Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/259: Keine Bremse für die Gier - Agenda 2020 muss her!


Arbeiterstimme, Herbst 2012, Nr. 177
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Keine Bremse für die Gier - Agenda 2020 muss her!

Wie hiesige Fanatiker des Kapitals deren Sonne "ohn' Unterlaß" weiter scheinen lassen wollen



Mit dem Eintritt der Bankenkrise vor bald fünf Jahren hielten manche eilfertigen Betrachter des Zeitgeschehens das Ende des "neoliberalen Zeitalters" gekommen. Nach kurzer Schreckstarre vermochten aber Akteure und ideologische Begleitmusikanten des Finanzkapitals die finanzielle Stützung des Bankensektors mit staatlich bereitgestellten Steuermitteln aus ohnehin schuldenstrapazierten Staatshaushalten in eine verschärfte "Staatsschuldenkrise" umzudeuten, in deren Folge insbesondere südeuropäische EU-Staaten erleben, wie mit sozialen Restriktionen gegen die breite Masse der Bevölkerung Staatshaushaltsbilanzen auf die Verschuldungsgrenze von 60 % des Bruttoinlandsprodukts herabgedrückt(1) werden. Verbarg der Leitbegriff "Wettbewerbsfähigkeit", und zwar, seit drei Jahrzehnten das Ziel, den nach 1950 erreichten durchschnittlichen Wert der Arbeitskraft in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zugunsten ungehemmterer Verwertungsbedingungen des investierten Kapitals abzusenken, sehen gerade jetzt in der umso dräuender zutage tretenden allgemeinen Überakkumulationskrise die ungenierten Fanatiker der erleichterten Profitmacherei die Situation als günstig, den eingeschlagenen Weg, den die Agenda 2010 des SPD-Kanzlers Schröder mit den Hartz I-IV-Gesetzen ebnete, ohne Irritation weiterzuverfolgen. Unter Bezug auf die angebotstheoretischen Ideenstifter in der OECD, beim Institut der deutschen Wirtschaft und "weisen" Experten in Gremien und Parteien entwarfen Redakteure der Wirtschaftsredaktion der Welt am Sonntag einen "Masterplan" für die "deutsche Politik", zumal "die Gelegenheit günstiger ist denn je", und sie stellen fest: "Populistische Gruppierungen wie die Linkspartei schwächeln, sachorientierten Debatten steht eigentlich wenig im Weg."(2) So schön in Fahrt, liegt die Peilmarke Agenda 2020 gar nicht so fern, um weiterzumachen wie bisher.

Denn "der fatale Fehler moderner sozialstaatlicher Demokratien ist es, dass man sich auf den Lorbeeren erfolgreicher Reformen ausruht", weiß der haushaltspolitische Sprecher der FDP, Otto Fricke, und in seinem Sinne formulierten die WamS-Redakteure einen 15-Punkte-Plan, dessen Stoßrichtung wir hier in der Reihenfolge seiner sozialen Auswirkungen auf die BRD-Gesellschaft benennen wollen. Höchstwahrscheinlich wird in der Regierungskoalition zum Jahresende 2013 die FDP nicht mehr vertreten sein; die Enttäuschung über die dann so oder so exekutierte prokapitalistische Politik mit womöglich duldender Stützung durch die Linkspartei wird den medialen Ruf nach den Agenda-Rezepten um so lauter erschallen lassen, denn alles andere "schafft eben keine Arbeitsplätze" - umso mehr im lahmenden Wachstum eine stagnative Tendenz nicht weichen will.


