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ARBEITERSTIMME/268: Neuer Normalarbeitstag - Kurze Vollzeit für Alle!


Arbeiterstimme Nr. 179 - Frühjahr 2013
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Neuer Normalarbeitstag: Kurze Vollzeit für Alle!

Nur der Sechs-Stunden Tag erbringt historischen Fortschritt



Manchmal durchdringt für einen Tag die Stimme der gesellschaftlichen Vernunft das mediale Dauerrauschen aus imperialer Verkündung, Unternehmerideologie und belanglosen Sportereignissen. Für einen FDP-Sprecher sogleich ein Rosenmontagsscherz, appellierte ein offener Brief der Professoren Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat zu Mitte Februar an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände und Kirchenleitungen in Deutschland um durch "eine faire Verteilung der Arbeit durch eine kollektive Arbeitszeitverkürzung" in Form der 30-Stunden-Woche tatsächlicher Vollbeschäftigung wieder eine Chance zu geben. Denn in Deutschland sind derzeit, "wenn wir nur die nicht freiwilligen Teilzeitbeschäftigten und geringfügig Beschäftigten mitrechnen, circa sechs Millionen Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Während viele Menschen unter psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit in Form von Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen etc. leiden, (...) nehmen Stress, Burnout, psychosomatische und chronische Erkrankungen" bei den Beschäftigten in den Betrieben "dramatisch" zu. Die Angst vor Erwerbslosigkeit befördere Unterwürfigkeit und die Bereitschaft zu Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitshetze. Entsprechend nimmt die Fähigkeit der Gewerkschaften ab, reelle Arbeitsbedingungen abzusichern oder durchzusetzen. Mit der Verknappung von Arbeit auf die 30-Stunden-Woche in allen denkbaren Arbeitszeitformen "bei vollem Lohn- und Personalausgleich" erhoffen die Initiatoren der Initiative eine Abminderung des gegebenen Zustands und die Vermeidung zunehmender Erwerbslosigkeit durch jährliche Produktivitätssteigerungen. Da eine Bewegung im o. g. Sinne "nicht von den Beschäftigten und ihren Betrieben" ausgehen kann, ist eine konzertierte DGB-Kampagne mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen gefordert, um der "betriebswirtschaftlichen Rationalitätsfalle" zu begegnen.

