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MELDUNG/030: Städel Museum stellt bislang unbekanntes Kirchner-Gemälde vor (Städel Museum)


Städel Museum - 6. Juli 2010

Städel Museum stellt bislang unbekanntes Kirchner-Gemälde vor

Bedeutender Fund für die kunsthistorische Forschung

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) - Szene im Wald (Moritzburger Teiche), 1910 - Öl auf Leinwand, 78 x 89 cm - Städel Museum, Frankfurt am Main

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938)
Szene im Wald (Moritzburger Teiche), 1910
Öl auf Leinwand, 78 x 89 cm
Städel Museum, Frankfurt am Main

Im Rahmen der Vorbereitungen zur aktuellen Retrospektive von Ernst Ludwig Kirchner im Städel Museum ist ein Gemälde aus dem Depot des Museums in den Fokus geraten, das nun von renommierten Kirchner-Experten eindeutig Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) zugeschrieben werden konnte. Bislang war das Bild der Kirchner-Forschung völlig unbekannt. Die aus Kirchners Dresdner Brücke-Zeit (1905-1911) stammende Leinwand zeigt auf der Vorderseite eine Szene im Wald (Moritzburger Teiche), auf der Rückseite einen Akt im Atelier. Beide Bilder datieren vermutlich aus dem Jahr 1910. In den nächsten Monaten soll das Gemälde beidseitig konserviert und die Rückseite umfangreich restauriert werden, bevor es dann zur Neueröffnung des Städel Museums im Herbst 2011 erstmalig in die Sammlungspräsentation aufgenommen werden wird.

Die Vorderseite "Szene im Wald (Moritzburger Teiche)" dürfte im Zusammenhang mit einem der Ausflüge der Brücke-Künstler an die unweit von Dresden gelegenen Moritzburger Teiche 1910 entstanden sein. Bekannt ist die dargestellte Szene bereits durch Erich Heckels Gemälde Gruppe im Freien (Privatbesitz) und Max Pechsteins Gemälde Szene im Wald (Privatbesitz), die eine verblüffende Ähnlichkeit aufweisen. Bislang wusste man zwar, dass auch Kirchner an dem Ausflug teilnahm - ein mit Heckels oder Pechsteins Arbeit vergleichbares Werk lag jedoch nicht vor. Das Gemälde ist auf der Vorderseite (unten links) signiert und datiert: "E L Kirchner 08". Wie häufig bei Kirchner erfolgten Signatur und Datierung aber zu einem späteren Zeitpunkt - vermutlich hat der Künstler das Gemälde Anfang der 1920er-Jahre großflächig überarbeitet und in diesem Kontext nachträglich signiert. "Die Signatur", so Stephan Knobloch, Leiter der Gemälderestaurierung im Städel Museum, "liegt eindeutig auf der späteren, von Kirchner selbst durchgeführten Überarbeitung aus den 1920er-Jahren. Damit wird ein weiteres Mal offenkundig, dass Kirchner seine Gemälde vordatiert hat." Mithilfe von Infrarotaufnahmen ließen sich nicht nur Kirchners Übermalungen deutlich erkennen, sichtbar wurde auch, dass etwa das in der Hängematte sitzende Mädchen ursprünglich ein spitz zulaufendes Gesicht hatte: ein typisches Stilelement für Kirchners Darstellungen der späten Dresdner Brücke-Zeit um 1910.

Ein kunsthistorischer Glücksfall ist auch der Akt auf der Rückseite der Leinwand. Das unsignierte und später nicht überarbeitete Werk zeigt ein nacktes Modell in Kirchners Dresdner Atelier. Deutlich zu erkennen sind mehrere von anderen Kirchner-Gemälden bekannte Utensilien wie eine Sitzbank mit einem geschnitzten Frauenakt als Lehne und zwei figürliche Hocker. Das ebenfalls 1910 entstandene Bild reiht sich in die prominente Werkgruppe früher Aktdarstellungen Kirchners ein und stellt für die kunsthistorische Forschung aufgrund der Qualität und der Tatsache, dass es im Gegensatz zu vielen anderen Werken keine spätere Überarbeitung erfahren hat, einen bedeutsamen Fund dar.

