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INTERVIEW/039: documenta, Fragen und Kritik - politisches Vakuum ...    Marlis Wilde-Stockmeyer im Gespräch (SB)


Dr. Marlis Wilde-Stockmeyer ist seit 2006 als Stadtverordnete bzw. Stadträtin in der Kommunalpolitik der Stadt Kassel aktiv. Am Rande eines Spazierganges der Kasseler Friedensbewegung im "Parthenon der Bücher", dem zentralen Exponat der documenta 14 auf dem Friedrichsplatz, beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu dem Platzverweis, der zwei Wochen zuvor gegen einen Antikriegsdemonstranten ausgesprochen wurde, und den Zusammenhang zwischen Kassel als Rüstungsstadt und Kassel als documenta Stadt.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Marlis Wilde-Stockmeyer
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Wilde-Stockmeyer, mit welcher Begründung wurde der Demonstrant Hans Eitle dieses Platzes verwiesen, auf dem die documenta derzeit das Hausrecht hat?

Marlis Wilde-Stockmeyer (MWS): Er wurde polizeilich sozusagen als nicht zur documenta gehöriger Künstler aus dem Kunstwerk entfernt. Auf meine Frage, wieso er seine Meinung nicht frei äußern dürfe, wurde entgegnet, daß nichts dagegen einzuwenden gewesen wäre, wenn er als Bürger seine Meinung kundgetan hätte, aber als Künstler hätte man ihn entfernen lassen müssen. Also sind wir heute auf dem Spaziergang alle Bürgerinnen und Bürger mit einer freien Meinung. Deswegen habe ich vorhin auf dem Treffen ausdrücklich betont, daß keiner auf die Idee kommen soll, sich als Künstler auszuweisen oder uns als Kunstwerk zu bezeichnen. So sind wir lauter Einzelwesen, die sich seit langer Zeit mit der Rüstungsschmiede Krauss-Maffei Wegmann beschäftigen. Wir finden, daß dieser Platz hier wunderbar dafür geeignet ist. Es wäre auch schön, wenn die documenta-Leitung im Parthenon Gespräche und Diskussionen initiieren würde.

SB: Also so etwas wie die Agora im antiken Athen?

MWS: Natürlich, und das paßt nun wirklich gut hier rein, zumal auf diesem Platz 1933 verbotene Bücher verbrannt wurden. So gesehen ist es ein historischer Ort, der für kritische Veranstaltungen bestens geeignet ist. Weil die documenta-Leitung jedoch nichts in dieser Richtung unternimmt, machen wir es eben selbst und starten mit Spaziergängen.

SB: Auf der documenta 14 werden von Choristen begleitete Spaziergänge im Rahmen des offiziellen Programms angeboten. Gehört dieser Spaziergang dazu?

MWS: Nein, wir sind kein offizieller Teil der documenta. Wir machen nur einen ganz normalen Sonntagspaziergang und laufen hier herum.

SB: Wenn man wollte, könnte man darin auch eine private Führung durch das Kunstwerk sehen.

MWS: Wie Sie sehen können, ist das alles ziemlich kompliziert.

SB: Die Stadt Kassel ist durch die documenta und Museum Fridericianum GmbH direkt an der documenta beteiligt und zugleich als Kommune von den Steuereinnahmen der Rüstungsbetriebe abhängig.

MWS: Nicht unbedingt abhängig, aber sie hält die Hand gern auf. Allerdings würde der Haushalt nicht zusammenbrechen, wenn es nicht so wäre.

SB: Wird diese Widerspruchslage auf der documenta irgendwie artikuliert?