Wenn von Arbeitszeitformen die Rede ist, ergibt ein Blick in die Erwerbstätigenstatistik bemerkenswerte Veränderungen. Die Vollzeitbeschäftigung bei Männern wie Frauen wies seit 1960 in der BRD-West bei leichtem Zuwachs von zwanzig bis über einundzwanzig Millionen lohnabhängig Beschäftigte 1991 aus. Dazu setzte seit Anfang der sechziger Jahre(1) ein starker Trend zur Teilzeitbeschäftigung vornehmlich bei Frauen ein, deren Anzahl von circa einer Million innerhalb von dreißig Jahren fast auf das Vierfache anwuchs; weitaus schwächer aber dennoch verdoppelt bei Männern auf über 400.000 (1991 insgesamt 4,43 Millionen) nach dem vollzogenen Anschluss des Ex-DDR-Gebietes seit 1991 gewinnt der Trend der Beschäftigungsformen einen noch auffälligeren Verlauf: Die Zahl der lohnabhängigen Vollzeitbeschäftigten sackt seit jenem Jahr von über 29 Millionen um bald sechs Millionen auf 23,9 Millionen bei Zuwachs von fast 0.4 Millionen 2011 ab. Entsprechend fiel das verausgabte Arbeitsvolumen im genannten Zeitraum von 47,6 Milliarden Arbeitsstunden auf rund 39,7 Milliarden Arbeitsstunden. Von Jahr zu Jahr nahm dagegen die Zahl teilzeitbeschäftigter Lohnarbeiter zu: Innerhalb von zehn Jahren kam es zu einer Verdoppelung von 5,8 Millionen 1991 auf fast 10 Millionen 2001; bis 2011 beförderte die Hartz I - IV-Gesetzgebung einen Anstieg auf 12,6 Millionen Selbständige und Mithelfende legten nach 1991 von 3,5 Millionen auf 4,5 Millionen zu und weiteten ihr geleistetes Arbeitsvolumen seitdem von 8,3 auf 9,4 Milliarden Arbeitsstunden aus. Im Verhältnis zu den Vollzeitbeschäftigten stieg das Arbeitsvolumen der Teilzeitler ähnlich einer kommunizierenden Röhre von 3,8 Milliarden Arbeitsstunden 1991 auf mehr als acht Milliarden Arbeitsstunden 2011 an. Der als großer Erfolg gefeierte Anstieg der Erwerbstätigenzahl fußt bei näherem Hinsehen insbesondere auf der bewussten und gezielten Ausbreitung von Teilzeitbeschäftigung, teilweise gesponsert mit Steuergeldern seitens der Job-Center, um wenigstens das Hartz-IV-Leistungsniveau zu erreichen. Öffentlich nicht verhandelt wird aber die entscheidende Zahl: Das von den Erwerbstätigen insgesamt erbrachte Arbeitsvolumen nimmt bei begrenzten konjunkturellen Schwankungen stetig ab. In den letzten zwanzig Jahren erfolgte eine Schrumpfung von circa 60 Milliarden auf rund 58 Milliarden Arbeitsstunden, wobei der neuerliche Anstieg 2011 der konjunkturellen Erholung nach 2010 zu verdanken sein dürfte. Die Zunahme der Produktivität pro Arbeitsstunde um circa 10 % innerhalb von fünf Jahren macht das erklärlich. Betriebsschließungen oder Verlagerungen ins Ausland senken das Arbeitsvolumen zusätzlich ab. Aber in der Gesamttendenz ist erkenntlich, dass der Produktivitätsfortschritt seit 1985 es ermöglicht, statt damals mit drei heute denselben Produktausstoß mit zwei Beschäftigten zu erzielen. Nach wie vor kommen entwickelte kapitalistische Gesellschaften zu ihrer Reproduktion mit immer weniger Arbeitsaufwand aus. Auch die auf Lohndrückerei gestützten Exportoffensiven des BRD-Kapitals können nicht mehr die Wachstumsraten hervorrufen, mit denen Vollbeschäftigung erreichbar schiene. Der numerische Anstieg der Erwerbstätigen auf über vierzig Millionen in 2011 resultiert vorwiegend aus dem gezielten Anstieg der Teilzeitbeschäftigung, mithin der Form verkürzter Arbeitstage mit dem Nachteil verkürzter (Brutto-)Einkommen und damit einhergehender Rentenminderung der jeweiligen Beschäftigten. Allgemeine Arbeitszeitverkürzung als Todsünde an der Prosperität verwerfen und sie gleichzeitig einem Drittel der Lohnabhängigen und hiervon dreiviertel Frauen aufzwingen - das ist die arbeitszeitpolitische Methode, mit der mehr als ein Siebtel des derzeitigen Arbeitsvolumens kleingestückelt wird, um das Trugbild einer Wohlstandsökonomie aufrechtzuerhalten, die der Vollbeschäftigung nahe kommt.(2)

(...) "Was das Fabrikgesetz betrifft - als erste Bedingung, damit die Arbeiterklasse ellborowroom zur Entwicklung und Bewegung erhält - so fordere ich es von Staats wegen als Zwangsgesetz, nicht nur gegen Fabrikanten, sondern auch gegen die Arbeiter selbst. (S. 578 [MEW Band 23, die Red.], Note 52, deute ich den Widerstand der weiblichen Arbeiter gegen die Zeitbeschränkung an)."
Marx an Kugelmann 17. März 1868

Seitens der Unternehmerverbände und ihren Handlangern in den prokapitalistischen Bundestagsparteien war eine positive Reaktion auf das Ansinnen des "Offenen Briefes", per kollektiver Arbeitszeitverkürzung eine "rechnerische gesamtwirtschaftliche 30-Stunden-Woche" herbeizuführen, gewiss nicht zu erwarten. Mit Ausnahme der taz blieb der Beifall in ansonsten gewerkschaftlichen Anliegen gegenüber wohlwollend eingestellten Tageszeitungen wie FR/Berliner Zeitung, ja sogar der jungen Welt aus. Duckte sich die jw hinter dem Standpunkt eines verdi-Sprechers weg, der die Verteidigung erreichter Arbeitszeitregelungen für vorrangig erklärte, machte ein Schreiber bei FR und BLZ unter Berufung auf Stimmen aus der IG Metall ("Humbug aus der Mottenkiste") seine schroffe Ablehnung mit der abschließenden Bemerkung klar, die wieder belebte Idee der 30-Stunden-Woche für Alle "entstammt erkennbar dem Elfenbeinturm an der Akademie zu Wolkenkuckucksheim".(3) Auch der Einwand, Erwerbslose können "das durch Arbeitszeitverkürzungen frei werdende Beschäftigungsvolumen nicht einfach übernehmen, weil geeignete Qualifikation fehlt" (ebenda), wirkt vorgeschoben, denn die ließe sich, wo nötig, durch entsprechendes Training herstellen.

