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ANALYSE & KRITIK/342: In Kalifornien streiten US-Gewerkschafter um Organizing


ak - analyse & kritik - Ausgabe 544, 20.11.2009

Konflikt voll entbrannt
In Kalifornien streiten US-GewerkschafterInnen um Organizing

Von Peter Birke


Sal Rosselli ist ein korrupter, machthungriger Typ, und die Organisation, für die er spricht, ist gegen Organizing. Das jedenfalls wird - auf allen Kanälen - derzeit von der US-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU verbreitet. Mitte Oktober reiste Rosselli durch Norddeutschland. Alle, die ihn trafen, waren sich darin einig, dass es nicht dieser Rosselli sein kann, von dem so schlecht gesprochen wird. Der Mann muss einen Doppelgänger haben. Und Organizing ist Ausgangspunkt der Arbeit seiner Organisation, der National Union of Healthcare Workers (NUHW).


In Gewerkschaftshäusern, im Zug, in Cafés und in Veranstaltungszentren haben ihn viele Leute getroffen, mit ihm Erfahrungen ausgetauscht und diskutiert. Der Sal Roselli, den wir getroffen haben, lebt seit 1971 in San Francisco, war Gebäudereiniger und Krankenpflegehelfer. Er ist nun seit fast vierzig Jahren in den sozialen Bewegungen aktiv. Ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten spielt er eine wichtige Rolle in der kalifornischen Gewerkschaftsbewegung, insbesondere in der Abteilung UHW der SEIU, die die un- und angelernten Beschäftigten im Pflegebereich und in den Krankenhäusern organisiert. Bis er 2008 zurücktrat, war Rosselli stellvertretender Vorsitzender jener fast zwei Millionen Mitglieder starken Gewerkschaft SEIU, die ihn jetzt verdammt.

Es handelt sich um eine Geschichte, die derzeit in den USA nicht nur die Schlagzeilen der Gewerkschaftspresse beherrscht. 2008, nach Rossellis Rücktritt, drohte die SEIU-Zentrale in Washington D.C., seine kalifornische Abteilung unter Zwangsverwaltung (trusteeship) zu stellen. Nach längerem bürokratischem Tauziehen setzte sie diese Forderung durch. 30 Hauptamtliche der (damals noch) SEIU-UHW genannten Gewerkschaft der GesundheitsarbeiterInnen wurden gefeuert (darunter Rosselli), 150 traten sofort aus Solidarität zurück. Zahlreiche Menschen aus der US-Gewerkschaftsbewegung, der Gewerkschaftslinken, ForscherInnen und AktivistInnen der sozialen Bewegungen appellierten an die SEIU-Zentrale, die Repressionen zu beenden. Von der New York Times bis zu den Labor Notes wurde landesweit über den Konflikt berichtet.


Das Wunder von Frisco

Anfang 2009 gründeten die DissidentInnen ihre eigene Gewerkschaft, die sie National Union of Healthcare Workers (NUHW) (1) nannten. Ohne Geld, zunächst ohne Mitglieder und ausschließlich auf ehrenamtlicher Basis setzte diese Gewerkschaft die Arbeit fort, die sie als SEIU-UHW seit den 1990er Jahren begonnen hatte. Bislang versucht die SEIU-Zentrale mit allen denkbaren Mitteln, einen Erfolg dieser neuen Organisierung zu unterbinden. Auf unserer Reise durch Norddeutschland erklärt Sal Rosselli, wie dieser spektakuläre Konflikt in der US-Gewerkschaftsbewegung entstand und welche Perspektiven er hat. Dabei muss zunächst kurz auf die Geschichte der Variante des Organizing eingegangen werden, für die die NUHW heute steht.

Es gibt das Gerücht, dass die Organisation, für die Rosselli spricht, gegen Organizing sei, eine Art Kronzeuge für die SkeptikerInnen, die hinter dem US-Import schon immer nicht viel mehr als eine Sammlung von Psychotechniken, Marketingstrategien und anderen Betrugsmanövern sehen, die sich der Gewerkschaftsapparat ausgedacht habe, um sich ein neues, jugendliches Image zu verleihen.

