Schattenblick →INFOPOOL →KUNST → REPORT

INTERVIEW/001: Adrienne Goehler, Kuratorin der Ausstellung "zur nachahmung empfohlen!" (SB)


Interview mit Adrienne Goehler am 9. September 2011 in Hamburg


Die Berliner Publizistin und Kuratorin Adrienne Goehler hat einen Gutteil ihres Lebens in Hamburg verbracht. Sie hat in der Hansestadt Psychologie studiert, saß als Mitglied der GAL in der Hamburgischen Bürgerschaft und war zwölf Jahre lang Präsidentin der Hochschule für bildende Künste. Derzeit gastiert die von ihr kuratierte Ausstellung "zur nachahmung empfohlen!" in der Hamburger HafenCity. Nach der Führung durch die Ausstellungsräume beantwortete Frau Goehler dem Schattenblick einige Fragen.

Adrienne Goehler  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Adrienne Goehler
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Frau Goehler, die Ausstellung ist auf ganz konkrete gesellschaftliche Aussagen ausgerichtet. Hat es die Kunst nötig, in dieser Form aktiv zu werden und gesellschaftlich Position zu beziehen?

Adrienne Goehler: Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Ausweitung des gesellschaftlichen Resonanzraumes der Kunst. Die Kunst ist schließlich kein homogenes Gebilde, sondern bündelt unfaßbar viele Auffassungen. Ich habe über lange Zeit beobachtet, daß immer mehr Künstler zur Ansicht gelangen, sich mit ihrer Arbeit und ihren spezifischen Mitteln in die Gesellschaft einzubringen. Es kann also nicht darum gehen, daß die Kunst etwas ersetzt, was die anderen nicht machen, sondern mit visuellen und starken Handlungskonzepten in einen Zustand einzugreifen, den wir alle für veränderungswürdig oder veränderungsnötig halten.

SB: Wo verorten Sie den Unterschied zwischen einer künstlerischen Präsentation und einer Umweltinitiative? Es gibt, etwa zur Saatgutproblematik, ja eine konkrete Debatte. Meinen Sie, daß die Kunst dem Publikum einen anderen Blickwinkel auf das Thema eröffnet?

AG: Es ist ein anderer und hochsinnlicher Einstieg in dieses Thema. Ich habe jetzt viel Erfahrung mit dieser Ausstellung gesammelt und kann sagen, vielen Menschen war überhaupt nicht bekannt, daß es eine solche Vielfalt in der Natur gibt und Monsanto gegenüber dieser Pluralität nur sechs resistente Weizensorten besitzt.

SB: Versprechen Sie sich von der Ausstellung, ein anderes Publikum zu erreichen als sich üblicherweise mit diesen Themen beschäftigt?

AG: Ich weiß, daß ich ein anderes Publikum erreicht habe. Deswegen gehe ich auch gerne an Orte, von denen ich sagen würde, sie sind nicht in erster Linie White-Cube-Orte. Wir waren auch mit großem Erfolg und großem Vergnügen im Kunstverein, aber ich liebe es, auch Orte zu finden, die nicht diese Zugangsschwelle, von der wir immer wissen, daß sie existiert, haben. Ich habe das durchaus beabsichtigt, und es hat wirklich funktioniert, daß man sie mischt.

SB: Sind sie der Ansicht, daß man den Kunstbetrieb aus seinem relativ selbstbezogenen Rahmen heraus gesellschaftlich verallgemeinern kann?

AG: Ja, es ist feststellbar und sehbar, und es gibt wirklich sehr viele Künstler, für die das eine wunderbare Idee ist, sich nochmal anders zu verorten und als Teil einer kritischen Masse zu verstehen, die dringend nach Alternativen zu den herkömmlichen, nicht funktionierenden Lösungen sucht.

SB: Inwiefern steht Ihre jetzige Arbeit im Zusammenhang mit ihrem Buch "Verflüssigungen" von 2006, in dem Sie einen Entwurf zur Deutung der Kunst im gesellschaftlichen als auch wirtschaftlichen Sinne verfaßten?

AG: Es ist für mich natürlich ein Beispiel dafür, daß es wirklich um diese Art der Veränderung gehen muß. Das ist ja gerade das Interessante, daß man sich Nachhaltigkeit nicht ohne Zusammenwirken vorstellen kann. Man kann diese Dinge nicht dem Umweltressort überlassen. Das ist einfach Unsinn. Wir brauchen schlichtweg unterschiedliche Konzepte und ganz neue Ideen, die nur aus Forschungszusammenhängen pluraler Natur kommen können, in denen natürlich auch Künstler vertreten sind. Und ich finde, daß da nachvollziehbar gute Ansätze herauskommen. Die Klimaerwärmung auf eine so sinnliche Weise deutlich zu machen, in der auch immer Poesie mitschwingt, das finde ich total wichtig.