Direkt von einer Journalistin derselben Zeitung auf die Initiative angesprochen "Mehr als 60 Professoren und einige Gewerkschafter haben nun eine Gewerkschafts-Kampagne für die 30-Stunden-Woche gefordert. Sind sie dabei?"(4), wich der zweite Vorsitzende der IG-Metall, Detlef Wetzel, mit einem individualistischen Konzept aus. "Es ist echt gut, dass wir in einer Demokratie leben, in der jeder Vorschläge machen kann. Ich glaube aber nicht, dass das der beste Vorschlag ist. Was wir brauchen, ist mehr Zeit-Souveränität für die Beschäftigten. Die einzelnen Arbeitnehmer brauchen mehr individuelle Mitbestimmungsrechte. (...) Viele Eltern und Altere wollen kürzer arbeiten, viele Teilzeitkräfte wollen länger arbeiten. Derzeit können Arbeitgeber diese Wünsche in vielen Fällen einfach ablehnen, ohne Begründung. Das sollten wir ändern, und hier ist der Gesetzgeber gefordert. Wir brauchen Regeln, damit die Arbeitgeber sich mit den Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten befassen müssen und sie nicht einfach grundlos ablehnen können." (a.a.O.)

Dass ein Gewerkschaftsführer für die weiter individuelle Auflösung bereits stark fragmentierter Lebensführung innerhalb der Lohnarbeiterschaft eintritt, ist bemerkenswert.

Sollte Arbeit und Freizeit nicht in möglichst gemeinsamen Zeit-Bahnen gehalten werden, um der Atomisierung innerhalb der Klassenlage entgegenzuwirken? Zur Verweigerungshaltung der Gewerkschaftsvorstände, die keinen Drang in den Belegschaften nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung wahrnehmen und deswegen hierfür nicht mobilisieren wollen, äußert sich einer der Initiatoren, H.-J. Bontrup: "Wir erfahren nur indirekt, dass sie den Aufruf zurückhaltend ablehnen. Dafür habe ich kein Verständnis." Es werden Schutzbehauptungen aufgestellt, "um das Thema nicht anpacken zu müssen. Weil es bedeutet, massiv gegen Unternehmerverbände in den Konflikt gehen zu müssen. Wir hoffen, dass die Basis Druck macht"(5)

