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ANALYSE & KRITIK/412: Moshe Zuckermann über den Antisemitismusvorwurf als Herrschaftsinstrument


ak - analyse & kritik - Ausgabe 555, 19.11.2010

Wahlloses Wüten
Moshe Zuckermann über den Antisemitismusvorwurf als Herrschaftsinstrument

Von Jens Renner


In seinem neuen Buch behandelt Moshe Zuckermann, Professor für Geschichte und Philosophie in Tel Aviv, ein brisantes Thema: die Instrumentalisierung der Shoah und des Antisemitismusvorwurfs in der israelischen wie in der deutschen politischen Kultur. Eine deutsche Besonderheit besteht darin, dass nicht nur der politische und mediale Mainstream den Schulterschluss mit den jeweiligen israelischen Regierungen sucht, sondern auch die aus der Linken kommende Strömung der "Antideutschen". Ihnen wirft Zuckermann eine "regressive Vergangenheitsbewältigung" vor; ihre bedingungslose Identifikation mit Israel werde zum Fetisch. Indem sie jegliche Kritik an Israel als "Antisemitismus" niedermachten, schadeten sie zudem der Bekämpfung des realen Antisemitismus.

"Noch nie sind 'Shoah', 'Antisemitismus', 'Juden' und 'Judenhasser' so vollmundig zelebriert und mit Genuss öffentlich gefaucht worden. Noch nie ist der konstruierte Zusammenhang von Zionismus, Israel, Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt so weidlich instrumentalisiert, perfide ausgekostet und schändlich missbraucht worden wie im gerade abgelaufenen ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts." Im ersten Teil seines Buches belegt Moshe Zuckermann diesen Befund für Israel, im zweiten für Deutschland.

HauptdarstellerInnen auf dem deutschen Schauplatz der "anti-antisemitischen Farce" (Zuckermann) sind ExponentInnen der staatstragenden Parteien und der Mainstream-Medien; eine Nebenrolle spielt die kleine, aber lautstarke Strömung der "Antideutschen", die Zuckermann "enthusiasmierte Israelanhänger" nennt. Die von diesen propagierte "bedingungslose Solidarität" mit Israel schließt auch die Begeisterung für dessen Kriege mit ein - bei gleichzeitigem Bekenntnis zu "kommunistischer Kritik" und Bezugnahme auf Marx und Adorno.

Einer ihrer Wortführer, der Politikwissenschaftler und Jungle-World-Autor Stephan Grigat, bringt die von ihm konstruierte Identität von Kommunismus und Zionismus besonders verdreht auf den Punkt: Solange die klassenlose Gesellschaft nicht auf der Tagesordnung steht, gelte es, "an einem materialistisch zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativ festzuhalten: alles zu tun, um die Möglichkeiten auch präventiver Selbstverteidigung der Zufluchtstätte der Shoah-Überlebenden aufrechtzuerhalten." (zitiert in ak 517) Wer dem widerspricht, ist für die Antideutschen ein Antisemit. Der Feind steht links; ihn gilt es zu entlarven und anzuklagen, gern auch im Bündnis mit den staatstragenden Parteien und in der Springer-Presse.


"Gesinnungsabtrünnige", die sich "bellizistisch aufspielen"

Wie sich hier zusammenfindet, was ideologisch zusammengehört, wird in Zuckermanns Buch eindrucksvoll beschrieben. Schon in der Vorbemerkung hebt er hervor, dass die "Träger der anti-antisemitischen Farce" der "Bekämpfung des wirklichen Antisemitismus" schaden, weil sie durch ihr "wahlloses Wüten vom eigentlichen, historisch gewachsenen Problem dieser zum Paradigma der Menschenverachtung gewachsenen Zivilisationserscheinung ablenk(en)" würden. Darüber hinaus denunzieren sie die oppositionellen Kräfte, die in Israel gegen Besatzungspolitik und anti-arabischen Alltagrassismus kämpfen - aus Solidarität mit den Unterdrückten, aber auch aus Sorge um die Zukunft des eigenen Landes.

Die antideutschen "enthusiasmierten Israelanhänger" stellen sich damit gleich doppelt auf die falsche Seite - im Land der Täter ebenso wie im Land der Opfer. Dass in beiden politischen Kulturen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, eine "heteronome Instrumentalisierung der Menschheitskatastrophe", der Shoah, betrieben wird, hat Zuckermann schon früher nachgewiesen, u.a. in seiner erstmals 1998 erschienenen brillanten Studie "Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands". In seinem neuen Buch aktualisiert er diesen Befund, indem er öffentliche Interventionen israelischer Spitzenpolitiker analysiert: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Außenminister Avigdor Liebermann, Staatspräsident Shimon Peres.