Hartz IV

Die "Masterplaner" konzedieren die Schwierigkeit für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte, einen Job zu finden, wo sie "deutlich mehr" verdienen als das, was ihnen der Staat an Stütze überweist. Ein verworfenes Konzept der "Wirtschaftsweisen verdient es, wieder hervorgeholt zu werden. (...) Senkung des Hartz-IV-Satzes für erwerbsfähige Leistungsbezieher um 30 Prozent (...). Dafür sollen die Hartz-IV-Bezieher mehr Geld behalten können, wenn sie durch eigene Arbeit etwas dazuverdienen." Sofern der Leistungsbezug staatlicherseits die Mietzahlung für einen festen Wohnsitz zur privaten Reproduktion der Arbeitskraft absichert, stände der Ausbreitung des Tagelöhnerwesens wenig entgegen. Da Hartz-IV-Bezieher krankenversichert sind, würden die noch minimal sozialversicherten 400-Euro-Jobs in Auflösung geraten, erhebliche Teile des Teilzeitstellenmarktes verschwinden. Obwohl die "Masterplaner" wissen: "Der Kombilohn ist schon heute im Hartz-IV-System angelegt. Mehr als eine Million 'Aufstocker' leben von Arbeitslosengeld II und einem Hinzuverdienst", der allerdings nur einem "Taschengeld" entspricht, beabsichtigen sie mit mehr "Taschengeld" die Bettelei um Stundenverdienste bei abgesenkten Fürsorgeleistungen, die eben Obdachlosigkeit noch vermeiden sollen. Ja, so gelingt der "Absprung aus Hartz IV" in Hartz V.


Altersgrenze/Rente

Das Abdriften grosser Anteile heutiger Lohnempfänger in die Altersarmut ist unter den jetzigen Voraussetzungen unausweichlich. Doch selbst ein Agendaposten Gnadenbrot ist nicht billig genug; Beiträge runter statt rauf! Wer noch nach Sechzig zwanzig Jahre länger leben will und nicht früher sterben, muß dann eben ein paar Jahre länger machen. Und vielleicht stirbt man gerade deswegen dann doch ein wenig früher. "Noch größer wäre der Effekt allerdings, wenn man die starre Altersgrenze einfach abschaffte". Warum nicht bis 80 arbeiten, wenn man die mickrigen Rentenansprüche so aufbessern kann, besser noch ihre Auszahlung hinauszögert. "Dies entlastet zum einen den Sozialstaat" und vor allem die Unternehmer, die mit geringeren Beitragszahlungen ihre Bruttolohnzahlungen verringern können. Über letzteres schweigen sich die "Masterplaner" jedoch diskret aus, denn darum geht es im Kern bei der ganzen Renten- und Demographieangstmache.


Gesundheit

Die "Masterplaner" bedauern das Versäumnis von "Union und FDP", die Kopfprämie in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht eingeführt zu haben; statt prozentualem Verdienstbeitrag bleibt die Gleichmacherei zugunsten der "Besserverdienenden" aus. "Die Chancen waren besser denn je, doch es fehlte der Mut." Da bleibt dann nur "ein sparsamerer Umgang mit dem knappen Geld", vor allem die direkte finanzielle Beteiligung der Patienten mit Zuzahlungen, soweit sie sich das leisten können. Von "Kostenbewußtsein" der Behandlungsinstanzen, die nur mit mehr Behandlungsfallzahlen höhere Erlöse abrechnen können, ist auch hier nicht die Rede. Doch Obacht: Die private Krankenversicherung könnte "zwangsreformiert" in eine Einheitsversicherung überführt werden. Wem schadet und wem nutzt das? Der Einsicht, privat geht vor Staat, ist daher wieder mehr Nachdruck zu verleihen. "Die Liberalisierung von vormals geschützten Märkten in der Telekommunikation und im Energiesektor sowie die Privatisierung (exakter: Kapitalisierung) staatlicher Monopolunternehmen wie Telekom, Post oder Lufthansa haben den Wettbewerb beflügelt und das Wachstum getrieben." Zu wessen Nachteil, davon wissen die Beschäftigten bei Bahn und Post ein Lied zu singen, ja selbst die Kunden und Nutzer bei Post und Bahn. Der aktuelle Abwehrstreik der Flugbegleiter bei der Lufthansa ist das jüngste Beispiel gegen Renditetreiberei durch Lohndrückerei. Die "Masterplaner" sehen "die Uhr wieder zurückgedreht", Städte "rekommunalisieren" wieder Strom- und Wasserversorgung, wo es doch Zeit wäre für einen "neuen Privatisierungsschub". Die "immer noch staatliche Beamtenbahn" (?) gehört "endlich an die Börse". Vielleicht kann ein vierteljährliches Praktikum als Zugbegleiter oder am Postschalter die Realitätsverweigerung der "Masterplaner" kurieren, inklusive Einkommensdifferenz zum Redakteursgehalt.