Die erste Geschichte, die Sal Rosselli während der Rundreise durch Deutschland erzählt, bestätigt dies nicht, im Gegenteil. Er erzählt, wie seine Gewerkschaft in den frühen 1990er Jahren in eine Krise geriet, auf die sie zu antworten gezwungen war. Wie etwas später auch in der Bundesrepublik kam es in dieser Zeit zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in den Pflegeheimen und Krankenhäusern. Gesundheit wurde zur Ware, mit der in erster Linie Profite gemacht werden. Hunderte kleiner lokaler Einrichtungen wurden von landesweiten oder sogar multinationalen Ketten übernommen. Sowohl die Situation der Arbeitenden als auch die Qualität der Pflege litt darunter. Ein Beispiel sind die 30 Krankenhäuser, die die Catholic Healthcare West, ein Gesundheitskonzern mit 60.000 Beschäftigten, in Kalifornien übernahm.

Bei einer Veranstaltung von ver.di in Göttingen berichtet Rosselli, dass in der ersten Hälfte des Jahrzehnts nur drei dieser Häuser gewerkschaftlich organisiert waren. Dazu muss man wissen, dass in den USA seit Reagan und dem doppelten Busch die legalen Möglichkeiten der Gewerkschaften stark beschnitten wurden. Anders als in Deutschland gibt es keine individuelle Mitgliedschaft, sondern einen Union Shop, was bedeutet, dass entweder alle Beschäftigten eines Betriebes oder auch nur einer Berufsgruppe innerhalb desselben gewerkschaftlich organisiert sind - oder niemand.

Die Organisierung ist mit einem komplizierten Anerkennungsverfahren verbunden, das den Unternehmern jede Menge Möglichkeiten lässt, die KollegInnen unter Druck zu setzen. Wenn es dennoch zur Gewerkschaftswahl kommt, werden lokale Verhandlungen um Löhne und Arbeitsbedingen oft lange boykottiert.

Deshalb haben sich einige Gewerkschaften in den USA um 1990 immer häufiger jenen Druckkampagnen zugewendet, die durch einen Film von Ken Loach (2) über die Arbeitskämpfe der überwiegend migrantischen Reinigungskräfte in Los Angeles auch jenseits der US-Grenzen berühmt wurden: strategische Recherche der Machtverhältnisse, Druck auf die entscheidenden und entschiedenen Gegner, demokratische Organisierung, direkte Aktionen, Zusammenarbeit mit lokalen politischen Gruppen und sozialen Bewegungen.

Wir mussten einsehen, sagt Rosselli, dass wir gegen Catholic Healthcare West mit den üblichen Formen der Gewerkschaftsarbeit nicht mehr weiter kamen. Es gab eine Reihe heftiger Konflikte um die Arbeitsbedingungen in den drei organisierten Häusern. Es waren Kämpfe mit schlechten Aussichten, denn die Kette verwies immer wieder auf jene Häuser, die nicht organisiert und ohne gültigen Kollektivvertrag waren. "Nicht wir", sagt Sal Rosselli, "sondern die Kolleginnen und Kollegen begriffen zuerst, dass auch die anderen Häuser organisiert werden müssen." Es begann eine Kampagne, in der die organisierten ArbeiterInnen ihre unorganisierten KollegInnen direkt ansprachen, deren Communities, Sportvereine, Kirchen.


Organisationsgrad von 90 Prozent

Aus Rossellis Sicht ist dies die wirksamste Art der Organisierung: Leute, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben, können sich besser verständigen. Drei Streiks waren nötig, um in allen Häusern der Catholic Healthcare West Organisationsrechte einzufordern. Am Ende waren die KollegInnen erfolgreich. Die Krankenhauskette, die auf ihrer Homepage mit Wörtern wie Würde und Gerechtigkeit um sich wirft und behauptet, dass "unsere Philosophie nicht nur den Patienten, sondern auch den Mitarbeitern und dem gesamten Planeten (!) dient", akzeptierte das Vertretungs- und Verhandlungsrecht. Im Anschluss konnten die Gewerkschaften enorme Verbesserungen in den Arbeits- und Lebensbedingungen durchsetzen.