SB: Haben Sie ein Konzept, das Ästhetik anders begreiflich macht als ein sinnliches oder kognitives Attribut?

AG: Ästhetik würde ich niemals als ein Attribut verstehen, sondern es ist eine Herangehensweise und Haltung, in der das Ästhetische durch alle Sinne wahrgenommen wird. Das ist etwas, was wir dringend in dieser Debatte um Nachhaltigkeit brauchen.

SB: Wir leben in einem Zeitalter - manche nennen es kognitiver Kapitalismus -, in dem ein immer größerer Teil der Produktivität auf wahrnehmungsgestützte, sogenannte immaterielle Produktionsweisen entfällt. Wo würden Sie die Kunst plazieren, wenn der kulturelle Mainstream ohnehin auf sinnlichen und kognitiven Bahnen verläuft?

AG: Ich glaube, es gibt immer noch eine unglaubliche Trennung zwischen dem Sinnlichen und dem Kognitiven. Deswegen beschreibe ich in meinem Buch auch den Entwurf einer Kulturgesellschaft, nicht einer Wissensgesellschaft, weil letztere eigentlich wieder auf die Kognition zielt, wogegen die Kulturgesellschaft das Zusammenspiel der drei Einheiten des Geistes, nämlich Körper, Seele und Wahrnehmung, anspricht.

SB: Der Anspruch der Wissensgesellschaft betrifft im wesentlichen die Erwirtschaftung produktiver Fähigkeiten. Worin unterscheidet sich davon eine Kulturgesellschaft, wenn sie ihrerseits nicht unabhängig von ökonomischen Zusammenhängen existieren kann?

AG: Eine Gesellschaft, die sich nicht als Sozialstaat definiert, ist eine Kulturgesellschaft. Es ist höchste Zeit, daß wir in einem Land wie der Bundesrepublik, das über keinerlei Rohstoffe und Bodenschätze verfügt, endlich erkennen, daß das einzige, was wir haben, unsere Kreativität und schöpferischen Fähigkeiten sind, die in einer Gesellschaft gepflegt werden müssen. Es ist also nachgerade unökonomisch, wenn man die Ressourcen, die man zur Verfügung hat, so schlecht behandelt. Kreativität ist eine Ressource, die nachwächst, wenn man sie gut behandelt. Wir reden über Bildung, über soziale Netzwerke, über Zusammenleben und Stadtentwicklung, darüber, was uns krank macht und was uns gesund hält, das ist ein sehr umfassendes Konzept und nicht einfach nur eine Art, in dieser Welt zu existieren, sondern um mit den eigenen Kräften und dem eigenen Vermögen etwas bewirken zu können. Das interessiert mich.

SB: Sie greifen mit den Exponaten, die Sie vorgestellt haben, durchaus kontroverse Themen auf, bei denen es zum Beispiel um Krieg oder die Ausbeutung der Natur geht. Wo verorten Sie das Potential zu einer Gegenbewegung, die notwendigerweise entstehen müßte, da es nicht damit getan ist, das Problem zu adressieren, um im Endeffekt eine grundlegende Veränderung dieser zerstörerischen Produktionsweise zu erreichen?

AG: Nun verkenne ich nicht, daß eine Ausstellung nicht dazu geeignet ist, die Welt komplett zu verändern. Ich glaube jedoch, so wie die Arbeit von Christin Lahr einen homöopathischen Umgang mit der Schuldenkrise darstellt, daß diese Ausstellung so etwas wie ein "Aha" auslöst. Es geht ja immer auch darum, daß man selber die Verantwortung für das übernimmt, was man tut, und die eigenen Kräfte vielleicht anders bündelt und sich fragt: Was kann ich tun, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen? Ich glaube, das ist uns gelungen. Mit der Ausstellung sagen wir im Grunde, es muß zu einem Gespräch zwischen Künstlern und Wissenschaftlern kommen. Petra Maitz hat mit ihrem Korallenriff natürlich mit unglaublich vielen Wissenschaftlern zusammengearbeitet, und wenn man dann versteht, daß Korallen von einer unfaßbaren Buntheit sind, aber die Umwelteinflüsse dafür sorgen, daß sie nur noch weiß werden, berührt das Dinge, die wirklich tief in die Sinnlichkeit hineingehen, und das könnte der Weg sein.

