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INTERVIEW/003: Gefesselte Kunst - Alia Rayyan zur Bedeutung kollektiver Erinnerung (SB)


Interview mit Alia Rayyan am 9. Februar 2012 in Berlin


Auf der Konferenz "radius of art" in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin thematisierte Alia Rayyan als Referentin in zwei Workshops ihre Arbeit in Palästina. Sie hat internationale Politik mit Schwerpunkt Nahost, Soziologie und Kunstgeschichte studiert und war in Berlin, Beirut, Dubai, Amman und Ramallah tätig. Seit 2006 lebt und arbeitet sie in Palästina, wo sie verschiedene Projekte für internationale Institute und Stiftungen wie die Heinrich-Böll-Stiftung, UNESCO und GIZ, aber auch lokale Partner wie die Stadt Ramallah, das Khalil Sakakini Culture Center oder die International Academy of Art durchgeführt hat. Mit ihrer Expertise für kollektive Erinnerung unterstützte sie 2011 das "Palestinian Memory Documentation Project - Talbyeh" in Jordanien als Beraterin und Filmemacherin. Am Rande der Konferenz beantwortete Alia Rayyan dem Schattenblick einige Fragen.

Alia Rayyan - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alia Rayyan
Foto: © 2012 by Schattenblick
Schattenblick: Die kollektive Erinnerung insbesondere der Palästinenser zählt zu den Schwerpunkten Ihrer Tätigkeit. Warum ist aus Ihrer Sicht und Erfahrung kollektive Erinnerung so wichtig?

Alia Rayyan: Kollektive Erinnerung wird in unserer gegenwärtigen Welt benutzt, um Nationen zu bilden und aufzubauen, um Identitäten zu schaffen. Jeder Staat baut seine kollektive Erinnerung auf, das ist in Deutschland genauso wie in Frankreich, den USA und in allen möglichen anderen Ländern auch. Man kann die kollektive Erinnerung kritisch sehen, weil es sich natürlich immer um eine Art künstlich erzeugter gemeinsamer Erinnerung handelt. Indessen wissen Soziologen und Politologen, daß ein gewisses Maß an kollektiver Erinnerung erforderlich ist, will man eine Gesamtheit erhalten. Wenn nun ein Volk wie das palästinensische keine Einheit erfahren hat, konnte es sich nicht mit seiner kollektiven Erinnerung befassen. Wie es heißt, schreibt der Sieger die Geschichte, und so ist für die Palästinenser die Geschichte und mithin die Erinnerung von anderer Seite geschrieben worden. Da wir keinen Staat haben und auch keine wirklich offizielle Vertretung, wurde bisher kollektive Erinnerung eher im politischen Sinne betrieben, so daß zwar kollektive Erinnerungen verschiedener politischer Gruppierungen existieren, aber nie eine Gesamtheit. Das ist das eine.

Zum anderen ist das Problem der kollektiven Erinnerung auch in Palästina, daß bislang noch nicht offen darüber gesprochen wird, wie wir mit ihr umgehen. Was bedeutet sie für uns, was ist wichtig, wie können wir sie analysieren? Was nehmen wir uns davon heraus, wer kreiert diese kollektive Erinnerung? Dies konnte, wie gesagt, bisher von staatlicher Seite nicht geleistet werden, weil wir keine Vertretung haben. Es handelt sich eher um die politische Erinnerung jener Parteien, die an der Macht sind und die Erinnerung zu formulieren versuchen. Auf der anderen Seite hat man die Gesellschaft und die Kulturschaffenden, die Teil der Erinnerungsmacher sind, wie Filmemacher oder Schriftsteller, die versuchen, diese Lücke zu füllen, indem sie Erinnerungskultur fördern und in ihre Werke mit einschließen. Das ist sehr wichtig, auch sehr kreativ und förderlich, muß aber gleichermaßen zur Diskussion gestellt werden, weil nicht jeder Film, nicht jedes Buch zwangsläufig kollektiver Erinnerung entspricht, sondern vielleicht eher subjektive Erinnerung ausdrückt und dann auch als solche bezeichnet werden muß.

SB: Wo würde man in diesem Zusammenhang eine Grenze ziehen? Wenn beispielsweise ein Mensch viele schlimme Dinge erlebt hat, Haß gegen seine Peiniger empfindet und dies artikuliert - wäre das eine Aussage, die man publizieren möchte, oder würde man sagen, daß man das nicht teilen kann?

AR: Das ist natürlich immer ein Problem des Journalisten, der dieses Interview geführt hat. Journalisten sind ein wesentlicher Teil der Erinnerungskultur-Schaffenden und der Schaffenden eines Weltbildes wie auch des Bildes einer Nation. Das Bild einer Nation ist natürlich Teil der Erinnerungskultur. Und wie man sich an jemand erinnert, so kann man es auch übertragen. Als ich selbst als Journalistin gearbeitet habe, bin ich immer sehr vorsichtig damit umgegangen. Ich denke, man kann solche Aussagen veröffentlichen, aber im Text. Ich würde so etwas nie als Titel nehmen, weil wir wissen, daß Leute immer den Titel als erstes nehmen, nicht weiterlesen und folglich nicht differenziert genug auf die Thematik eingehen können. Wenn man es in einen Kontext einbettet und klar formuliert, daß es sich um eine subjektive Haltung handelt, kann man so etwas durchaus sagen. Wichtig ist jedoch, daß man die Subjektivität herausstellt.