Ein wichtiger Punkt ist dabei in den USA die Frage nach der Krankenversicherung. 50 von 350 Millionen US-BürgerInnen haben keinen Versicherungsschutz. Die Gewerkschaft zwang die christliche Kette dazu, eine Krankenversicherung für die PflegerInnen, ihre LebenspartnerInnen und ihre Kinder zu finanzieren. Ebenso wichtig war, dass diese Versicherung auch nach der Pensionierung erhalten bleibt.

Hinzu kam die Forderung, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, und auch hier kämpften die GewerkschafterInnen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die PatientInnen und ihre Angehörigen. Bei Catholic Healthcare West konnte durchgesetzt werden, dass eine PflegerIn auf den Intensivstationen nur eine PatientIn betreut. In allen anderen Bereichen wurde ein Verhältnis von eins zu drei ausgehandelt.

Bevor Sal Rosselli erzählen kann, dass am Ende auch eine Lohnerhöhung durchgesetzt wurde (Catholic Healthcare West ist nunmehr in Kalifornien gezwungen, die im Landesvergleich zweithöchsten Löhne zu zahlen!), kommt es auf der Veranstaltung in Göttingen zum allgemeinen Erstaunen: In Deutschland muss eine PflegerIn oft bis zu acht PatientInnen betreuen. Aber all dies wäre nicht viel Wert, wenn die Verträge und ihre Umsetzung nicht alltäglich von den KollegInnen kontrolliert werden könnten: Beispielsweise bestimmen Komitees die Regeln, in denen die Beschäftigten die Hälfte der Stimmen haben. So ein Wunder, sagt jemand angesichts der Situation in Göttingen und Hannover, ist wohl nur in katholischen Häusern möglich.

Dass die damals noch als SEIU-UHW firmierende Abteilung, deren Sprecher Rosselli ist, Anfang des laufenden Jahrzehnts nur vier Jahre benötigte, um ihre Mitgliederzahl von 65.000 auf rund 150.000 zu steigern, hat wohl auch damit zu tun, dass die oben skizzierte kämpferische Politik konsequent systematisiert wurde.

Die Methoden ähneln zunächst dem bekannten Vorgehen der SEIU. Der Mitgliedsbeitrag wurde nach einer Abstimmung der Vertrauensleute erhöht, um Ressourcen für Druckkampagnen freizumachen. Die Zahl der alleine in Kalifornien ausschließlich mit solchen Kampagnen beschäftigten hauptamtlichen GewerkschafterInnen stieg auf 70. Weitere 20 Hauptamtliche wurden dauerhaft damit beauftragt, den Kontakt zu den lokalen sozialen Bewegungen herzustellen. Von solchen Zahlen können die überwiegend vergleichsweise schlecht ausgestatteten und lediglich befristet arbeitenden Organizing-Projekte der verschiedenen deutschen Einzelgewerkschaften bisher nur träumen.

In Kalifornien wurde vor Ort um PatientInnenrechte, für die Angehörigen und gegen die ökologische Belastung durch die Gesundheitskonzerne gekämpft, landesweit für Schwulenrechte und gegen den Irakkrieg. "Wir haben kapiert", sagt Sal Rosselli, "dass wir nicht immer nur dann zu den sozialen Bewegungen gehen können, wenn wir sie für eine unserer Kampagnen gebrauchen können. Gewerkschaftsarbeit ist nie unpolitisch."

