auftrag des Rektors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2012