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ANALYSE & KRITIK/388: Schulkampf als Klassenkampf


ak - analyse & kritik - Ausgabe 551, 18.06.2010

Schulkampf als Klassenkampf
In Hamburg kämpft ein breites Bündnis für einen kleinen Schritt nachholender Modernisierung

Von Horst Bethge


Die an Heftigkeit zunehmende Auseinandersetzung um die Hamburger Schulpolitik ist weit mehr als ein Provinzkonflikt. Erstmals entscheiden in einem Bundesland die WählerInnen über die Richtung einer Schulreform: Soll schrittweise und flächendeckend die Primarschule eingeführt werden, also das gemeinsame Lernen in einer Schule für Alle bis Klasse 6, oder soll alles beim Alten bleiben? Vom 6. Juni bis zum 18. Juli gibt es dazu einen Volksentscheid, dessen Ergebnis erstmals in Hamburg verbindlich sein wird.

Der aktuelle Streit hat eine jahrelange Vorgeschichte. Kurz vor dem Bürgerschaftswahlkampf 2007/2008 setzte die Initiative "Eine Schule für Alle" - unterstützt von DGB, GEW, DIE LINKE, Grün-Alternativer Liste (GAL) und WissenschaftlerInnen - die Frage der Schulstrukturreform zur Überwindung der Dreigliedrigkeit auf die politische Agenda der Hansestadt. Man ging in die Stadtteile und sammelte Unterschriften. Die GAL führte den Wahlkampf mit dem Slogan "Neun macht klug", DIE LINKE mit "Eine Schule für Alle bis Klasse 10". Die Initiative scheiterte an der letzten Hürde vor dem Volksentscheid, u. a., weil inzwischen die GAL mit der CDU den neuen Koalitionssenat bildete und sich aus der Arbeit der Initiative zurückzog und es den Gewerkschaften nicht gelang, genügend UnterzeichnerInnen zu gewinnen.

Der neue schwarz-grüne Senat einigte sich auf einen Kompromiss: die Primarschule bis Klasse 6, dann ab Klasse 7 das Zwei- Säulen-Modell mit Gymnasium und Stadtteilschule (Haupt-, Real- und Gesamtschulen, Technische und Wirtschaftliche Gymnasien). Es sollte kein Sitzenbleiben und Abschulen mehr geben; Büchergeld und nachgelagerte Studiengebühren wurden gerichtsfest gemacht.

Darob erhob sich lauter Protest bei den Gutbetuchten, vor allem in den Elbvororten, dem Alstertal und den Walddörfern. Ihre Initiative "Wir wollen lernen" (WWL) unter Anführung des beinharten Rechtsanwalts Walter Scheuerl sah das Gymnasium und das Elternwahlrecht in Gefahr. Mit Hilfe des großen Geldes, der Springer-Presse, prominenter Besserverdienender und Adliger gelang es ihnen, 184.000 Unterschriften zu sammeln und einen Volksentscheid zu erzwingen.


Ole von Beust tadelt den Egoismus der Privilegierten

Trotz wochenlanger Verhandlungen mit der WWL und der Einschaltung des Versandhaus-Chefs Michael Otto als Schlichter blieb der Senat bei seiner Linie, besserte die Reform aber durch Einführung des Elternwahlrechts nach. Auch der dringende Appell der einflussreichen Handelskammer führte nicht zum Einknicken, steigerte aber die Unruhe am rechten Rand der CDU. Bürgermeister Ole von Beust kritisierte sogar öffentlich die Elite, die nur an ihre eigenen Kinder denke. Er wolle nicht, dass erst die Vorstädte brennen wie in Paris. Die WWL jedoch wollte um nichts in der Welt die flächendeckende Einführung der Primarschule akzeptieren und erklärte das Scheitern der Verhandlungen. Die Zeichen wurden auf Volksentscheid gestellt, der nun in den Wochen bis zum 18. Juli stattfindet.

Im März dieses Jahres änderten CDU/GAL/SPD und LINKE gemeinsam das gerade beschlossene Schulgesetz erneut: schrittweise Einführung der Primarschule bis Klasse 6 bis 2013, jetzt mit Elternwahlrecht (also können SchülerInnen auch entgegen der Schulempfehlung nach Klasse 6 ans Gymnasium wechseln), Wiederabschaffung des Büchergeldes, gesetzliche Senkung der Klassenfrequenzen bis auf 19 SchülerInnen in Problemgebieten. Zusätzlich wird ein Sonderausschuss der Bürgerschaft eingesetzt, der laufend die personellen, räumlichen und qualitativen Bedingungen evaluiert. Zusatzkosten: bis 72 Mio. Euro pro Jahr, Tendenz steigend. Der Frontverlauf ist seitdem klar: CDU/GAL/SPD/LINKE gegen WWL/Scheuerl, Bild, FDP, Handelskammer und NPD.

