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ANALYSE & KRITIK/365: Nieder mit der Konzentration! - YouTube hat unseren Alltag revolutioniert


ak - analyse & kritik - Ausgabe 548, 19.03.2010

Nieder mit der Konzentration!
YouTube hat unseren Alltag revolutioniert

Von Jan Ole Arps


Wenn sich ein Fünfjähriger mit Sport und Politik beschäftigt, einen eigenen Sinn für Humor entwickelt und dazu sein eigenes Geld verdient, dann spricht man in der Regel von einem Wunderkind. So ist das auch bei YouTube. Am 15. Februar ist die Online-Plattform für Kurzvideos fünf Jahre alt geworden. Das Erfolgsrezept: YouTube ermöglicht es, kurze Filme kostenlos hochzuladen, anzusehen und in externe Seiten einzubinden. Heute werden jeden Tag pro Minute 20 Stunden Videomaterial auf YouTube gespielt, und geschätzte eine Milliarde Menschen schauen diese Filme an. Ich bin einer von ihnen.

Seit ich YouTube vor sagen wir drei Jahren kennen gelernt habe, muss ich zum Arbeiten meine Wohnung verlassen - sonst droht die Gefahr, dass ich mich mit den kleinen bewegten Bildchen ablenke. Zum Glück bin ich nicht der Einzige, dem es so geht. Studien schätzen, dass ein durchschnittlicher Büromensch täglich etwa 50 Webseiten besucht. Laut Wikipedia soll YouTube ca. zehn Prozent des gesamten Internet-Datenverkehrs beanspruchen.

Wurde die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit früher auf dem Weg vom und zum Arbeitsplatz überschritten, überschreite ich sie heute täglich dutzendfach auf meinem Schreibtisch. YouTube ist das Vehikel zur kurzen Flucht vor der Arbeit. Manche Unternehmen sind deshalb dazu übergegangen, den Zugang zu YouTube, Facebook oder Twitter zu sperren. Sie werden schon wissen, warum! Der von Marx bezeichnete "Kampf um die Poren des Arbeitstags" hat sich ins Netz verlagert.

Der Name YouTube steht aber nicht dafür, dass man pausenlos "in die Röhre" guckt. Sondern dass jeder Mensch (mit entsprechender Internetverbindung) das Programm mitgestalten kann. YouTube stellt die Logik des Fernsehens - ein Sender, viele Empfänger - auf den Kopf. Jeder Empfänger wird zum potenziellen Sender. Die NutzerInnen produzieren die Inhalte selbst - auch das kostenlos. Dabei kommen die tollsten Blüten zu Stande: Der Franzose Rémi Gaillard zum Beispiel, der als Schnecke verkleidet über Straßen kriecht (1) oder im Känguru-Kostüm PolizistInnen ihre Strafzettelhefte klaut. Selbst ich bekam schon einmal einen selbst gemachten YouTube-Clip zum Geburtstag!

YouTube steht für die Demokratisierung des Fernsehens und die Entmachtung der großen Sendeanstalten. Auch das Programm stellen sich die NutzerInnen selbst zusammen. Zwar werden populäre Videos schneller zum Anklicken empfohlen, aber im Prinzip stehen bei YouTube die Inhalte hierarchiefrei nebeneinander.


YouTube - Allzweckwaffe der Arbeitsscheuen

Natürlich spiegeln die bevorzugten Inhalte bei YouTube gesellschaftliche Vorlieben. Musikvideos zum Beispiel sind ein besonders beliebtes Format. So beliebt, dass es sie zur Zeit in Deutschland nicht mehr zu sehen gibt. YouTube liegt mit der GEMA im Clinch, die eine Abgabe pro gesendetem Musikvideo verlangt. Da es noch keine Einigung gibt, sperrte YouTube im April 2009 professionelle Musikvideos. Die Interessenlage in diesem Konflikt ist bizarr und verdient es, genauer betrachtet zu werden, denn sie illustriert, wie schwierig es nach wie vor ist, "mit YouTube Geld zu machen".

Da YouTube darauf basiert, dass jede und jeder Videos hochladen kann, kommt es reihenweise zu Urheberrechtsverletzungen. Weil YouTube gar nicht so schnell Inhalte löschen kann, wie die NutzerInnen sie hochladen, hat es eine andere Lösung gefunden: Plattenlabels können ihre illegal hochgeladenen Videos mit einem Werbespot versehen; so verdienen sie trotzdem etwas. Zudem schätzen viele Musik-Labels YouTube inzwischen als kostenlose Werbeplattform. Wem ein Lied auf YouTube gefällt, lädt es sich anschließend möglicherweise kostenpflichtig beim Musiklabel herunter - oder kauft das Album. Beide Einnahmequellen sind durch den GEMA-Streit blockiert. YouTube selbst schreibt übrigens noch immer keine schwarzen Zahlen.

Auch die linke Szene hat YouTube inzwischen für sich entdeckt. Dominierten anfangs verwackelte Demo-Aufnahmen von Polizeiübergriffen oder Straßenschlachten, ist heute kein größeres politisches Event mehr denkbar ohne Mobilisierungsclip. Noch ähneln die meisten Clips Flugblättern, die man einfach ins Netz verlegt: Einige Personen geben Erklärungen ab, dazu sind mehr oder weniger passende Bilder zu sehen. Manche Initiativen haben sich aber die Logik von YouTube zu Eigen gemacht. Die Initiative Squat Tempelhof, die im Sommer 2009 die Besetzung des stillgelegten Berliner Flughafengeländes plante, verwandelte ihre Schwäche in eine Stärke: Anstatt selbst einen zu machen, rief sie dazu auf, Mobilisierungsfilme zu produzieren und einzusenden. Die Resonanz war zwar noch schwach, aber die Ergebnisse sind sehenswert. (2)

Das erste politische Video, das ich auf YouTube gesehen habe, ist auf vergleichbare Weise entstanden: Im Jahr 2006 kam es in Barcelona zu breiten Protesten gegen knappen und unbezahlbaren Wohnraum. In dieser Bewegung entstanden zahlreiche kurze Filme, die die Misere aus persönlicher Sicht anprangerten. Einer von ihnen ahmt die italienische Sängerin Raffaella Carrà nach, die ihre aussichtslose Wohnungssuche beklagt - grandios! (3)

YouTube - ein Allzweckmittel für demokratischen Mediengebrauch, politischen Aktivismus und Sabotage am kapitalistischen Alltag? Ich finde: ja! Natürlich gibt es auch Konzentrationsübungen auf YouTube, die die Arbeitsproduktivität steigern sollen. Sollten solche Filme eines Tages mehr Klicks erreichen als private Pannenvideos, dann hat die marktkonforme Selbstdisziplin über die Flucht vor der Arbeit gesiegt. Bis dahin geht die Online-Revolte gegen die Arbeit weiter. YouTube, du mächtige Waffe in den Händen der Arbeitsscheuen und Prekären: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Anmerkungen:
1) www.youtube.com/watch?v=gHCxdlZ7G18
2) tempelhof.blogsport.de/video-contest/
3) www.youtube.com/watch?v=hGVPYUis7GY


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 548, 19.03.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2010