Familie

Das Dickicht familienpolitischer Leistungen zu durchforsten, dürfte manch Überflüssiges erübrigen. Durchaus zu Recht wenden sich die "Masterplaner" gegen "das Elterngeld oder das jetzt geplante Betreuungsgeld für Eltern, die auf einen Krippenplatz verzichten." Dafür sollten steuerrechtlich "Eltern mehr von ihrem selbstverdienten Geld behalten", der Staat also auf Steuereinnahmen verzichten, dennoch aber die "bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch ein umfassendes Betreuungsangebot" fördern. Für "eine höhere Frauenerwerbstätigkeit" muß dann auch der "Fachkräftemangel" (?) herhalten, wobei es doch eher darum geht, die Konkurrenz auf dem Stellenmarkt zu verschärfen. Darauf zielt auch ein Punktesystem für Immigranten, wäre doch "der Nutzen für die hiesige Wirtschaft noch viel größer, wenn die Zuwanderung gezielt nach dem Bedarf des Arbeitsmarktes gesteuert würde." Statt ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsländer, wo sie vielleicht dringend gebraucht werden, "sollten ausländische Absolventen deutscher Universitäten grundsätzlich zum Bleiben motiviert werden, (...) damit Deutschland im weltweiten Kampf um kluge Köpfe mithalten kann." Auf dem Weltarbeitskräftemarkt zählen eben die Qualifikationen und nicht die naive Menschheitsumarmung libertärer Grenzöffner. Wie viel Punkte eine Einreise ermöglichen, "wird je nach Beschäftigungslage variiert."


Kündigungsschutz

Genauer gesagt, geht es hierbei um Kündigungsfristen - denn Kündigungsschutz an sich ist eine Fiktion. Wer heuern will, muß rascher feuern können, wobei die "Masterplaner" wissen, dass die Unternehmer "auf Zeitarbeiter und befristete Beschäftigung" ausweichen. Warum nicht den gesetzlichen Kündigungsschutz durch ein "Abfindungsmodell" ersetzen, so daß der Gekündigte "bei der Kündigung auf eine Klage" verzichtet? Mehr Beschäftigung schafft das nicht - für einen, der rausfliegt, kommt der nächste, usw. Unternehmensberater wissen: Der beflissen gesenkte Blick des "Mitarbeiters" erhöht nicht die Identifikation mit dem Betrieb. Aber wenn erst alle dauernd gefeuert werden, fallen auch die Ansprüche auf Abfindungen weg. Das Job-Center muß dann gleich Lohnersatz- oder Fürsorgeleistungen zahlen.


Bundesländer/Kommunen/Steuern

Ob das Aufgehen kleinerer Bundesländer wie Bremen oder das Saarland in angrenzende Länder aus der klammen Kassenlage heraushilft, bleibt fraglich: Schuldenlasten werden nur verschoben, aber Veto-Mehrheiten im Bundesrat gegen falsche bundespolitische Vorhaben aus Berlin unwahrscheinlicher. Die Zuweisung von mehr Steuergeldern an die Gemeinden klingt gut, aber die "Masterplaner" möchten die Gewerbesteuer lieber gleich abschaffen. Mit flexibler Einnahmepolitik (zu wessen Lasten?) soll es zum "Wettbewerb zwischen den Kommunen kommen"; nur auf welchem Gebiet? Den niedrigsten Steuererhebungssätzen, das bunteste Kulturangebot, die breitesten Straßen, dem teuersten Philharmoniebau? Generell gilt: Schon die Debatte über vermögensbezogene Steuerpläne "schadet dem Wirtschaftsstandort!" Denn trotz Schuldenbremse im Grundgesetz wächst die Gefahr, über Steuern "die Einnahmen immer weiter zu erhöhen, weil man nur so unpopuläre Ausgabenkürzungen vermeiden kann." Eine "Staatsbremse" wäre angebracht, um "bei Mehrausgaben an der einen Stelle immer entsprechende Minderausgaben an anderer Stelle" zu tätigen. Vorbild ist Österreich: Die Alpenrepublik ergänzte die Schuldenbremse in der Verfassung mit einer "Ausgabenbremse" und erhielt dafür "international Applaus". Von wem denn? Gewiss Brüdern und Schwestern im Geiste unserer "Masterplaner".