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) - Akt im Atelier, 1910 - Öl auf Leinwand, 89 x 78 cm - Städel Museum, Frankfurt am Main

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938)
Akt im Atelier, 1910
Öl auf Leinwand, 89 x 78 cm
Städel Museum, Frankfurt am Main

Um in der Frage der Zuschreibung und Datierung Eindeutigkeit zu erlangen, haben namhafte Kirchner-Experten das Werk im Auftrag des Städel Museums untersucht. Zu den konsultierten Experten zählen u. a. Dr. Wolfgang Henze (Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern), Dr. Karin Schick (Direktorin, Kirchner Museum Davos), Dr. phil. h. c. Eberhard W. Kornfeld (Galerie Kornfeld, Bern), Dr. Lucius Grisebach (Kurator und Kirchner-Experte, Zürich/Berlin), Heide Skowranek (Dipl.-Restauratorin und Koordinatorin des BMBF-Forschungsverbundprojekts "Keiner hat diese Farben wie ich - Studien zur Maltechnik Ernst Ludwig Kirchners", Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart) sowie Dr. Felix Krämer (Kurator der Kirchner-Retrospektive und Leiter der Gemälde- und Skulpturensammlung 19. Jahrhundert und klassische Moderne) und Stephan Knobloch (Leiter der Gemälderestaurierung) aus dem Städel Museum. Alle Wissenschaftler haben das Werk eindeutig Ernst Ludwig Kirchner zugeschrieben.

"Die Leinwand des Städel", so Dr. Lucius Grisebach, "gehört zu der Gruppe von Bildern, die Kirchner innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums von drei bis sechs Monaten doppelseitig bemalt hat, beginnend mit der Szene im Wald, gefolgt von der Rückseite mit dem Akt im Atelier. Zu einem späteren Zeitpunkt, Anfang der 1920er-Jahre, erfolgte schließlich die Übermalung, oder wie Kirchner es nannte, "Restaurierung", der Vorderseite mit der Darstellung der Szene im Wald." Restauratorin Heide Skowranek führte aus, dass vor allem die Übermalung für die Urheberschaft Kirchners spricht. "Typisch sind", so Skowranek, "die Art des Farbauftrags sowie die angedeuteten Konturen, die in der Übermalung durch Farbflächen überdeckt werden." Für Dr. Wolfgang Henze ist die Entdeckung des Gemäldes "ein wichtiges Missing Link in der Entwicklungsgeschichte des Kirchner-Werks. Sowohl auf der Vorder- wie auch auf der Rückseite finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an Kirchner-Werke aus der Zeit um 1910 bzw. Hinweise auf seine Überarbeitungspraktiken."

Wie und wann das Gemälde "Szene im Wald (Moritzburger Teiche)/Akt im Atelier" in die Sammlung des Städel gelangte, ist bis heute unbekannt. In den Archiven des Städel konnten keinerlei Dokumente gefunden werden. Das Werk taucht auch weder im Kirchner-Werkverzeichnis auf, noch finden sich im umfangreichen Kirchner-Nachlass (Korrespondenzen, Tagebucheinträge, Postkarten etc.) Spuren oder Hinweise darauf. Zu vermuten ist, dass es sich seit den 1930er-Jahren in den Depots des Städel Museums befindet. Da es intern als Fälschung galt, wurde es nie einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Im Zuge der Vorbereitung der Kirchner-Retrospektive wurde Felix Krämer auf das Bild aufmerksam. Seine besondere Achtsamkeit erregte die Darstellung des Aktes im Atelier: "Das attraktivere Werk befindet sich auf der Rückseite. Diese Tatsache sprach von Beginn an gegen eine Fälschung. Die Annahme, dass es sich um ein Original Kirchners handelt, wurde durch die Infrarotaufnahme bestärkt. Unter der oberen Malschicht kamen Details zum Vorschein, die Kirchners Werken der Dresdner Brücke-Zeit entsprechen", so Dr. Felix Krämer. Das Städel erhofft sich, mit der Diskussion über das Werk zur Klärung der noch offenen Fragen beizutragen. "Mit der Untersuchung des Gemäldes", so Max Hollein, Direktor des Städel Museums, "konnten wir in einem ersten Schritt die Frage der Zuschreibung beantworten. Damit ist der Forschung ein wichtiges Gemälde Kirchners zugänglich gemacht worden. Darüber hinaus werden wir alle Spuren verfolgen, die sich durch die Veröffentlichung des Werkes erschließen könnten, um dessen Entstehungsgeschichte und Provenienz zu klären."


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Quelle:
Pressemitteilung "Kirchner-Gemälde" vom 6. Juli 2010
Städel Museum, Städelsches Kunstinstitut
Dürerstraße 2, 60596 Frankfurt am Main
Telefon: 069 605098 0, Telefax: 069 605098 111
E-Mail: info@staedelmuseum.de
Internet: www.staedelmuseum.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2010