MWS: Nein, sie wird nicht diskutiert, und genau diesen Widerspruch kritisieren wir ja. Es wird ein enormer Anspruch erhoben. Ich will die einzelnen Kritikpunkte an dieser Stelle nicht aufzählen, aber festhalten, daß es bisher keine einzige Diskussion gab, wo man darauf hingewiesen hat, daß die Panzerschmiede beispielsweise den Leopard-2-Panzer auch in kriegführende Staaten exportiert. Auf der letzten Documenta vor fünf Jahren haben wir hier eine große, sehr ironische Aktion gegen Krauss-Maffei Wegmann gemacht, die mit einer offiziellen Vernissage begann. Da zu dieser Zeit auch die Occupy-Zelte toleriert wurden, wußte die Polizei nicht, ob das zum Programm gehörte oder nicht. So konnten wir unsere Aktion wunderbar durchziehen, und zum Schluß konnte man vom Friedrichsplatz aus lesen: "Herzlich willkommen in der Rüstungsstadt Kassel". Auf dem Transparent war auch ein Leopard-2-Panzer abgebildet. Das war sehr provokant, weil es direkt bei der documenta-Halle und dem als permanente Installation ebenfalls zur documenta gehörenden Rahmenbau stattfand. Hätte die documenta-Leitung damals auf eine Räumung bestanden, wäre das sogar zu verstehen gewesen, aber heute einen einzelnen Menschen entfernen zu lassen, geht gar nicht.

SB: Kommen politische Aktionen außerhalb des documenta-Programmes häufiger vor?

MWS: Bisher hat meines Wissens noch nichts stattgefunden. Das ist jetzt das erste Mal ohne offiziellen Hintergrund.

SB: Alles andere ist demnach in den Ablauf der Ausstellung integriert und wird als Bestandteil der Kultur gesehen?

MWS: Richtig.

SB: Ist die Partei Die Linke im Stadtrat in Fraktionsstärke vertreten?

MWS: Ja, wir haben bei der letzten Kommunalwahl kräftig zugelegt und sind mit sieben Stadtverordneten drin. Als Ehrenamtliches Magistratsmitglied komme ich noch dazu. Das Thema Rüstungsindustrie verfolgt mich, seit ich in Kassel bin. Als ich noch Stadtverordnete war, hatte ich jede Menge Anträge eingebracht, um mich für eine Konversion einzusetzen. Aber es hieß immer, das sei kein Thema für die Stadtverordnetenversammlung - die übliche Ausrede eben.

Beim Stadtjubiläum vor ein paar Jahren sollten die Bürgerinnen und Bürger Projekte vorschlagen. Ich schlug ein Projekt in der Rubrik Wirtschaft vor unter dem Titel "Initiative zum Einstieg in die Rüstungskonversion". Weil die Projekte alphabetisch gelistet wurden, stand "Imagewerbung der IHK" lustigerweise direkt vor meinem Vorschlag. Das war eine Zeitlang auf der Homepage sichtbar, bis es jemand bemerkt hat und mein Vorschlag entfernt wurde. Natürlich war mir von vornherein klar, daß eine Konversion nicht von einem einzelnen Menschen getragen werden kann, weshalb ich in den Projektvorschlag geschrieben hatte, daß die Universität, die Gewerkschaften und die Kirchen gemeinsam einen Einstieg ausarbeiten könnten, aber das war nicht erwünscht. Daraufhin sammelten wir Unterschriften und übergaben diese offiziell. Bei dieser Stadtverordneteversammlung war die Empore voll besetzt. In Kassel ist das wirklich ein Thema.

SB: Die Volkswagenstiftung gehört zu den Sponsoren der documenta. Ist es bei der Linken ein Thema, daß ein Konzern, der so in Verruf geraten ist, hier Kunstförderung betreibt und sich darüber legitimiert?

MWS: Das haben wir nicht in erster Linie diskutiert, weil wir uns jetzt vorrangig auf andere Sachen konzentrieren, aber natürlich könnte man dies in einem solchen Kontext diskutieren.

SB: Frau Wilde-Stockmeyer, vielen Dank für das Gespräch.


Spaziergängerinnen auf den Stufen des Parthenon mit Transparenten - Foto: © 2017 by Schattenblick

Sonntäglicher Spaziergang der Kasseler Friedensbewegung im "Parthenon der Bücher" von Marta Minujín
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zur documenta 14 im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → KUNST → REPORT:

BERICHT/053: documenta, Fragen und Kritik - zähflüssig ... (SB)
BERICHT/054: documenta, Fragen und Kritik - zwiebetracht ... (1) (SB)
BERICHT/055: documenta, Fragen und Kritik - Untiefen rechts ... (2) (SB)
BERICHT/056: documenta, Fragen und Kritik - Januskopf läßt grüßen ... (3) (SB)


2. August 2017


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