SB: In welchem Ausmaß können Sie bei Ihrer Arbeit persönlich beteiligt sein? Muß man Objektivität wahren, muß man sagen, ich habe einen Auftrag, bei dem ich beide Seiten berücksichtigen muß, oder kann man sich mit dem Herzen entscheiden und sagen: Das Schicksal der Menschen geht mir so nahe, daß ich für sie Position ergreife?

AR: Bei unserer Arbeit im Flüchtlingslager Talbyeh sagen wir den Menschen nicht, wie sie es zu machen haben, sondern geben ihnen das Werkzeug, um selbst zu erzählen. Ich bewerte auch nicht, was sie inhaltlich daraus machen. Wir haben in unserer Filmschule versucht, nicht nur eine technische Ausbildung zu vermitteln, sondern den Teilnehmern auch einen gewissen kulturellen Hintergrund mit auf den Weg zu geben. Wir haben ihnen sehr viele Filme gezeigt, sie haben einen Ausflug in die Literatur gemacht, sie haben viel über PR gelernt, sie haben eine Menge über Bildkultur erfahren. Auf diese Weise fangen sie an, das ganze etwas komplexer zu erkennen, und dementsprechend verändern sich automatisch ihre Themen wie auch die Art und Weise, wie sie etwas erzählen. Wir erleben dabei sehr spannende Geschichten, die sich meist auf einer sehr persönlichen Ebene abspielen. Dementsprechend hat das nichts mit meiner Meinung zu tun, und ich muß mich auch nicht entscheiden, ob ich objektiv bin oder parteilich. Ich bin nicht diejenige, die das schreibt - ich gebe ihnen das Werkzeug.

SB: Mit welcher Ausrichtung werden die Ergebnisse dieser Arbeit publiziert? Wem sollen sie zugute kommen? Den Beteiligten selber und in welchem Maße auch anderen Leuten?

AR: Natürlich zuerst einmal den Beteiligten selbst. Darüber hinaus sind wir dabei, die Filme an Festivals zu schicken und damit einem internationalen Publikum vorzustellen. Zudem sind eventuell einige arabische Sender interessiert, so daß man auch das arabische Publikum erreichen könnte. Es hat sich bereits über Internetplattformen eine Art Netzwerk herausgebildet, innerhalb dessen diese Filme mit Studenten in den USA ausgetauscht werden. Es geht also wirklich in verschiedene Richtungen.

SB: Könnten diese Filme auch in Deutschland etwas bewegen?

AR: Davon gehe ich aus, weil wir aus Erfahrung wissen, daß in dem Moment, wo etwas persönlich wird und man das nachempfinden kann, die Sache verständlicher wird. Wie ich gestern schon im Workshop gesagt habe, bin ich davon überzeugt, daß man nichts ausschließlich über den Kopf versteht, man muß es auch nachfühlen. Wir können das immer wieder daran ablesen, welche Filme von den Teilnehmern unserer Ausbildung gedreht werden. Jeder Film, der von historischen Ereignissen handelt, bringt uns die Geschichte näher, und da dabei das Bild des anderen viel mit Gefühl zu tun hat, bin ich mir sicher, daß die Filme auch in Deutschland etwas bewirken.

SB: Wir haben im gestrigen Workshop über kollektives Lernen, kollektive Veränderung gesprochen. Da liegt die Frage nahe, ob der Mensch überhaupt individuell lernen und sich verändern kann oder ob das ohne die anderen vielleicht gar nicht möglich ist.

AR: Ich glaube, daß man im Austausch in einer Gruppe stets besser lernen kann, da es ja ein soziales Miteinander ist. Ich kann ein Beispiel anführen: In unserem Projekt legen wir besonderen Wert darauf, daß Frauen und Männer in einer Gruppe zusammenarbeiten. Allein schon der Umgang miteinander in den Pausen leitet eine allmähliche Veränderung ein. Im Kurs selbst war es anfangs fast immer so, daß Männer unterbrochen haben, wenn eine Frau etwas sagte. Das hat sich dann Schritt für Schritt gelegt, bis die Auffassung Raum greifen konnte, daß man gleichberechtigt ist. Das fand ich sehr spannend, weil es kein aufgesetzter Zwang war und wir nicht etwa dahin gekommen sind und Gleichberechtigung eingefordert haben. Wir haben Frauen und Männer einfach in einer gemeinsamen Gruppe zusammengebracht und es ist passiert. Das war für mich auch ein Zeichen dessen, daß viele Dinge durch soziale Strukturen festgefahren sind. Wenn man Menschen einen bestimmten Raum gibt, dann verändern sie sich. Das geht aber nur durch das Miteinander.

SB: Alia Rayyan, vielen Dank für dieses Gespräch.

1. März 2012