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ANALYSE & KRITIK/499: Occupy your life


ak - analyse & kritik - Nr. 577 - 16.11.2012
zeitung für linke Debatte und Praxis

Occupy your life

Sozialproteste haben in Deutschland nur mit Aktionsformen eine Perspektive, die eine Mikrophysik der Gegenmacht entwickeln

Von Kalle Kunkel



Kaum war Occupy in Deutschland angekommen, wurde die Bewegung schon totphilosophiert. Sie konnte sich in ihren Anfängen vor einem Jahr vor gut und weniger gut gemeinten Kommentaren kaum retten. Die meisten gestehen ihr zu, dass sie irgendwie das Richtige will. Zugleich sind sich alle darüber einig, dass unklar ist, was »die Bewegung« eigentlich will. Das hatte man schon ihren Vorgängerinnen in Spanien und den USA vorgeworfen.

In Deutschland herrschen sehr spezielle Bedingungen für eine Widerstandsbewegung wie Occupy. Bei einer Arbeitslosenquote, die unter Vorkrisenniveau liegt, und einer (noch) wachsenden Wirtschaft scheint es kaum Gründe für Protest zu geben. Diese Wahrnehmung wird jedoch dem Krisenverlauf in Deutschland nicht gerecht.

Zu Recht gibt es in der hiesigen Linken schon länger eine Debatte, die Krise weniger als eruptive Katastrophe zu interpretieren - mit überquellenden Schlangen an den Arbeitsämtern und zerlumpten Elendsgestalten an den Ausgabestellen der »Tafeln«. Vielmehr sei von einer Krise in Permanenz auszugehen, mit wachsender Prekarisierung: unsichere Arbeitsverhältnisse, ein Lohn, der nicht zum Überleben reicht und der staatlich aufgestockt wird, Befristung, Leiharbeit und Leistungsdruck.

Am Tag nach den ersten Occupyprotesten am 15. Oktober 2011 bot Spiegel Online ungewollt eine passende Artikelzusammenstellung: Neben einem zynischen Verriss der Proteste und einem Artikel über die neue Bankenschelte aus der Politik fand sich eine scheinbar zusammenhangslose Meldung, dass noch nie so viele Deutsche wegen psychischer Erschöpfung im Arbeitsleben nicht mehr bis zur Rente durchhalten.

Angstgetriebene Integration

Diese Zusammenstellung bringt den Charakter der deutschen Ökonomie auf den Punkt. Die Rahmenbedingungen sind inzwischen wohlbekannt. Die deutsche Wirtschaft wurde vor allem unter Rot-Grün auf Wettbewerbsfähigkeit getrimmt, die Reallöhne sanken, insbesondere in den unteren Lohnsegmenten, der Arbeitsmarkt wurde flexibilisiert, und die soziale und ökonomische Schere zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit ging weiter auseinander. Die realen Arbeitszeiten wurden ausgedehnt und die Krankheitstage gedrückt, die Risiken und Kosten für Krankheit und Alter privatisiert. Das Paradigma von »mehr Druck durch mehr Freiheit« kondensiert sich zur Angst, die nicht mehr nur die Bürotürme hochsteigt, wie das Manager Magazin 2009 titelte, sondern auch durch die Betriebe und Geschäftsstellen kriecht.

Ökonomisch war dieser Prozess bisher erfolgreich. Auch wenn er inzwischen auch an seinen eigenen Widersprüchen zu zerbrechen droht. Deutschland konnte sich dank einer massiven Mobilisierung der Gesellschaft auf Kosten europäischer Konkurrenten wirtschaftlich sanieren. Zugleich - und das ist zentral - sind die abhängig Beschäftigten prekär in das System integriert. In Deutschland ist die Krise eben nicht die Zeltstadt, in der die Arbeitslosen wohnen, weil sie, wie in den USA, ihren Hauskredit nicht bedienen konnten. In Deutschland ist die Krise nicht Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent, wie in Spanien oder Griechenland. In Deutschland besteht die Krise vor allem in einer radikalen Preissenkung qualifizierter Arbeit, einer Inwertsetzung niedrig qualifizierter Arbeit und einem Abbau sozialer Leistungen. In Deutschland ist die Krise »das überforderte Ich«, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine Ausgabe zum Thema Burnout betitelte.