Dazu bedarf es klarer Zielvorgaben und keinen Bauchladen diverser Angebote, auf die sich Unternehmer wie Beschäftigte je nach Neigung "sozialpartnerschaftlich" einlassen könnten. Überlegungen wie sie M. Massarrat hegt, laufen darauf hinaus: "Die 30-Stunde-Woche kann in der Realität ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem was in einem Betrieb, machbar ist und was die einzelnen Menschen wollen. Möglich ist eine Vier-Tage-Woche, das hat Volkswagen jahrelang praktiziert und ist nicht zugrunde gegangen. Möglich sind Zeitkonten, auf denen Beschäftigte Arbeitszeit ansparen können, damit sie ein Sabbatical nehmen, oder einmal die Woche kürzer arbeiten können - auch das gibt es bereits. Denkbar wäre auch eine Kombination, kürzerer Wochenarbeitszeiten mit längeren Lebensarbeitszeiten."(6) Nein - wer als Ziel irgendwie irgendwo kürzer arbeiten vorgibt, wird in diesem eng gefassten Horizont ins Stolpern geraten. Vor bald 150 Jahren griff die Internationale Arbeiter-Association die Forderung nordamerikanischer Gewerkschafter nach dem 8-Stunden-Tag auf. In Deutschland realisierte erst die Novemberrevolution von 1918 dieses jahrzehntelang angestrebte Leitbild der Arbeiterbewegung. Unter Beibehaltung des 8-Stunden-Tages hielt vor bald 50 Jahren die Fünftagewoche Einzug in die industrielle Fertigung und selbst die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche bei Metall und Druck in den 80er Jahren dachte als eigentliches Kampfziel den 7-Stunden-Tag mit. Gerade weil es um die physische Entlastung von Schichtarbeitern und die arbeitsrechtliche Aufwertung der Teilzeitbeschäftigten geht, ist ein neues Arbeitszeitregime von sechs Stunden in vier täglichen Zeitkorridoren für Alle so zwingend notwendig - wenngleich im Sommer bei Hoch- und Tiefbau das klimabedingt anders aussehen mag. Eine kleine Revolution im Alltagsleben? Ja, warum nicht längst, nur diese würde den neoliberalen gesellschaftlichen Zwangskäfig einstürzen lassen. Und der Sozialstaat wäre auf sichere Arbeitsverhältnisse im Ganzen gegründet. Um zielsicheren Druck zu entwickeln, sind ferner polit-ökonomische Ungenauigkeiten zu vermeiden. Wenig reflektiert betonen die gewerkschaftliche Linke und auch der "Offene Brief" wiederum mit guter Absicht die Garantie des "vollen Lohnausgleichs". Damit verstetigen sie ungewollt den Glauben an den "Lohnfetisch"; die Einbildung, alle geleistete Arbeit, ob stündlich oder monatlich, würde vom Unternehmer oder Betrieb bezahlt. Ob jemand unmittelbar produktiv Güter herstellt oder dafür nur mittelbare notwendige Arbeit leistet - im arbeitsteiligen betrieblichen Zusammenwirken muss ein mehr dessen erarbeitet werden, was Produktionsmittel und Arbeitskraft für Nutzung und Verarbeitung in gegebener Zeit gekostet heben. "Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozess sind zwei verschiedene Größen. Der Geldbesitzer hat den Tageswert der Arbeitskraft gezahlt, ihm gehört daher auch ihr Gebrauch während des Tages, die tagelange Arbeit. Dass der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist wie ihr eigener Tageswert ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber nach den Gesetzen des Warenaustausches durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer. Der Arbeiter kostet also dem Geldbesitzer nach unserer Annahme täglich das Wertprodukt von sechs Arbeitsstunden, aber er liefert ihm täglich das Wertprodukt von zwölf Arbeitsstunden." Anders gesagt: "Dass nur sechs Arbeitsstunden nötig sind, um den Arbeiter während 24 Stunden am Leben zu halten, hindert diesen keineswegs, zwölf Stunden aus den vierundzwanzig zu arbeiten."(7) Mit dem Lohn bezahlt ein Betrieb den Wert einer Arbeitskraft, der ihren Reproduktionskosten entspricht, nicht jedoch die Nutzung oder den Gebrauch ihrer Fähigkeiten über eine bestimmte Zeit. Richtiger ist es demnach zu sagen: Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust, denn das Unternehmen verliert nur Arbeitsleistung, die es nichts kostete. Erbringen zusätzliche Arbeitskräfte die reduzierte Arbeitsleistung der vorher üblichen Arbeitszeit, steigt unbestritten der Lohnaufwand für den Betrieb und die Profitspanne wird kleiner. Die Vernachlässigung der analytischen Begriffsbildung in der politischen Linken führt eben zu den argumentativen Schwächen, die herrschender Ideologie nur moralisierende Hilflosigkeit entgegenzusetzen vermag. Klarheit in den eigenen Reihen ist somit erste Voraussetzung, um nicht im Ansatz bei der Durchsetzung eines Neuen Normalarbeitstages zu scheitern. Das ist gesetzlich abzusichern, wofür keine parlamentarische Mehrheit da ist. Auch sie zu erlangen, ist Teil des Kampfes um den Sechs-Stunden-Tag.

H. Z.


Fußnoten

(1) Zahlen nach Statistisches Taschenbuch 2010 und DGB arbeitsmarkt aktuell Nr. 02/ Februar 2012 /
(2) a.a.0. S.4
(3) FR 12.2.2013
(4) FR 16.2.2013
(5) taz 23.2.2013
(6) FR 28.2.2013
(7) Friedrich Engels, Anti-Dühring MEW 2O, S. 190

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 179 - Frühjahr 2013, Seite 32 bis 34
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2013