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ANALYSE & KRITIK/463: Industriestaaten sind mitverantwortlich für die Hungerkatastrophe in Ostafrika


ak - analyse & kritik - Nr. 563 - 19.8.2011
zeitung für linke Debatte und Praxis

Unser Wirtschaftssystem ist nicht gerechtigkeitsfähig
Industriestaaten sind mitverantwortlich für die Hungerkatastrophe in Ostafrika

Interview von Ingo Stützle mit Anne Jung von der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international


Die Vereinten Nationen sprechen von der "schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt". Im Osten Afrikas sind über zehn Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht und benötigen dringend Hilfe. Die Medien interessieren sich jedoch viel mehr für das Auf und Ab an den Börsen und verhandeln die Hunger-Krise als Naturereignis und die Betroffenen als dessen Opfer. ak sprach hierüber mit Anne Jung von der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.


ak: In den Medien wird die Hunger-Krise in Ostafrika als Resultat der Dürre verhandelt - quasi als Naturkatastrophe ...

Anne Jung: Die jahrelange Dürre und die damit verbundenen Ernteausfälle haben maßgeblich zu der dramatischen Situation für die Menschen in Ostafrika beitragen. Doch es greift zu kurz, die Hungerkatastrophe am Horn von Afrika als Naturkatastrophe zu beschreiben. Vor allem die Verwüstungen des langen Krieges, die Interessen geleitete Politik von lokalen Warlords und ausländischen Armeen und die damit einhergehenden Vertreibungen haben die Versorgungssituation über Jahre verschlechtert.

Zudem ist es falsch, nach so vielen regenlosen Jahren und angesichts der ökologischen Veränderungen in der Sahelzone nur von Dürre zu sprechen. Vielmehr schreitet die Wüste voran, ganze Regionen trocknen aus. In der Hungersnot in Ostafrika zeigen sich die katastrophalen sozialen Folgen, vor denen uns Klimaforscher seit Jahren warnen.


ak: ak: Also ist die Krise nicht einfach Folge der Dürre?

Anne Jung: Der US-amerikanische Soziologe Mike Davis hat schon vor Jahren betont, dass Hungersnöte noch nie einfach Folge extremen Wetters waren. Dieses ist höchstens ein förderlicher Faktor. Hungerkatastrophen waren vielmehr eine Begleiterscheinung der gnadenlosen Anwendung der Prinzipien des liberalen Kapitalismus. Die Einbindung der Landwirtschaft in die globalen Märkte zerstörte lokale Strukturen der Nothilfe, die den Armen in Form von Getreidevorräten das Überleben ermöglicht hatten.

ak: Welche Gründe gibt es für die Preisexplosion bei Grundnahrungsmitteln?

Anne Jung: Maßgeblich verantwortlich ist der Anbau von Agrartreibstoffen. Zudem haben die Börsenhändler auf steigende Weizenpreise gesetzt, für künstliche Verknappungen gesorgt und damit die Preisentwicklungen verstärkt. Die Deutsche Bank hat schon 2008 unter dem Motto "Freuen Sie sich über steigende Preise?" auf Brötchentüten für das Geschäft mit dem Hunger geworben.

Schon ein geringer Preisanstieg auf den Weltmärkten führt zu Millionen neuen Hungernden, weil die Menschen die Preise einfach nicht mehr bezahlen können. Das nehmen die Börsenhändler billigend in Kauf. Die Liberalisierung der Märkte hat die Menschen verwundbarer gemacht. Tausende Kleinbauern und -bäuerinnen wurden in Ostafrika vertrieben, auch um den Anbau von Agrartreibstoffen voranzutreiben.


ak: Welche Rolle spielen bei der Hunger-Krise die westlichen Industriestaaten?

Anne Jung: Es handelt sich hier um einen Fall von unterlassener Hilfeleistung. Die Frühwarnsysteme funktionierten, wurden aber ignoriert. Es fehlt seit Jahren an politischem Willen, die Eskalation zu verhindern und die Hunger verursachenden Faktoren zu beseitigen.

Die Nutzung von Bodenflächen durch Investoren aus den Industrienationen hat die Versorgungslage in Ostafrika dramatisch verschlechtert. In Äthiopien zum Beispiel sind derzeit über vier Millionen Menschen von Hunger bedroht. Ackerland, das die Menschen ernähren könnte, wurde an potente Investoren aus Saudi-Arabien verpachtet oder sogar verkauft. In Äthiopien gehört der Boden dem Staat; es gibt keinen privaten Grundbesitz. Das ermöglicht der Regierung, Geschäfte auf dem Rücken der Bevölkerung zu machen. Die Menschen erfahren oftmals erst vom Verkauf des von ihnen bewohnten Landes, wenn sie vertrieben werden. Es ist Teil des Systems, dass sich daran einheimische Eliten genauso bereichern wie internationale Hedgefonds. Sogar die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen spricht hier von Neokolonialismus.

Die bis heute existente Macht der Warlord-Strukturen in Somalia ist auch ein Ergebnis ausländischer Interventionen, die primär der Wahrung eigener Interessen dienten. Die Überfischung der Gewässer vor der somalischen Küste durch europäische und asiatische Trawler hat zum Aufkommen der Piraterie beigetragen, die dann wiederum auch durch den Einsatz der Bundeswehr bekämpft wurden, um Handelswege militärisch zu sichern. Ohne die Piraterie verklären zu wollen: Der Fischbestand hat sich bis 2010 deutlich erholt, weil die Trawler wegblieben.