Während also die Krise in den meisten Ländern zu einem massiven Desintegrationsprozess führt, gelingt in Deutschland eine angstgetriebene prekäre Integration. Gleichzeitig nutzt Deutschland diesen Prozess, um seine Vormachtstellung zu forcieren. Deutschland verfolgt eine Strategie der Konditionalität, wie sie sonst nur gegenüber Ländern des Trikonts zur Anwendung kam, um die europäischen Nachbarn nach deutschen Vorstellungen zu restrukturieren. Deutschland geht tatsächlich gestärkt aus der Krise hervor. So wie es die Bundeskanzlerin Merkel bereits vor Jahren ankündigte.

Gefühl der Austauschbarkeit

Die Erklärung, dass sich in Deutschland vor allem deshalb kaum Protest regt, weil es »den Leuten« noch zu gut gehe, greift nicht nur zu kurz, sondern führt in die Irre. Die Resonanz auf Occupy bringt das diffuse Unwohlsein zum Ausdruck, das eben nicht nur durch manifeste Desintegration geschürt wird, sondern auch durch die beschriebenen Prozesse der angstgetriebenen Integration. Es herrscht das Gefühl vor, dass es in diesem System auf einen selbst nicht mehr ankommt. Das Gefühl der Austauschbarkeit und der Bedeutungslosigkeit der eigenen Bedürfnisse angesichts einer bis in die Lebensrealität von Betrieb, Wohnung, Gesundheit oder Bildung durchregierenden Macht des Marktes - des Fundaments der Angst.

»Den Druck der Finanzmärkte herunterzubrechen auf jeden einzelnen Mitarbeiter, das ist das Kunststück, das über das Überleben der Betriebe entscheiden wird« - so 2000 der damalige Präsident des Unternehmensverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegießer.

Der sichtbarste Ausdruck dieser Strategie ist der zunehmende Leistungsdruck. Dieser unterscheidet sich von dem Leistungsdruck des klassischen Fordismus durch die Indienstnahme des Einzelnen in einem endlosen Prozess der Selbstmobilisierung. Ziel dieser Unternehmensstrategien ist es, passive wie aktive Verweigerung zu erschweren. Druck wird subjektlos gestaltet, nicht als Zwang erlebt und zunehmend ins Ich verlagert. Es gibt keine EntscheidungsträgerInnen mehr, sondern nur noch Ausführende struktureller Zwänge. Die Instrumente dafür sind budgetgesteuertes Management, Management durch Zielvereinbarung, ständige Vergleiche der Beschäftigtenperformance (Benchmarking) und der Zwang zur ständigen kollektiven Selbstrationalisierung (Qualitätszirkel). Jede Abteilung, jeder Arbeitsplatz wird zum Profitcenter, das über sein eigenes Schicksal durch die Aufrechterhaltung der individuellen »Wirtschaftlichkeit« entscheidet. Durch Outsourcing und netzwerkorientierte Unternehmensmodelle werden zugleich die an den Betrieb gebundenen Sicherungssysteme ausgehöhlt.

Gegen diese subjektivierenden Druckstrategien fehlt sowohl den Individuen als auch den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen bislang eine wirksame Widerstandsstrategie. Die politische Klassenformierung wird auf der gesellschaftlichen Ebene erschwert durch eine massive Individualisierung der Bewältigungsstrategien, mit denen abhängig Beschäftigte auf diesen Druck reagieren.

Die Folge ist eine »Krise ohne Konflikt«, wie es das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) beschreibt, das in Interviews einen weitverbreiteten perspektivlosen Antikapitalismus feststellt. (1) Dieser ist gleichzeitig von einem mitunter sehr klaren Bewusstsein über die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft geprägt, begleitet von gefühlter Handlungsunfähigkeit. Die KollegInnen wissen nicht, gegen wen sie sich wenden, an wen sie ihre Forderungen stellen sollen.

Occupy als mediales Phänomen

Angesicht der Rettung der »systemrelevanten Banken« wandelt sich das Gefühl, für dieses »System« bedeutungslos zu sein, zu einem manifesten Ungerechtigkeitsgefühl. Das Gefühl der Ohnmacht verschafft sich bei Occupy zunächst einmal eine öffentliche politische Repräsentation, die so diffus ist wie das Gefühl der Ohnmacht selbst. Ausdruck hiervon sind die Verballhornungen der politischen Phrasen aus dem Bankenrettungsdiskurs: »They got bailed out - we got sold out«, skandierten die Protestierenden in New York. »Wir sind auch systemrelevant« ist ein beliebter Slogan in Deutschland.

