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ANALYSE & KRITIK/300: Wenn ich nicht hier bin, bin ich im www


ak - analyse & kritik - Ausgabe 539, 15.05.2009

Wenn ich nicht hier bin, bin ich im www
Bewertung und Ranking bestimmen die Selbstrepräsentationen im Netz

Von Barbara Eder


Der Kultur- und Medienwissenschafter Ramón Reichert beschäftigt sich in seinem Buch "Amateure im Netz" mit den aktuellen Umbrüchen in virtuellen Landschaften. War der Diskurs um das Internet von Beginn an durch subversive Projekte wie Gender-Switching, Praxen der Umcodierung hegemonialer Medienformate und die Vorstellung von einem demokratischen Netz-Raum jenseits von Landesgrenzen und -sprachen bestimmt, so dominieren das Web 2.0 zumeist andere Nutzungsformen: Nicht das utopische Projekt, sondern vielmehr die karrieristisch angelegten Selbstpräsentationen von Ich-AGs füllen heute den virtuellen Raum. An die Stelle von Alternativökonomie und Gender Troubles sind Zonen zur individuellen Akkumulation von materiellem und symbolischem Kapital getreten.

Die virtuelle Welt ist eine Utopie, die keine ist: Nicht anders als im realen Leben umfassen die dort etablierten Formen des Waren- und Wissenstausches Partnerbörsen, Verkaufsstände, Auktionshäuser, Wissenschaftsabteilungen, Gaming Zones und Foren zur Eigen-PR, deren AkteurInnen beständig um das knappe Gut der Aufmerksamkeit buhlen. Die virtuelle Sichtbarkeit ist eine paradoxe, da sie aufgrund der Abwesenheit des realen Subjekts scheinbar am besten funktioniert: Repräsentiert durch Datensätze, Diagramme, Lebensläufe, Sternzeichenkonstellationen, selbstgedrehte Videos, Fotos und Online-Diaries markiert das virtuelle Subjekt seine Online-Präsenz, die mittels Bewertungs- und Rankingsystemen von anderen NutzerInnen zugleich beurteilt wird. Wahlen zum world's famous blogger und spezielle Awards für andere HeldInnen des Informationszeitalters finden alljährlich im Netz statt, Sanktionen und Belohnungen werden von den online-communities eigenständig in die Hand genommen. Ramón Reichert zufolge zeigt dies, wie aus ehemaligen Herrschaftstechnologien, die einst der Arbeitsoptimierung und Effizienzmaximierung dienten, internalisierte Instrumente der Selbst- und Fremdbeurteilung im Netz geworden sind.

Die Benutzung von aktuellen Software-Tools erfordert zumeist keine HTML-Programmierkenntnisse mehr und ermöglicht somit auch den Laien ein Feld der Partizipation, das Reichert in seinem Buch im Anschluss an Michel Foucault als Prototyp liberaler Gouvernementalität analysiert: Eigeninitiative, kreatives Handeln, aktive Partizipation, flache Hierarchien, lebenslanges Lernen, Selbstverwirklichung und Selbstverantwortung sind für die Beteiligung an virtuellen Netzwerken nicht nur impetusgebend, sondern auch die impliziten Voraussetzungen, die das partizipatorisch eingestellte Online-Subjekt konstituieren. Exemplarisch zeigt sich dies am Beispiel Wikipedias: Die Generierung von Wikis setzt die Bereitschaft zum eigenständigen Wissenserwerb voraus, wobei der Prozess der Wissensgenerierung ein nicht nur im ökonomischen Sinne prekärer ist: Da jede NutzerIn Einspruch gegen einen Artikel erheben kann, bleibt das Wissen der Wikis per se unabschließbar, was wiederum die Motivation verstärkt: Im Rahmen von edit wars können die mit denselben Editierrechten ausgestatteten NutzerInnen in Konkurrenzbeziehungen zueinander treten und die von den VorgängerInnen gelieferten Informationen überschreiben. Wissen wird damit nicht nur unter erhöhtem Konkurrenzdruck erzeugt, sondern verkommt auch zu einer un-entgeltlich zur Verfügung gestellten Ressource.

Nach Reichert handelte es sich bei den (Medien-)Amateurkulturen der 1960er und 1970er Jahren noch um ambitionierte Versuche, Differenz zur Attitüde von gesellschaftlichen Leistungs- oder Führungseliten zu markieren. AmateurInnen produzierten nicht, um Autorität, Geld oder Status in einem bestimmten Fachgebiet zu zementieren, sondern verhindern vielmehr die Vergabe von Lizenzen durch FeldexpertInnen, indem sie nicht das Expertentum, sondern vielmehr den Spaßfaktor an der Sache betonen. Heute finden wir die Forderungen der künstlerischen und politischen 68er-Avantgarde nur mehr in pervertierter Form vor: Autonomie am selbst geschaffenen Arbeitsplatz, Kreativität und spielerisches Prinzip, immaterielle Arbeit und emotionale Involviertheit in den Arbeitsprozess, die Bereitschaft zur permanenten Neuerfindung des Selbst und der Zwang zur Dauermobilität sind längst zu Grundvoraussetzungen für das Überleben auf prekären Arbeitsmärkten geworden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird der virtuelle Amateur zum flexiblen Gratis-Arbeiter, dessen leidenschaftliches Engagement keine Begrenzungen durch ökonomisches Kalkül kennt. Das vormalige Leitbild der creative industries ist im Zeitalter des Netzwerkkapitalismus in der gesellschaftlichen Mitte angekommen: "Auf der Suche nach neuem Imagedesign stilisieren unternehmerische Diskurs die kulturelle ,Arbeit' des Amateurs zur Leitfigur flexibilisierter Bedeutungsproduktion vot dem Hintergrund sich netzförmig organisierender Wissensaushandlungsprozesse." (S. 215)

Mit der Ausrufung des Web 2.0 durch Tim O'Reilly und Dale Daugherty im Jahr 2006 ist jeder potentieller Adressat jenes ,You', das nicht nur die Plattformen "Youtube" und "YouPorn" in ihren Namen integriert haben. Dem Zwang zu virtueller Omnipräsenz, Selbstoptimierung und Sichtbarkeit setzt Reichert im Anschluss an Deleuze Strategien des "Unwahrnehmbar-Werdens" und des "Asignifikant-Seins" im letzten Kapitel seines Buches entgegen. Während er in den ersten drei Kapiteln die Selbsttechniken der Subjekte und die Techniken der Wissensgenerierung im Netz untersucht hat, wendet er sich im letzten Kapitel seines Buches ihrer Subversion zu. Es sind vornehmlich Strategien von Frauen, durch die die formalisierten Algorithmen und das vorgefertigte Screen Design von Shooter-Games against the grain gewendet werden. Besonders deutlich wird dies in Reicherts Untersuchung zu Slash Fictions. Im Rahmen dieser kulturellen Praktik funktionieren weibliche Fans die heterosexuellen HeldInnen der Populärkultur zu homosexuellen Ikonen um, beim Femslash wird hingegen das lesbische Potenzial von heterosexuellen Heldinnen sichtbar gemacht. An merklichen Anzeichen virtueller Heterosexualitätsdekonstruktion ermangelt es auch in Second Life nicht - wann die Selbstbezeichnung "homosexuell" endlich Eingang in die Bekenntniskulturen der Facebooks und Flickrs der virtuellen Welt gefunden haben wird, bleibt zu fragen.


Reichert, Ramón (2008):
Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Transcript Verlag, Bielefeld, 246 S., 24.80 EUR


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 539, 15.05.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2009