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ANALYSE & KRITIK/287: Die Krise, die Verantwortlichen und kaum Protest


ak - analyse & kritik - Ausgabe 537, 20.03.2009

Wann, wenn nicht jetzt
Die Krise, die Verantwortlichen und kaum Protest

Von Hauke Benner


"Ich hatte es mit einem verdammt gefährlichen Business zu tun,
mit enormen Möglichkeiten, die Welt aus den Angeln zu heben."
(Brokerin Anne T. in ihrem Buch "Die Gier war grenzenlos")


Erinnert sich noch jemand an das Lambsdorff-Papier von 1982? Und wieso hat Hans Eichel die Heuschrecken reingelassen? Und was hat das alles mit der heutigen Finanzkrise zu tun? Wenn wir nach den Verantwortlichen für die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 fragen, fallen uns zuallererst die gierigen BankmanagerInnen und die eiskalten BrokerInnen an den Börsen ein. Um diesen Kreis der obersten Superreichen auf der Welt soll es hier nicht gehen. Nein, es soll hier mehr um diejenigen gehen, die allzu gerne in diesen Tagen ihre Vergangenheit mit dem Mantel des Schweigens umhüllen, damit sie sich umso besser als die Feuerwehrleute im Kampf gegen den Flächenbrand feiern lassen können. Und es geht um die Frage, warum die Linke so zahnlos angesichts der Krise agiert.

Otto Graf Lambsdorff (FDP) ließ 1982 von seinen Beratern Hans Tietmeyer und Otto Schlecht das sogenannte Lambsdorff-Papier schreiben, das den Bruch der damaligen SPD-FDP-Koalition einleitete. In diesem Positionspapier wird ein umfassender Abbau der staatlichen Sozialleistungen gefordert. An die Stelle des Staates sollten die Kräfte des "freien Marktes" treten, um neue Wachstumsimpulse zu initiieren. Des weiteren verlangte Lambsdorff einen tief greifenden Umbau des Arbeitsmarktes in Richtung einer durchgreifenden Flexibilisierung im Interesse der UnternehmerInnen.

Als Wirtschaftsminister und Staatssekretär in der CDU/CSU-FDP-Koalition unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) konnten Lambsdorff und Tietmeyer die ersten wichtigen Schritte einleiten, doch unglücklicherweise musste der Freidemokrat dann wegen der Verstrickungen in die Flickaffäre 1984 zurücktreten. Dafür machte sein Ghostwriter Hans Tietmeyer eine steile Karriere und ließ sich auch nicht durch die Schrotflintenschüsse der RAF 1988 von seinem neoliberalen Kurs abbringen. Er stieg zum einflussreichen Präsidenten der Deutschen Bundesbank auf und wurde ein maßgeblicher Wegbereiter für den deregulierten europäischen Finanz- und Bankenmarkt.

Nach seiner Pensionierung war er im Kuratorium der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Diese Lobby-Einrichtung wurde von UnternehmerInnen der Metall- und Elektroindustrie mit 100 Mio. Euro finanziert und war der ideologischer Wegbereiter der rot-grünen Deregulierungspolitik.

Noch vor einem halben Jahr, im Oktober 2008, sollte Tietmeyer von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Krisenstab zur Bewältigung der Finanzkrise berufen werden. Doch da sperrten sich plötzlich die SozialdemokratInnen, sie hatten wohl noch ein paar alte Rechnungen offen und erinnerten sich, dass Tietmeyer im Aufsichtsrat der Münchner Skandalbank Hypo Real Estate (HRE) saß, die gerade mehr als 30 Mrd. Euro versenkt hatte.

In den Tagen unmittelbar nach dem Börsencrash hatte sich Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) als cleverer Medienstar bewährt und galt in den Mainstreammedien als der eigentliche Krisenmanager der Bundesregierung. Er verteilte immer wieder Beruhigungspillen, bluffte, erzählte Halbwahrheiten und führte die Öffentlichkeit hinters Licht. Nur ein Beispiel: Einen Tag nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehmann-Brothers am 16. September 2008 verkündete er im Bundestag, es gebe keinen Anlass an der Stabilität des deutschen Finanzsystems zu zweifeln, das "deutsche Universalbankensystem" habe "sich als robuster und resistenter herausgestellt als das amerikanische Bankensystem". Nun gut, der Finanzminister kannte vielleicht noch nicht das ganze Ausmaß des Debakels der HRE, es ging nicht nur um 30 sondern um weit mehr als 100 Mrd. Euro - allein bei einer einzigen Bank! Schon 2007 und 2008 hat das "robuste" deutsche Bankenwesen mit dem Untergang der IKB-Bank und dem Verschwinden der Sächsischen Landesbank sich kräftig aus der Pulle des Steuerzahlers bedient.