Das sind die diffusen Ausgangsbedingungen für eine Krisenbewegung in Deutschland. Sie zwingen dazu, die politische Intervention sehr viel differenzierter zu denken, als dies in anderen Ländern notwendig ist, wo die politischen Angriffe klarer spürbar sind. Vor diesem Hintergrund ist es in der Tat eine offene Frage, ob sich Occupy tatsächlich von einem medialen Phänomen in eine reale soziale Kraft verwandeln kann.

Eine Strategie, dieser Bewegung Kohärenz und ein eigenes Profil zu geben, besteht darin, sie mit politischen Forderungen nach Regulation des Finanzmarktes und steuerlicher Umverteilung zu vereinen. Dies scheint das Mobilisierungs- und Deutungsangebot zu sein, mit dem Attac, Linkspartei, einige Gewerkschaften und die Sozialverbände die Impulse der Bewegung aufnehmen wollen - Stichwort Umfairteilen. Dieses »makropolitische Bewegungsmanagement« ignoriert jedoch die alltäglichen Ohnmachtserfahrungen, die die politische Apathie in Deutschland ausmachen und die Vielfältigkeit und Subjektivität der Motive und Widersprüche, die in dieser politischen Legitimationskrise zum Ausdruck kommen. Die Motivation speist sich vor allem aus dem Verlust der je eigenen gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit, aus der realen Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen des eigenen Handelns zu beeinflussen. Dieses Gefühl basiert jedoch auf konkreter alltäglicher Erfahrung in der Schule, im Betrieb, im Jobcenter, in der Uni, im eigenen Wohnviertel.

Mikrophysik der Gegenmacht

Die wichtigste Herausforderung einer antikapitalistischen Linken unter den Bedingungen des beschriebenen neoliberalen (Re)produktionsregimes besteht in der Wiederherstellung von Handlungsmacht durch kollektive Aktion. Die kritische Psychologie spricht von verallgemeinerter Handlungsfähigkeit. Also der Fähigkeit, durch Kollektivität Einfluss auf die Spielregeln zu gewinnen, statt sich individuell von den Spielregeln das eigene Handeln diktieren zu lassen.

Diese Handlungsfähigkeit muss im Konkreten erfahrbar und erlebbar sein. Große gesellschaftliche Mobilisierungen können den Resonanzraum dafür erweitern. Die konkrete Praxis muss jedoch im Lokalen entwickelt werden. Entwickelt die Linke dafür keine Organisierungs- und Praxismodelle, braucht sie sich nicht zu wundern, warum ihre Mobilisierungen nicht über ihre eigenen Zirkel hinauskommen.

Es ist selbstverständlich richtig, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zum Gegenstand von Auseinandersetzung zu machen. Aber Gegenmacht muss tatsächlich von unten entwickelt werden. An den Orten, an denen die Menschen tagtäglich ihr Leben gewinnen und die zugleich die Orte sind, an denen sich das Kapital konkret verwertet und sich Herrschaft reproduziert. Bei der Zurichtung in Schule und Uni, der Ausbeutung im Betrieb und der Gängelung im Jobcenter sollten wir Formen verallgemeinerter Handlungsfähigkeit entwickeln. Eine antikapitalistische Linke, die politische Veränderung in gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen denkt, muss die entstehende Bewegung zu einer Bewegung der lokalen Kämpfe machen. Ansatzpunkte dafür gibt es genug: die Recht-auf-Stadt-Bewegung, betriebliche Kämpfe, die Kämpfe gegen die Schikanen im Jobcenter etc. Eine solche Mikrophysik der Gegenmacht, in der kollektive Handlungsfähigkeit konkret erfahrbar wird, ist die Grundlage, um die Frage der gesellschaftlichen Hegemonie überhaupt wieder stellen zu können.


Kalle Kunkel ist aktiv in sozialen Bewegungen mit Schwerpunkt Unipolitik und arbeitet als Organizer bei ver.di.

Anmerkung:
1) Richard Detje u.a.: Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierung im Betrieb - die Sicht von Betroffenen. Hamburg 2011.

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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 577, 16.11.2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2012