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ANALYSE & KRITIK/328: Gender und Klasse in China


ak - analyse & kritik - Ausgabe 543, 16.10.2009

Gender und Klasse in China
Generationen proletarischer Frauen seit 1949

Von Ralf Ruckus


Klassenverhältnisse entstehen auf Grund bestimmter Formen gesellschaftlicher Arbeitsorganisation, Gender-Verhältnisse gründen nicht zuletzt auf geschlechterspezifischen Formen von Arbeitsteilung. Beide sind eng miteinander verwoben und Gegenstand von Verhandlung, Konflikt und Veränderung. So steht in China hinter der Migration von Frauen in urbane Industriezonen auch die Rebellion gegen patriarchale Strukturen im Dorf, und die Kämpfe dieser Frauen richten sich gegen die Agenten der Ausbeutung wie der patriarchalen Unterdrückung. In diesem Beitrag geht es um Generationen (semi-)proletarischer Frauen, die sich in den 60 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik China herausgebildet haben und bis heute eine Rolle spielen. (1)


Vor der Machtübernahme durch die KP Chinas 1949 waren die sozialen Verhältnisse von Familienklans bestimmt. Frauen sollten sich ausschließlich in der häuslichen Welt aufhalten. Oft durch die brutale Methode gebundener Füße in ihrer Mobilität eingeschränkt, mussten sie im Haushalt und in der häuslichen Produktion arbeiten. Töchter wurden zur Verbesserung von Sippenbeziehungen verheiratet. Nach der Heirat gehörte die Frau zur Familie des Ehemannes, in der sie einen niedrigen Status hatte. Da nur ein Sohn den Fortbestand der Sippe garantierte, wurden Söhne bevorzugt. Veränderte Formen dieser Beherrschung und Diskriminierung spielen bis heute eine wichtige Rolle.

Die Legitimation der KPCh beruhte auch auf dem Versprechen, die Frauen von ihrem Joch zu befreien. Nach 1949 wurden die Frauen rechtlich gleichgestellt. Aber die Partei, die den Bürgerkrieg mit einer Bauernarmee gewann, hat immer nachgegeben, wenn sie mit den patriarchalen Vorstellungen der Bauern kollidierte. Und sie zeigte sich flexibel: Wo sie die weibliche Arbeitskraft brauchte, betonte sie die Gleichstellung der Frauen, die nach Friedrich Engels' Konzept von Frauenbefreiung, in der Teilnahme an der Lohnarbeit lag. In Phasen der Arbeitskräfteknappheit - z.B. während des "Großen Sprungs nach vorne" (1958-61) - wurden Frauen in die Betriebe geholt, in Zeiten ökonomischer Krise aber mittels staatlicher Kampagnen zur Rolle der Frauen als Ehefrau und Mutter wieder aus der Lohnarbeit gedrängt.


Die vertagte Revolution der Gender-Verhältnisse

Auf dem Land haben auch die Kollektivierungen der 1950er die patriarchalen Familienstrukturen nicht zerstört. Frauen wurden verstärkt für die Landarbeit mobilisiert, auch um Männer für andere Arbeiten und den Armeedienst freizusetzen, bekamen aber "leichtere" Arbeiten und wurden schlechter entlohnt. Auch in der Stadt arbeiteten Frauen nun außerhalb des Haushalts, in den lebenslangen Jobs staatlicher Kombinate. Während die Partei betonte, alle Jobs seien wichtig für die Revolution, steckte die Arbeitsbehörde Frauen in "leichte" Industrien mit "leichten" Tätigkeiten und "leichtem" Lohn und sorgte dafür, dass sie weniger Chancen hatten, vom Arbeiter zum Kader aufzusteigen. So wurde eine sozialistische, geschlechtliche Arbeitsteilung zementiert. In den Familien mussten die Frauen sich weiter um Kinder und Alte kümmern - die klassische "Doppelbelastung".

Partei und Staat griffen zudem direkt in Geschlechterbeziehungen ein, die chinesische Form rigider Bevölkerungspolitik. Betriebsleitungen überwachten die "Moral" der Arbeiterinnen, organisierten die Heirat sowie die Zuteilung von Wohnraum an Ehepaare und verhinderten Scheidungen, regelten die Betreuung des sozialistischen Nachwuchses. Die Kombinate setzten damit die Tradition der konfuzianischen Familie fort und übernahmen einen Teil der alltäglichen Kontrolle und Disziplinierung der Frauen. Während die Partei in den 1950ern und 1960ern noch hohe Geburtenraten unterstützte, wollte sie mit der Ein-Kind-Politik ab Anfang der 1980er das Bevölkerungswachstum drastisch senken. Sie überwachte fortan die Sexualität und biologischen Zyklen der Frauen und setzte diese Politik mit rigiden Bestrafungen durch.