Auf eine Frage, die ihm in Hamburg auf der Veranstaltung vom ver.di-Fachbereich 08 und der Gruppe Blauer Montag gestellt wurde, antwortet er, dass seine Abteilung Obama unterstützt hat (während die SEIU-Führung zunächst auf der Seite von Hillary Clinton war); jetzt hingegen sei seine derzeitige Gewerkschaft NUHW (wiederum im Gegensatz zur SEIU) mit der Verwässerung der Forderungen nach einer Krankenversicherung für alle durch die real existierende Obama-Clinton- Administration nicht einverstanden.

Derartige Beschlüsse seien allerdings stets mit großen Debatten innerhalb der SEIU-UHW verbunden gewesen: Selbstverständlich sind nicht alle Gewerkschaftsmitglieder oppositionell oder links. Es ist deshalb wichtig, die KritikerInnen auch wahrzunehmen. Viele haben zum Beispiel Söhne oder Töchter, die als Militärangehörige im Irak sind. Die Gewerkschaft, betont Sal Rosselli immer wieder, kann nur dann politisch sein, wenn sie der sicherste Platz auf der ganzen Welt für diese KritikerInnen bleibt.

Die Resultate der Aneignung der Gewerkschaft durch ihre Mitglieder können sich sehen lassen. In einigen kalifornischen Regionen liegt der Organisationsgrad bei rund 90 Prozent, während er im Schnitt in den USA bei ca. 20, in einigen südlichen Staaten sogar unter zehn Prozent liegt. Doch die Politik der SEIU-Zentrale in Washington D.C. brachte diese Errungenschaften in den vergangenen Jahren zunehmend in Gefahr.

Der Vorsitzende der SEIU, Andy Stern, und seine Leute setzten auf Wachstum um jeden Preis. Schon seit den frühen 1990er Jahren war das ein Problem. Viele der berühmten Janitors in Los Angeles fühlten sich von der Zentrale überfahren, die innergewerkschaftlichen Proteste und Verwerfungen nahmen zu. Schließlich war selbst die imposante Mitgliederentwicklung der SEIU-UHW der Zentrale zu wenig. Man begann, mit den Unternehmern sweetheart deals abzuschließen. Mitgliederrechte wurden gegen Organisationsrechte eingetauscht. Man erlaubte den Unternehmern Auslagerungen und Lohnkürzungen und bekam im Gegenzug "Neutralität" in der Organisierungsfrage zugesichert. Die Abkommen enthielten unter anderem einen Verzicht auf das Streikrecht für die Dauer von bis zu zehn Jahren.

In einigen Fällen überlies man es den Konzernen sogar, die Zweigstellen auszuwählen, in denen Organisationsrechte existieren. Die lokalen AktivistInnen erfuhren von solchen Deals oft erst von den Unternehmern, manchmal erst dann, wenn sie die betroffenen KollegInnen zu organisieren versuchten.

Einige Zeit nach der Gründung des neuen Dachverbands der Organizing-Gewerkschaften Change to win im Jahre 2005 spitzten sich die Konflikte zu. Die lokalen Abteilungen der SEIU-UHW begannen zu rebellieren. 2007 beschloss die SEIU-Zentrale dann, in Kalifornien den Pflegebereich von dem Krankenhausbereich zu trennen, also zwei unterschiedliche und getrennte Gewerkschaftsabteilungen zu gründen, um dem mittlerweile zu stark gewordenen local, also dem lokalen SEIU-Verband, das Genick zu brechen.


Die Vision der One big union

Es war eine Maßnahme, die der Vision von der One big Union entgegenstand, die die SEIU-UHW für den Gesundheitsbereich anstrebte. Noch heute, betont Sal Rosselli, strebt die NUHW die Organisierung aller Gesundheitsbeschäftigten an, sie vertritt das Prinzip einer Industrial Union, die, durchaus nach bundesdeutschem Vorbild, alle Menschen organisieren möchte - vom Kantinenpersonal bis zum Arzt.