SB: Sie propagieren den Wechsel vom Sozialstaat zu einer Kulturgesellschaft, sind aber als Kulturschaffende durchaus von staatlichen oder anderen Fördermitteln abhängig. Wie bewerten Sie in dem Kontext, daß eine Ausstellung wie diese an die Frage der Finanzierung und darin involvierter Zwänge geknüpft ist, die Rolle der Eigenverantwortung?

AG: Ich sage ja nicht, daß man den Sozialstaat abschaffen müßte. Ganz im Gegenteil setze ich mich zum Beispiel für die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens ein, weil ich der Meinung bin, daß wir ein vollkommen anderes System brauchen. Das alte System funktioniert nicht mehr. Die Ermächtigung zur Selbstermächtigung, daß ich meine eigenen Geschicke in die Hand nehmen kann, läßt sich doch nicht darüber realisieren, daß ich erklären muß, ob ich Verwandte, Bekannte, eine Frau, eine Freundin oder einen Opa habe, die mich ernähren könnten, damit der Staat nicht in die Pflicht genommen wird. Ich finde das menschenunwürdig. Wir brauchen andere Voraussetzungen. Natürlich wird die Kunst nicht ohne öffentliche Förderung auskommen, aber ich könnte mir andere Formen vorstellen. So investieren jetzt viele Menschen in Stiftungen. Angesichts der Herausforderungen, mit denen wir in der Welt konfrontiert sind, wäre es wunderbar und komplett notwendig, wenn wir einen Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit einrichten. So habe ich eigentlich auch einmal angefangen. Ich habe festgestellt, daß alles nur in Subtraktion funktioniert und nicht in Addition. Wir brauchen aber Künstler, Wissenschaftler, Forscher und Erfinder, die sich zusammensetzen und sich der Welt in ihrem katastrophalen Zustand anders annehmen.

SB: Wir stehen kurz vor dem zehnten Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001. Sie haben damals in Berlin als Kultursenatorin eine Veranstaltung gemacht, auf der Sie aufgrund einiger kritischer Äußerungen, wenn ich mich recht erinnere, viel Ärger bekommen oder Kritik geerntet haben. Wie würden Sie ihre damaligen Äußerungen aus zehn Jahre Rückschau heute beurteilen?

AG: Ich würde es genauso wieder sagen. Das stand ja in einem Kontext. Erstmal habe ich klargemacht, daß ich nicht Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur sein kann, wenn die einzige Möglichkeit, mich mit diesem Schrecken auseinanderzusetzen, darin besteht, daß ich in die Kirche laufe. Das kann es nicht sein. Wir müssen eine Sprache finden, und wir sollten das nicht allein den Medien überlassen. Also habe ich Künste, Wissenschaften, Menschen, die sich damit auseinandergesetzt haben und in der Lage sind, den Schrecken des Unfaßbaren zu artikulieren, versammelt.

Neben mir saß ein neuer schutzbefohlener Professor. Ich war damals gerade drei Monate im Amt. Herr Wolfgang Benz, der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung war, hatte mich im Vorgespräch gefragt: Haben Sie auch einen anständigen Beruf oder sind Sie nur Politikerin? Ich erwiderte, ich bin Psychologin. Darauf sagte er, ich habe Sie doch nach einem anständigen Beruf gefragt. Ich habe noch heute eine wunderbare Beziehung zu ihm, aber es war schon so eine kleine kabbelige Situation. Ich habe dann den 11. September als einen Angriff auf die gesamte Körperschaft bezeichnet. Es gab eine militärische Seite, als versucht wurde, das Pentagon anzugreifen. Und es gab eine finanzielle und vor allem auch eine politische Seite. Die Twin Tower stehen für: "Es kann jeden zu jeder Zeit treffen." Das ist ein Anschlag auf alle Sicherungssysteme gewesen. Und dann sagte Herr Benz: Ich will mich ja nicht in Ihren alten Beruf einmischen, aber da gäbe es ja noch eine andere Ebene. Und das mitten in meinen Diskurs hinein! Dann guckte ich ihn so ein bißchen kritisch an und sagte: Naja, wenn Sie es unbedingt so nennen wollen, es hat natürlich auch eine phallische Konnotation. Für die Bezeichnung phallische Konnotation würde ich mich heute noch nicht entschuldigen, weil es absurd ist. Es gab auch nicht furchtbar viel Ärger, nur Henryk M. Broder, dieser kleine böse Mann - Männer unter 1,70 Meter haben ein Napoleon-Syndrom -, hat viel Wind darum gemacht.

SB: Frau Goehler, ich bedanke mich für das Gespräch.

Adrienne Goehler mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Adrienne Goehler mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

15. September 2011