Letzterer hatte am 27. Januar 2010, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, vor dem Deutschen Bundestag gesprochen. Die Rede hatte ein Nachspiel, als der Linkspartei-Abgeordnete Michael Leutert enthüllte, dass drei seiner Fraktionskolleginnen sich nicht an den Standing Ovations für den Redner beteiligt hatten. Während die deutschen Medien den neuesten linken "Antisemitismus"-Skandal witterten, tut Zuckermann das Naheliegende: Er untersucht die Inhalte von Peres' Rede und kommt zu dem Schluss, dass dieser dem Bundestag eine "Lehrstunde über die Geschichte des Zionismus und des Staates Israel" zugemutet habe, "ein ausgeklügeltes, tausendfach wiederholtes Narrativ und von Halbwahrheiten, Klitterungen und Entstellungen nur so strotzendes Ideologiekonstrukt". Nichts also, das theatralisch zur Schau gestellte Begeisterung verdient hätte.

Gleiches gilt für Angela Merkels Knesset-Rede im März 2008, die in dem staatsoffiziellen Bekenntnis zur "besondern historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels" gipfelte: "Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staaträson meines Landes." Zu Recht fragt Zuckermann, wie denn die deutsche Kanzlerin Israels Sicherheit zu gewährleisten gedenkt: Etwa indem sie "gegebenenfalls ihr Land in einen Nuklearkonflikt im Nahen Osten involvieren würde"? Oder hält sie "nur" die "Verschickung deutscher Soldaten an die Front konventioneller israelischer Kriege" für vorstellbar? Gregor Gysi, der Merkels Verständnis deutscher "Staaträson" gegenüber Israel für die Linkspartei übernehmen will (vgl. ak 530 und 533), täte gut daran, sich diese Fragen ebenfalls zu stellen.

Während Zuckermann auf Gysis einschlägige programmatische Rede "Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel" (April 2008) nicht gesondert eingeht, sieht er doch bei der Linkspartei generell einen "Gesinnungsruck auf den gesamtdeutschen Politkonsens zu". In Bezug auf Israel und den Nahostkonflikt scheint dieses Urteil etwas vorschnell. Recht hat Zuckermann in seiner - teils mit ätzender Polemik formulierten - Abgrenzung von den "Antideutschen": Hier sieht er "Gesinnungsabtrünnige" versammelt, die "unverhohlen den Kapitalismus begrüßen", "eigene linkslastige 'Jugendsünden' abstreifen" und sich "bellizistisch aufspielen". Auf den selbst formulierten Einwand, "dass hier ein randständiges Phänomen, mithin die Aktivität einer verschwindenden Minderheit hochgespielt und überbewertet werde", antwortet Zuckermann, es gehe "eben nicht mehr um eine Randerscheinung, sondern um einen weit übers lauthals Artikulierte grassierenden Ungeist, der sich in wesentlich mehr 'linken' Institutionen eingenistet und etabliert hat, als man gemeinhin bereit ist, sich selbst einzugestehen."


Fragwürdige psychoanalytische Deutungen

Ob Zuckermann hier das Gleiche tut, was er den "pseudolinken Antisemitenjägern" vorwirft - von Alarmbereitschaft in Alarmismus zu verfallen - muss einstweilen offen bleiben. Ziemlich gewagt ist seine psychoanalytische Erklärung für den Rechtsschwenk, mit dem aus ehemaligen Linksradikalen begeisterte AnhängerInnen der israelischen Besatzungspolitik, des Anti-Islamismus und der "Anti-Terror"-Kriege des Westens wurden: "Es wäre an der Zeit, fundiert zu untersuchen, was andeutungsweise längst behauptet wird: Inwieweit sich gerade bei 'Antideutschen' ein aus der eigenen Schuldabwehr gebildeter, vorbewusst pulsierender antijüdischer Affekt auf einen islamophob gespeisten Araberhass solcherart verlagert hat, dass nun beides zugleich möglich wird: unterschwellig verhasste, weil Schuld erzeugende Juden zu 'lieben', zugleich aber judenfeindliche Araber, mit denen man sich uneingestandenermaßen solidarisiert, zu hassen."

Weiter hinten macht Zuckermann aus dem, was er hier noch als Hypothese formuliert, bereits gesicherte Erkenntnis: "Ähnlich wie der Antisemit, der in allem Jüdischen paranoid eine Bedrohung gewahrt, weil er auf den Juden eigene Ängste und Lebensdefizite projiziert und sich mit ihm gerade darin heimlich identifiziert, erblickt der 'antideutsche' Juden- und Israelfreund in allem den drohenden 'Antisemitismus', auf den er das projiziert, was er sich selbst nicht eingestehen darf, gerade weil er sich mit ihm identifiziert: die eigene, in die Latenz verwiesene antisemitische Regung." Und weiter: "Was sie (die Antideutschen; Anm. ak) nicht an den Juden ausleben dürfen, sollen Juden an den Palästinensern austoben können."