Die Gewerkschaftsbasis wehrte sich so erfolgreich gegen die drohende Aufsplitterung, dass die SEIU-Zentrale am Ende beschloss, den gesamten Bezirk unter Zwangsverwaltung zu stellen. Wie erwähnt wurden 30 Hauptamtliche entlassen, 150 kündigten aus Protest. Die meisten arbeiten seitdem ehrenamtlich und unter großen materiellen Verlusten weiter für ihre Gewerkschaft.

Im Januar des laufenden Jahres gründeten die ehrenamtlichen AktivistInnen und die nunmehr ehemaligen Hauptamtlichen die NUHW. In sechs Wochen unterschrieben rund 90.000 Beschäftigte in den kalifornischen Pflegeheimen und Krankenhäusern Petitionen mit dem Wunsch, sich der neuen Gewerkschaft anzuschließen. Wieder spielt das spezifische System in den USA eine Rolle: Die Organisationsrechte und Mitgliederbeiträge blieben nach dem Rauswurf der KollegInnen bei der SEIU in Washington.

Seitdem ist in Kalifornien der Civil War der Gewerkschaftsbewegung entbrannt. Die SEIU-Zentrale versucht unter Einsatz ungeheurer Mittel, darunter nicht zuletzt die Denunziation der Ausgetretenen, jene Wahlen zu verhindern, die für eine Überleitung der Mitglieder in eine neue Gewerkschaft notwendig sind.

Dabei werden ausgerechnet die sonst von allen Gewerkschaften mit Vehemenz kritisierten oben erwähnten bürokratischen Regeln des Anerkennungsverfahrens genutzt. Eingaben der SEIU an das National Labor Relations Board haben die Gewerkschaftswahlen in zahllosen Betrieben um Monate und Monate hinausgezögert, wobei die SEIU-Zentrale unverhohlen der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass die NUHW zwischenzeitlich Pleite gehen könnte. Dennoch kam es in einigen wenigen Betrieben seit Anfang des Jahres zu Wahlen, die bislang durchgehend von der NUHW gewonnen wurden - bis auf eine spektakuläre Ausnahme.


Civil War der Gewerkschaften

In der Provinzstadt Fresno, einem Ort, an dem die neue Gewerkschaft anders als in San Francisco wenig verankert ist, setzte die SEIU sage und schreibe 1.000 Organizer ein, um den Übertritt von rund 7.000 Menschen zu verhindern, die in der häuslichen Pflege beschäftigt sind. Die Wahlen gingen mit einer Mehrheit von wenigen Stimmen zugunsten der SEIU aus. Ob der Spruch eines SEIU-Funktionärs stimmt, diesmal sei es endgültig gelungen, "die NUHW ins Meer zu treiben", bleibt allerdings abzuwarten. Derzeit läuft ein Verfahren gegen die SEIU-Drückerkolonnen wegen Wahlfälschung.

Was in Frisco und Fresco passiert, ist für die gesamte US-Gewerkschaftsbewegung bedeutend. Und es ist für diejenigen in der Bundesrepublik, die die nunmehr nicht mehr ganz so neue Politik der SEIU bislang mit Sympathie begleitet haben, eine Herausforderung. Auf der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gruppe Soziale Kämpfe in Berlin sagt Lars Diekmann, der die dortigen Kampagnen der IG Bau in der Gebäudereinigung mitorganisiert, dass Organizing Folgen für die gesamte Gewerkschaftspolitik haben muss.

Dass es einen Widerspruch zwischen kollektiver Organisierung und der derzeitigen Organisationslogik geben kann, weiß nicht nur Diekmann. Mehr oder weniger alle OrganizerInnen wissen ein Lied davon zu singen. Nicht nur die mangelnde Ausstattung und der kurzfristige Charakter der Projekte, auch die Widerstände aus den eigenen Reihen sind ein Problem.