Die Leser mögen sich fragen: Ja, aber ist das alles so umstürzend neu? So zu denken, läuft auf die schulterzuckend resignative Hinnahme dieser jahrzehntelang gepredigten Einsparideologie hinaus, die einer Minderheit von Vermögenden die Berechtigung zum Aneignen immer größerer Teile vom Wirtschaftsergebnis im Ganzen verschafft. Die schleichende Eingewöhnung an diesen Zustand ist es, die seinem Fortbestand stille Akzeptanz der "Enteigneten" sichert. Immerhin reagierte das Internetportal Nachdenkseiten umgehend mit einem längeren kritischen Kommentar(3) und bemerkte: "Die Dosis der Rezeptur, die die Umverteilung von unten nach oben vorangetrieben und die Spaltung in Arm und Reich vertieft hat, die Lohn- und Steuerdumping ermöglicht hat, prekäre Arbeit zur Normalität werden ließ und den Abbau des Sozialstaats forciert hat, soll einmal mehr erhöht werden." Die Kritik des Autors W. Lieb an den "Masterplanern" bemängelt "ein unglaubliches Maß an Ignoranz (...) seit dem Lambsdorff-Papier vor nunmehr genau 30 Jahren nichts dazu gelernt haben, (...) wie sich der 'Wohlstand für alle' (Ludwig Erhard) erhöhen könnte." Aber darum kann es im Sinne eines "doch sie wissen nicht, was sie tun", nicht gehen; hinter der weiteren "Verschärfung des Austeritätsregimes" (W. Lieb) stehen Gesellschaftsbilder nach Schnittmustern der US-Republikaner. Ob das bereits so durchdacht ist, sei dahingestellt: Die Formen bürgerlicher Herrschaft erfinden sich immer wieder neu und bedürfen gar nicht der Außerkraftsetzung bürgerlicher Grundfreiheiten. Eine vermögensgespickte Oberklasse aus drei Prozent, die einem Drittel hochqualifizierter Gehalts- oder Lohnempfängern gehobene Konsumstandards zugesteht und den Rest der Bevölkerung im Hamsterrad minderentlohnter Arbeiten rödeln läßt, braucht nur noch etwas Sport und Spiele für die Herrschaftssicherung auf unabsehbare Dauer.

Projekt Arbeiterpartei
Göttingen, 04.09.2012


Anmerkungen:

(1) "Der Portugiese, der sein Frühstück in einem Café einnimmt, zahlt dort 23 Prozent Mehrwertsteuer. Vormals waren es elf Prozent. 15 Prozent sind inzwischen arbeitslos. Wer noch eine Arbeit hat, muss ohne Lohnausgleich Überstunden machen und hat vier gesetzliche Feiertage eingebüßt. Eine Reform des Arbeitsmarktes hat seine eventuelle Entlassung 'flexibler' gestaltet und seine potentielle Abfindung gekürzt. Wenn der Arbeitnehmer für den Staat arbeitet, verliert er in diesem Jahr das Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Rentner haben ebenfalls über verringerte Einnahmen zu klagen.

Alle zusammen treffen die Preiserhöhungen bei Strom, Benzin, öffentlichen Verkehrsmitteln und Grundnahrungsmitteln. Und wenn ein Portugiese zum Arzt geht, zahlt er seit Januar fünf Euro pro Konsultation, etwas mehr bei Fachärzten und bei der Notaufnahme zwanzig statt zuvor zehn Euro. Die Gesichter der Betroffenen, die sich gelegentlich mit Blutspenden ein Zubrot verdienen, spiegeln die Depression, die in der Wirtschaftsflaute viele erfasst hat."
(FAZ 04.08.2012)

(2) Welt am Sonntag vom 26.08.2012;
http://www.welt.de/108793784 - 26.08.12

(3) nachdenkseiten.de vom 27.08.2012.
Das von der politischen Linken oft genutzte Bild der "Umverteilung von unten nach oben" wird auch hier bemüht. Angesichts der Tatsache, dass von unten nicht nach oben umverteilt werden kann, was gar nicht unten ankam, sondern gleich oben hängen blieb (Profite, Grundrente, Kapitalzinsen.), liegt hier eine gedankenbequeme Selbsttäuschung vor.

Die Sprünge der Brutto-Unternehmens- und Vermögenseinkommen von 345,5 Mrd./199l auf 440,2 Mrd./2001 u. 660 Mrd. Euro/2008 (siehe Statistisches Taschenbuch 2010 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales) entziehen sich solch populistischen Spruchweisheiten.

*

Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 177, Herbst 2012, S. 16-18
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2012