Das ist starker Tobak. Richtig scheint, dass sich bei den Antideutschen "das Bekenntnis zu Israel als Fetisch erweist, bei dem nicht nur israelische Realität (und Aspekte des Zionismus) geflissentlich ignoriert werden, sondern Juden und Judentum abstrahiert werden ..." Hier zeigt sich in der Tat eine strukturelle Analogie zum Antisemitismus, wie Jean-Paul Sartre ihn in seinem berühmten Essay "Porträt des Antisemiten" beschreibt: Entscheidend für dessen Hass sei "die Idee vom Juden" ("l'idée de Juif"), also die Vorstellung, die er sich von Jüdinnen und Juden macht, nicht deren reales Verhalten.

Vor allem an zwei Beispielen aus Linksdeutschland, denen er jeweils ein Kapitel widmet, versucht Zuckermann seine These vom Antisemitismusvorwurf als Herrschaftsinstrument zu belegen: der Verhinderung von Claude Lanzmanns Film "Warum Israel" in der Hamburger Brigittenstraße im Oktober 2009; der Ein- und Ausladung Norman Finkelsteins durch die Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) Anfang 2010. Über ersteren "Fall" gibt es bis heute kontroverse Darstellungen. Offensichtlich handelte es sich um eine antizionistische Propagandaaktion gegen einen zionistischen Propagandafilm, die bei Israel-FreundInnen unterschiedlicher Couleur "ausufernde Hysterie" (so Zuckermanns Kapitelüberschrift) auslöste, u.a. in Gestalt einer Protestresolution mit dem Titel "Es darf keine antisemitische Filmzensur in Hamburg geben!". Unterschrieben wurde sie von PolitikerInnen der Grünen und der Linken, namhaften Intellektuellen aus dem In- und Ausland (u.a. Micha Brumlik, Serge und Beate Klarsfeld, Claude Lanzmann, Andrei Markovits, Moishe Postone) sowie deutschen Israelfreunden (Thomas Ebermann, Ralf Giordano, konkret, Matthias Küntzel, Thomas von der Osten-Sacken).

Zuckermann, der die Verhinderungsaktion prinzipiell legitim zu finden scheint, hat zwar Recht mit seiner Kritik an der "hysterischen" Gegenreaktion: "Man soll nie mit Kanonen auf Spatzen schießen: Die Munition könnte sich nämlich verbraucht haben, wenn es politisch und sozial ans Eingemachte geht." Weil diese Reaktion aber voraussehbar war, muss man den antizionistischen AktivistInnen zumindest massive politische Dummheit vorwerfen: Dem Anliegen ihrer "aktionistischen Inszenierung, die auf die aktuellen Verhältnisse in den Palästinensergebieten hinweisen sollte", haben sie einen Bärendienst erwiesen.


"Ausufernde Hysterie" und Verharmlosung

Über die Ausladung Finkelsteins durch die Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung ist in dieser Zeitung in drei Beiträgen kontrovers diskutiert worden. (vgl. ak 548 und 549) Zuckermann empört sich über die "hetzkampagnenartig orchestrierte Verhinderung des Auftritts Norman Finkelsteins in Deutschland", auch über die Leichtfertigkeit, mit der einige Antideutsche meinen den US-amerikanischen Juden Finkelstein, als "Antisemiten" entlarven zu müssen. Überschrieben ist das Kapitel mit "Vorauseilende Selbstzensur".

Ob das den Kern der Sache trifft, darf bezweifelt werden. (Mir scheint, die RLS hat, um einen Fehler - die Einladung des Provokateurs Finkelstein - zu korrigieren, mit seiner Ausladung einen weiteren, vielleicht noch schlimmeren Fehler gemacht.) Dass Zuckermann in beiden von ihm erörterten Fällen anti-antisemitischer Hysterie klar Stellung bezieht, ist zwar mutig und dem Charakter seines Buches angemessen: Eine politische Kampfschrift - und um die handelt es sich hier - braucht eine eindeutige "Positionierung"; und starke Worte, die bei Zuckermann allerdings in auffallendem Kontrast stehen zu sehr zurückhaltenden Formulierungen, wo es um den arabischen oder "islamisierten" Antisemitismus geht. Darin manifestiere sich "letztlich nichts als Ohnmachtsrhetorik der Verlierer", findet Zuckermann; und in Auseinandersetzung mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, lässt er einen Satz beginnen mit "So kritikwürdig die Ideologie der Hamas sein mag ..." Seine antideutschen Lieblingsfeinde werden sich über solche Verharmlosungen freuen.

Moshe Zuckermann hat ein wichtiges Buch geschrieben, das aufmerksam gelesen und breit diskutiert werden sollte. Dass es bei denen, die aus ihrer "bedingungslosen Solidarität" mit Israel eine Weltanschauung machen, Selbstzweifel auslöst, ist leider nicht zu erwarten.


Moshe Zuckermann: "Antisemit!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument.
Promedia Verlag, Wien 2010. 208 Seiten, 15,90 EUR


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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2010