Rosselli, der vor seiner Reise nicht sehr viel über die Bundesrepublik wusste, konstatiert in Berlin, dass die Einrichtung der Betriebsräte sehr widersprüchlich sei: Die Friedenspflicht hindere sie daran, konsequent für die Beschäftigten einzutreten. Viele Betriebs- und Personalräte wissen ein Lied davon zu singen, was die "Verpflichtung auf vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber zum Wohl des Betriebs" (BetrVG 2) bedeutet. Organizing-Projekte (und nicht nur die, sondern alle Formen einer kämpferischen, aktiven Betriebspolitik), wollen auch mit der generellen Anlage des Betriebsverfassungsgesetzes brechen, das statt der Basisdemokratie und der ständigen Kontrolle der RepräsentantInnen eine StellvertreterInnenpolitik vorsieht.

In den USA differenziert sich das, was Organizing ist oder sein soll, im Moment sehr deutlich. Der erst vor vier Jahren entstandene Dachverband Change to win ist in Auflösung begriffen. Die SEIU hat Millionen in den Wahlkampf der Demokraten gesteckt, in der trügerischen Hoffnung, dass sich die Investition lohnen wird. Aber sowohl das Krankenversicherungsgesetz als auch die Reform der Gewerkschaftsgesetze sind, jenseits der vielleicht verständlichen Obama-Euphorie, bereits im Morast der Widerstände des corporate america stecken geblieben, das auch bei den Demokraten sehr bedeutsam ist. Und sweetheart deals sind kein besonders geeigneter Beitrag dazu, gegenüber der neuen Administration eigenständige Positionen zu bewahren. In ihrer Wachstumsorientierung hat die SEIU-Zentrale zudem versucht, auch andere Verbände zu übernehmen. Die Hotel- und Gaststättengewerkschaft UNITE-HERE, zweitgrößter Verband in dem Organizing-Archipel, ist aus diesem Grunde wieder zum alten Dachverband AFL-CIO zurückgekehrt.


US-Gewerkschaften vollbringen Wunder?

Auf einer Veranstaltung des bundesdeutschen Sozialforums in Hitzacker fragt ein Kollege danach, warum wir nun die NUHW unterstützen sollen: "Alle zwei Jahre kommen US-Gewerkschaften nach Deutschland, die uns erzählen, welche Wunder sie bewirkt haben." Wahrscheinlich meint der Mann einige Generaldirektoren der SEIU, die schwungvolle Powerpoint-Präsentationen auf einschlägigen Gewerkschaftsseminaren an die Wand werfen. Die Frage ist berechtigt. Auf der Berliner Veranstaltung sagt Sal Rosselli, dass seine Gewerkschaft unabhängig ist, aber hofft, dass sich der alter Dachverband AFL-CIO erneuern wird.

Oppositionelle US-Gewerkschaftszeitungen wie die Labor Notes sind da, nicht zuletzt wegen des jüngsten Gewerkschaftstags des alten Dachverbandes, skeptischer. Vielleicht wird es wieder "nur eine Gewerkschaft"? Es ist durchaus wahrscheinlich, aber trotzdem müssen wir uns positionieren. Auch im eigenen Interesse, denn frühzeitig etwas über die Widersprüche des Organizing zu sagen, heißt ja auch, dass wir formulieren müssen, wie wir uns diese ganze Sache vorstellen.

In der Zeit des Kalten Krieges gab es eine diffamierende Bezeichnung für diejenigen, die gegen die NATO-Aufrüstung waren: Fellow travellers, Mitreisende, die eigentlich im Zug des Feindes sitzen. Die Herrschenden haben immer unterschätzt, dass wir weniger selbstlos sind, als sie denken, nicht nur "für den Frieden", sondern auch für eine andere Gesellschaft. Weil wir selbst etwas anderes, eine ganz andere Gewerkschaft wünschen, müssen wir in diesem Konflikt die NUHW unterstützen. Mindestens bis zur nächsten Kreuzung.


Anmerkungen:
1) Informationen über die NUHW finden sich auf www.nuhw.org
2) Ein Interview über den Film "Bread and Roses" findet sich auf:
www.vsp-vernetzt.de/soz/002416.htm

Eine gekürzte Fassung ist in ak 544 erschienen.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 544, 20.11.2009
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analyse & kritik erscheint monatlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2009