Mit Tönen, die an Haider und Berlusconi erinnern, verteidigt die Elite ihr Bildungsprivileg, das ja allenfalls angekratzt wird. Da wird der Untergang des Abendlandes beschworen und die Zerstörung des humanistischen Gymnasiums befürchtet, der CDU-Bürgermeister als Anführer der Volksfront bezeichnet. In den Clubs an der Alster, beim Klipper-Hockeyclub und bei Jacobs in Nienstedten rumort es. Schon stürzt die CDU in Meinungsumfragen um 14% ab. Die FDP, mit 4,6 % seit der letzten Wahl nicht in der Bürgerschaft vertreten, legt zu auf 9%. Die SPD-Führung, die sich lange gegen die Primarschule ausgesprochen hatte, schwenkte erst im letzten Moment um, während Teile der Partei Scheuerl unterstützen. Auch die SPD sackt in der Wählergunst ab: von 34% auf 28%. Im Fernsehen erklären UnterstützerInnen von "Wir wollen lernen" unumwunden, sie wollten nicht, dass ihre Kinder so lange mit den "Schmuddelkindern" zusammen in einer Klasse sitzen.

Dabei geht es schon nicht mehr um diese zwei Jahre längeren gemeinsamen Lernens. Sondern darum, ob ein kleiner Schritt nachholender Modernisierung von der Geldelite im Verein mit der Bild-Zeitung verhindert werden kann. Ob Reform in Richtung von etwas mehr sozialer Gerechtigkeit möglich bleibt. Ob ein Bündnis aus einem aufgeklärten Teil des Bürgertums, einem Teil der Sozialdemokratie, der Mehrheit der CDU, Gewerkschaften, WissenschaftlerInnen, der LINKEN und Schüler- wie Lehrerkammer die Klugheit aufbringt zusammenzuhalten. Ob es die Kraft entfalten kann, eine Mehrheit von 250.000 Wahlberechtigen an die Wahlurne zu bringen, um gegen Scheuerl zu stimmen. Die spannende Frage ist, ob der Aufstand der Elbvororte, des Alstertals und der Walddörfer, wo nur 5% der Kinder unter sechs Jahren von Sozialhilfen leben, beantwortet wird mit einem Aufstand der Hamburger Banlieues, wo die Hälfte der Unter-Sechsjährigen auf öffentliche Hilfe angewiesen ist. Ob "Unterschicht" und MigrantInnen gemeinsam kämpfen.


Eliten gegen Volksfront und Untergang des Abendlandes

Linke müssen sich aktuell in Hamburg erst einmal daran gewöhnen, dass es Konstellationen gibt, in denen ein gesellschaftlicher Reformschritt auch mal mit einem CDU-Bürgermeister gegangen werden kann - ein Schritt, den die neoliberal verkommene SPD gerade noch verhindern wollte. 72 Mio. Euro mehr pro Jahr für Bildung, das ist schon etwas. Büchergeld mit der CDU wieder abgeschafft, wo es anderswo sogar unter Mitwirkung von LINKEN eingeführt wurde, hat sogar etwas Pikantes. Zwei Jahre längeren gemeinsamen Lernens für alle als erster Schritt - dafür lohnt der Einsatz. Auch gerade von denen, die mehr und ein anderes Bildungssystem wollen.

Denn, wenn selbst jetzt in Hamburg die ersten kleinen Schritte nicht durchgesetzt werden können, wo denn dann? In NRW und Bayern z. B. hält die CDU ja immer noch erbittert an der Dreigliedrigkeit im Schulsystem fest. In NRW ist an dieser Frage die Sondierung mit der CDU geplatzt. Von Klassenfrequenzen mit 19 SchülerInnen träumt man anderswo. Es lohnt also, den Schulkampf aufzunehmen und dem Klassenkampf von oben entgegenzutreten. Die Frage, ob unsere Gesellschaft trotz tiefer Krisen überhaupt noch fähig zu sozialen Reformen ist, steht zur Entscheidung.


Horst Bethge, Lehrer a. D., Mitglied des Landesvorstandes und des Sprecherteams der BAG Bildungspolitik der LINKEN


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 551, 18.06.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010