Die schwarzen Löcher wurden immer größer. Von Tag zu Tag meldeten weltweit die Banken neue Horrorzahlen. Jetzt ging es auch in Deutschland nicht mehr um zweistellige Milliardenbeträge, sondern die Bundesregierung verkündete dem ungläubigen Publikum, dass ein "Schutzschirm" in der Größenordnung von 500 Mrd. Euro für die Banken aufgespannt worden sei. Alle waren erleichtert, die wankenden Bankenriesen standen wieder sicher, von Krise in der Realwirtschaft war noch nicht die Rede. Das 500-Milliarden-Paket wurde ohne große öffentliche Debatte im Parlament durchgewunken. Egal, wer später mal diese öffentlichen Schulden bezahlen wird. Hauptsache der "Bankenplatz Frankfurt" ist nicht gefährdet.

Warren Buffett, einer der ganz großen Börsenspekulanten, bezeichnete die modernen Finanzprodukte wie die Derivate als "Massenvernichtungswaffen". Die Sächsische Landesbank hatte es den großen Privatbanken nachmachen wollen und durch Spekulationen mit verbrieften Kreditpapieren u.a. vom US-Hypothekenmarkt, daraus abgeleiteten Derivaten, versehen mit der allerbesten Rankingnote AAA, Millionen verdienen wollen. Das ging auch einige Jahre ganz gut. Aus ihrer ausgelagerten Schattenbank in Irland, die keiner Bankenaufsicht mehr unterlag, sprudelten die Gewinne nach Dresden. Dann implodierte der US-Subprime-Hypothekenmarkt und die Milliardenkredite in den Büchern der Schattenbank waren plötzlich nichts mehr wert. Die Deutsche Bank war da cleverer gewesen und hatte rechtzeitig die "toxischen" Kreditpapiere an die staatliche IKB-Bank weiterverkauft. Herr Ackermann hatte die Verluste sozialisieren lassen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt ... Der Staat zahlt "ohne Ende, um die Verluste aufzufangen und die Wirtschaft vor dem Sturz in den Abgrund zu retten", wie die Süddeutsche Zeitung am 20. Oktober 2008 schrieb.

Der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jörg Asmussen (SPD), gilt als Konstrukteur des 500-Milliarden-Rettungspakets. Im Jahr 2006 hatte er sich noch vehement für das genaue Gegenteil, nämlich eine weitere Deregulierung und Liberalisierung des Finanzmarkts ausgesprochen. Er plädierte damals als Chef der Abteilung Geldmarktpolitik des Bundesfinanzministeriums in der Zeitschrift für das Kreditwesen für den verstärkten "Einsatz neuer Finanzierungsinstrumente" und warnte davor, den Banken "unnötigen Prüf- und Dokumentationspflichten" aufzudrücken, wenn sie in den Handel mit Derivaten investieren wollten. Pikanterweise war Asmussen damals im Aufsichtsrat der Mittelstandsbank IKB, die mit als Erste in den Strudel geriet.

Asmussen ist nur das jüngste Beispiel einer lange Reihe von PolitikerInnen, die in früheren Jahren mit ihren politischen Maßnahmen die Wege geebnet haben für eine zunächst beispiellose Welle der Bereicherung der Reichen und Superreichen und dem heute folgenden Tsunami von Billionen-Verlusten. In Deutschland wurde die Deregulierung mit dem Lambsdorff-Papier eingeleitet. Entscheidende Weichenstellungen erfolgten dann unter Rot-Grün und ihrem Finanzminister Hans Eichel (SPD). Er ließ die Hedgefonds und Private-Equity-Fonds (also die feindliche Übernahme von Firmen) in der BRD zu. Um die Gesetzespakete auch ja im Sinne der Großbanken richtig zu formulieren, mietete er sich für ein paar Monate ExpertInnen aus den Frankfurter Vorstandsetagen. Die Steuern für Firmenübernahmen wurden stark reduziert und der Ankauf von eigenen Aktien zur "Kurspflege" wurde in Deutschland zugelassen.

Dazu gesellten sich neue Finanzierungsgeschäfte wie das Cross-Boder-Leasing mit US-Fondsgesellschaften durch Städte und Gemeinden. Die Berliner BVG verkaufte z.B. ihre U-Bahn an einen US-Fond und mietete die U-Bahn-Waggons sofort wieder für 30 Jahre. Beide Seiten hatten zunächst etwas davon, der US-Fond sparte Steuern und die BVG hatte weniger Schulden. Doch heute wird die Rechnung präsentiert: Der US-Fond droht pleite zu gehen und nun kommt das Kleingedruckte in den Verträgen zum Tragen: Die BVG muss für die gesamten Verluste in einer dreistelligen Millionenhöhe geradestehen.