Somalia wurde seit den Attentaten vom 11. September nur noch unter dem Stichwort "Terrorbekämpfung" betrachtet. Die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung spielten dabei keine Rolle.


ak: Ist das Leitbild einer marktorientierten, wettbewerbsfähigen Wirtschaft für die betroffenen Länder Teil des Problems?

Anne Jung: Ja. Über Jahre hinweg wurden die arm gehaltenen Länder Afrikas gezwungen, funktionierende staatliche Subventionssysteme abzubauen. Am Horn von Afrika traf das zum Beispiel Kenia, das Subventionen für Getreide kürzen musste. Dadurch hat sich die lokale Versorgung stark verschlechtert.


ak: Welche Position vertritt die Bundesregierung?

Anne Jung: Erst kürzlich veröffentlichte die Bundesregierung ein neues Afrika-Konzept, in dem unter anderem betont wird, dass "Deutschland als eine der führenden Handelsnationen ein natürliches Interesse an freiem Welthandel" hat. Die Bundesregierung und die EU üben derzeit massiven Druck auf die Länder des Südens aus, Handelsbegrenzungen wie Exportsteuern für Rohstoffe abzuschaffen und ausländische Direktinvestitionen zu ermöglichen. Dabei sind die Zölle für die Regierungen oft die einzige Chance, nennenswerte Einnahmen zu erzielen. Die bräuchten sie dringend, um funktionierende Gesundheitssysteme aufzubauen und die Armut zu bekämpfen.

Sogar der Einsatz von militärischen Mitteln zur Deckung des steigenden Ressourcenbedarfs ist von der Bundesregierung eingeplant: Die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen" ist bereits heute eine verteidigungspolitische Begründung für mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Natürlich ist Somalia derzeit keiner der zentralen deutschen Handelspartner. Dennoch zeigt sich in dieser Strategie eine Grundhaltung dem afrikanischen Kontinent gegenüber, die aus unserer Sicht als Hilfs- und Menschenrechtsorganisation keine Chance beinhaltet, sich von der Abhängigkeit der Entwicklungshilfe zu befreien.


ak: Sind die katastrophalen Folgen der Politik den sogenannten Entwicklungsministerien nicht klar?

Anne Jung: Das Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit spricht mit Blick auf Afrika von Partnerschaft auf Augenhöhe. Aber die Politik der Europäer unter deutscher Federführung ist schlicht Erpressung. Entwicklungshilfe soll zunehmend vom Zugang zu Rohstoffen abhängig gemacht werden und wird auf diese Weise zum Instrument wirtschaftsliberaler Interessen. Gleichzeitig ist die EU nicht bereit, ihre Agrarzölle und -subventionen abzubauen. Hier kann von Partnerschaft auf Augenhöhe keine Rede sein.


ak: Wie sehen die regionalen und lokal organisierten Solidaritäts- und Hilfeleistungen aus? In der medialen Rezeption erscheinen die Hungernden vor allem als Opfer und als Objekte westlicher Hilfe ...

Anne Jung: Auch wenn es vielfach kolportiert wird: Es stimmt einfach nicht, dass die Opfer von Katastrophen völlig hilflos und unfähig zu eigenen Aktivitäten sind. Solche Mythen mobilisieren zwar die öffentliche Hilfsbereitschaft, führen aber immer wieder zu unangepassten Hilfeleistungen.

Inmitten dieser katastrophalen Situation ist es wichtig, auf lokale Strukturen zu achten. Es gibt viele Hilfsorganisationen in Ostafrika, deren Einschätzung der Lage und deren Vorschläge für gezielte Hilfsleistungen gehört und von uns unterstützt werden müssen.

Es finden auch lokale Spendensammlungen statt, wie zum Beispiel in "Klein-Mogadischu", einem Stadtteil von Nairobi, wohin viele Somalier schon vor langem migriert sind. Ins arme Kenia sind bereits über 100.000 Somalier geflohen und dürfen dort zunächst bleiben. Innerhalb Europas werden die wenigen Flüchtlinge, die es überhaupt hierher schaffen, hin- und her- und schließlich meist abgeschoben.


ak: Unterstützt medico international lokale Strukturen vor Ort?

Anne Jung: Ja. Wir arbeiten mit einer Organisation in Kenia zusammen, dem African Centre for Volunteers (ACV), die schon seit Anfang des Jahres in verschiedenen Regionen des Landes Zusatznahrung verteilt und das Basisgesundheitswissen verbessert hat, um den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. Die Organisation nun hat mit der Unterstützung von medico international ihre Arbeit auch entlang der Routen der somalischen Flüchtlinge im Distrikt Garissa ausgeweitet. Dort gibt es viele Dörfer, in denen Menschen bleiben, weil sie vor Entkräftung nicht mehr weiterkommen. Das ACV unterstützt einen gemeindeorientierten Ansatz.



ak: Was muss sich ändern?

Anne Jung: Es gibt immer noch eine paternalistische Grundhaltung, die den Mythos von der Hilflosigkeit der Opfer antreibt und das Eingreifen in deren Belange legitimiert. Hilfe in der Not und strukturelle Veränderungen zur Beseitigung der Ursachen von Hunger dürfen kein Akt von Wohltätigkeit sein, sondern eine völkerrechtlich bindende Pflicht.

Da die freie Marktwirtschaft vor kein Gericht gestellt werden kann, muss es die Aufgabe der Politik sein, das Börsengeschäft mit dem Hunger und den Anbau von Agrartreibstoffen zu verbieten. Das wird sie wohl nicht freiwillig tun. Daher muss der politische Druck der Öffentlichkeit zunehmen. Denn unser Wirtschaftssystem ist nicht gerechtigkeitsfähig.


Weitere Infos unter www.medico.de/ostafrika


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 563, 19.08.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2011