Die Frauen, die noch vor 1949 aufwuchsen, haben die Veränderungen ab Anfang der 1950er trotz allem als Verbesserung empfunden. Sie fühlten sich "befreit" und als "ehrenhafte sozialistische Arbeiterinnen". Viele von ihnen unterstützten in den 1950ern die Veränderungen und die politische Schicht, die sie vorantrieb, und gehörten während der Kulturrevolution in den 1960ern und am Anfang der Reformen Ende der 1970er zu den Kräften, die trotz der politischen Wendungen hinter dem Parteiregime standen.

Frauen, die in der Zeit der Kollektivierungen und des "Großen Sprungs" in den späten 1950ern und in den 1960ern aufwuchsen, wurden während der Kulturrevolution (1966-76) geprägt von der zentralen Rolle des "Politischen", das die "Arbeit" als zentralen Begriff der 1950er Jahre ablöste. Viele leisteten mit den Roten Garden Widerstand gegen die sozialistischen Autoritäten in der Partei und die Fabrikdirektoren. Jeder Bezug auf frauenspezifische Probleme war allerdings verpönt, weibliche Kleidung und Make-up wurden abgelehnt und die betreffenden Frauen als "rückständige Elemente" und "bürgerliche Schlampen" beschimpft. Es gab auch viele sexuelle Übergriffe. Unter Parolen wie "Männer und Frauen sind gleich" bewegten sich die Roten Gardistinnen als geschlechtslose Aktivistinnen. Millionen von ihnen wurden ab Mitte der 1960er aufs Land geschickt, womit ihre Ausbildung abbrach. Dort erlebten sie die geschlechtliche Arbeitsteilung und geringere Entlohnung weiblicher Arbeit in den Volkskommunen.

Mit den Reformen ab 1978 wollte die Partei die sozialistischen Arbeitsverhältnisse modernisieren. In den Betrieben etablierte sie ein neues Ausbeutungsregime und strich ihre Klassenkampf-Rhetorik, gleichzeitig förderte sie die Bildung eines segregierten Arbeitsmarktes und re-etablierte Bilder einer neuen "Weiblichkeit", von "typischer Frauenarbeit" und der Rolle der Frauen als "Hausfrau und Mutter". Das Zurückfahren der staatlichen Kontrolle über viele Lebensbereiche hat den Einfluss der patriarchal dominierten Familien gestärkt, gleichzeitig nahmen Formen sexistischer Gewalt und Unterdrückung zu.

Die Frauen aus der Kulturrevolutions-Generation, die ab Ende der 1970er vom Land wieder in die Städte zogen, arbeiteten als Unqualifizierte in den staatlichen Kombinaten. Aber angesichts von Arbeitslosigkeit sollten Kampagnen sie zur "Rückkehr an den Herd" bewegen, um Männern Platz zu machen. Gegen die mit den Reformen zunehmende Macht der Fabrikdirektoren, verschärfte Disziplinierung und höheren Arbeitsdruck griffen Frauen (wie Männer) zu den "Waffen der Schwachen" wie Sabotage und Absentismus, lehnten sich aber auch offen auf. Für die Partei sind sie seitdem die "verlorene Generation", "undiszipliniert", "unproduktiv" und "regellos". Ab Mitte der 1990er Jahre waren sie die ersten Opfer der Umstrukturierung der Kombinate. Sie wurden als Hilfsarbeiterinnen eher als ihre männlichen Kollegen entlassen, zur Frührente gedrängt und marginalisiert und konnten auch leichter durch Wanderarbeiterinnen ersetzt werden. Auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt hatten sie - alt und ohne Ausbildung - schlechte Karten. Die Beschäftigungsprogramme des KP-Frauenverbandes drängten sie in "frauenspezifische" Jobs, z.B. als Hausangestellte. Viele Entlassene wurden durch Kader um Abfindungen, Renten und Arbeitslosengeld betrogen, gehören heute zu den städtischen Armen und schlagen sich mit Niedriglohnarbeit oder Kleinselbstständigkeit durch. Auch das betraf Frauen in stärkerem Maße als Männer.

Auf dem Land hat die De-Kollektivierung des Bodens Anfang der 1980er, mit der die Partei die niedrige Produktivität der landwirtschaftlichen Produktion erhöhen wollte, die patriarchalen Familien erneut gestärkt, die fortan den Boden bestellten. Aber viele Männer wanderten zum Arbeiten in die Städte, was den Status zurückbleibender Frauen, die den Hof organisierten, zum Teil verbesserte (Feminisierung der Landwirtschaft).