Diese Art von "Geschäften" ist unter Rot-Grün stark favorisiert worden. In den Städten und Kommunen hat eine Alleinparteienkoalition diese wüsten Zockereien mit öffentlichen Einrichtungen und Gütern gefördert. Mit dabei war natürlich auch die Steuersenkungspartei FDP. Nur können sich daran heute die MandatsträgerInnen nicht mehr erinnern - eine Form kollektiver Amnesie. Wie so oft in der Politik, wenn es an sich um das Eingestehen von Fehlern und der Übernahme von Verantwortung geht.

Auf der europäischen Ebene dasselbe: Die wichtigste Kommission zur Vorbereitung des G20-Gipfels Anfang April in London setzt sich aus knallharten VertreterInnen des Neoliberalismus zusammen. In der von EU-Präsident José Manuel Barroso installierten "High Level Group on Financial Supervision in the EU" steht an der Spitze Jacques de Larosière. Er war früher Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF). Larosière agierte in den letzten Jahren als einer der einflussreichsten Deregulierungs-Lobbyisten und war auch hochrangiger Berater der American Insurance Group (AIG) - die weit über 150 Mrd. US-Dollar Miese auftürmte und vom US-Staat übernommen werden musste.

Bundeskanzlerin Merkel schickte in die Financial Supervision den zuletzt als Goldman-Sachs-Berater tätigen Ottmar Issing, der vorher bei der Europäischen Zentralbank in herausragender Stellung tätig war und nebenbei im deutschen Stiftungsrat des Gründers des Neoliberalismus Friedrich August von Hayek tätig ist. Und diese Herren sollen jetzt eine neue stark regulierte Weltfinanzarchitektur entwerfen? Wer glaubt hier eigentlich noch an den Weihnachtsmann?

Das Erstaunlichste in den letzten Monaten ist aber die Ruhe in der Bevölkerung. Abgesehen von ein paar heftigen Demos in Island und in den baltischen Staaten, wo jeweils der Staatsbankrott droht, herrscht überall business as usual. Die europäischen Gewerkschaften schaffen es bis heute nicht, sich auf eine gemeinsame Linie im Kampf gegen die Sozialisierung der Verluste zu einigen. Nur ein paar NGOs und linke Splittergruppen verfassen längere Traktate gegen die Weltfinanzkrise.

In Deutschland werden ein halbes Jahr nach dem Börsencrash am 28. März die ersten großen Demonstrationen in Frankfurt und Berlin stattfinden. Dazu ruft ein breites Bündnis von attac über viele Basisgruppen von ver.di und IG-Metall bis hin zu zahlreichen christlichen Gruppen auf. Wo man angesichts der mit rasender Geschwindigkeit zunehmenden Kurzarbeit und weltweiten Entlassungswelle - allein VW will dieses Jahr 16.000 LeiharbeiterInnen rausschmeißen - ein gellender Aufschrei erwartet hätte, kommt ein watteweicher Aufruftext daher.

Zum x-ten Mal wird auf zwei Seiten erklärt, dass die Zeit reif sei für einen "Systemwandel". Von Abschaffung des kapitalistischen Weltsystems ist nicht die Rede, sondern wieder nur mal von der "zerstörerischen" Wirkung der "Entfesselung des Kapitals". Als wenn der kapitalistische Normalzustand mit seinem unbedingten Zwang, Profite zu erwirtschaften, nichts zu tun hätte mit der heftigsten weltweiten Überakkumulationskrise seit 80 Jahren. Als wenn im kapitalistischen Normalzustand keine Umverteilung von unten nach oben stattfindet und Ausbeutung von Natur und Mensch ein Fremdwort wäre. Wieder wird die vermeintliche Idylle eines geregelten, demokratisierten und nachhaltigen Staatskapitalismus gefordert, der nicht alles zur Ware macht: "Menschen sollen vor Profite" kommen. Wie schön.

Wann, wenn nicht jetzt fordern wir den Bruch mit dem System und den Verantwortlichen?

Weder wird das System des kapitalistischen Verwertungszwangs radikal hinterfragt, noch werden die Verantwortlichen in Politik, Medien und Wirtschaft benannt. Die Tietmeyers, Eichels, Steinbrücks, Merkels, die Asmussens oder die Issings und Ackermanns. Das sind sie. Sie sind die Verantwortlichen für das Desaster. Sie sind die Verantwortlichen aus Deutschland für die drastische Zunahme von Hunger, Elend und Vertreibung durch die Weltfinanzkrise. Sie müssen verschwinden. Und zwar alle. Wie hieß der Schlachtruf 2002 in Argentinien? "Que se vayan todos"! (Alle sollen abhauen)


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 537, 20.03.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2009