""Verlorene Generation" und Rebellion durch Wanderarbeit

Junge Frauen wanderten ebenfalls in die Städte und gelangten über den neuen, geschlechtlich segregierten Arbeitsmarkt in "weibliche" Niedriglohnbereiche. Es geht ihnen nicht nur ums Geldverdienen, sie wollen teilhaben am "modernen" Stadtleben und -konsum und versprechen sich mehr Unabhängigkeit. Ihre Vorstellungen vom Arbeiterin- und Frau-Sein sind vom öffentlichen Diskurs einer neuen "Femininität" bestimmt, der Betonung "natürlicher" weiblicher Merkmale und sozialer Rollen, die der Maoismus unterdrückt habe.

In der Stadt müssen sie sich gegen die harschen Ausbeutungsbedingungen zur Wehr setzen. Außerdem werden sie stigmatisiert, nicht nur als "Bauerntölpel", sondern auch als "naive Mädchen vom Lande", die sich nicht schminken und keine modernen Hausgeräte benutzen können. Sie müssen sexuelle Belästigungen und Erniedrigungen ertragen, besonders in den Sektoren, die erst nach dem Maoismus wieder zugelassen oder toleriert wurden und in denen sie in besonderem Maße sexistischer Unterdrückung und Ausbeutung ausgesetzt sind: als Hausangestellte und Sexarbeiterinnen.

In anderer Hinsicht hat die Wanderarbeit die Lage der Frauen verbessert. Ihre Geldrücksendungen sind wichtiger Teil des Familieneinkommens, was ihnen einen höheren Status verschafft. Hier profitieren sie auch vom Frauenmangel, der durch die Ein-Kind-Politik entstanden ist. In der Stadt bleiben sie eingebunden in die mitgewanderten Klan-Verbindungen, die ihnen eine soziale Unterstützung bieten, auf die sie angewiesen bleiben, die aber auch eine verlängerte Form patriarchaler Kontrolle sind. Gerade die Wanderarbeiterinnen der zweiten Generation, die im Gegensatz zur ersten Generation nicht mehr den Acker bestellen können und sich eine Zukunft in der Stadt erhoffen, sind aber frecher und kämpferischer geworden, was sich auch in zahlreichen Streiks und anderen Kämpfen zeigt. Sie haben den Einfluss der Familie zurückgedrängt und suchen sich Freundinnen und Partner zunehmend selbst.

Wenn sie ausgelaugt von der (industriellen) Knochenmühle ins Dorf zurückkehren, auf Besuch oder um zu heiraten, finden sie sich oft nicht mehr zurecht. Zwar haben sich auch die Dörfer verändert, aber das patriarchale Regime ist nicht gebrochen. Um dem Druck zu entkommen, ziehen die Frauen wieder in die Stadt, aber das Apartheid-ähnliche Haushaltsregistrierungssystem (hukou) verhindert, dass sie sich dauerhaft dort niederlassen. So wandern sie zwischen Stadt und Dorf, kämpfen gegen die patriarchalen Strukturen, können sie aber nicht hinter sich lassen.

Die zwei wichtigsten Brüche in der jüngeren Geschichte Chinas, die Befreiung 1949 und die Reformen ab 1978 haben auch die Situation der Frauen verändert, die patriarchalen Familienstrukturen und Ideologien aber nicht zerstört. Es haben sich mehrere Generationen (semi-)proletarischer Frauen herausgebildet, die sich unterschiedlich artikulieren und gegen Klassen- wie Gender-Verhältnisse kämpfen. Für die weitere Auflösung der patriarchalen Umklammerung ist die neue Klasse der Wanderarbeiterinnen zentral, gegen die "dreifache Unterdrückung" (Pun Ngai) durch das in- und ausländische Kapital, den sozialistischen Staat und die fortbestehenden patriarchalen Strukturen und Ideologien.

Auch wenn die KP im post-maoistischen Diskurs die Unveränderlichkeit des Natürlichen, von Geschlecht, Parteiherrschaft und Staat, von der Dominanz von Kapital und Profit postuliert, die Kämpfe der Arbeiterinnen gegen die drei verzahnten Formen der Unterdrückung werden die Veränderlichkeit des Sozialen, der Klassen- wie auch der Gender-Verhältnisse, beweisen.


Anmerkung:
(1) In zwei Beiträgen für die Themenseiten in ak 540 hat sich Ralf Ruckus ausführlich mit der Geschichte und den Kämpfen der chinesischen WanderarbeiterInnen auseinander gesetzt. Ralf Ruckus ist Übersetzer und Mit-Herausgeber des Buches "Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen" von Pun Ngai und Li Wanwei, das im vergangenen Jahr bei Assoziation A erschienen ist.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 543, 16.10.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2009