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ARBEITERSTIMME/285: Tschechien - Besiegte Sieger


Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Besiegte Sieger

Von Stepán Steiger



An der Oberfläche der tschechischen Innenpolitik - eine Ausnahme sind nur die üblichen Scharmützel zwischen Regierung und Opposition - ist es in den letzten Wochen sehr ruhig gewesen. Die drei Parteien, welche die Regierung bilden, nachdem sie die Parlamentswahlen gewonnen hatten, streiten natürlich unter sich unter den wachsamen Augen der Medien, doch Skandale, über die berichtet wird, stammen aus der Vergangenheit und und betreffen die heute Regierenden nicht. Diese Ruhe wurde plötzlich - plötzlich, obwohl das Datum schon lange bekannt war - durch die Wahlen ins Europaparlament unterbrochen.

Für die tschechische Öffentlichkeit ist "Brüssel" nicht nur geographisch, sondern besonders auch politisch zu weit weg, um allzu interessant zu sein. Man erfährt über die Milliarden, die "man" von der EU erhält - wobei die Medien mehr über die oft damit verbundenen Korruptionsskandale berichten als über das Europäische Parlament. Doch es gab - und es gibt sie auch heute nicht - keine regelmässige Berichterstattung, weder aus Brüssel noch aus Strassburg. Die tschechischen Europa-Abgeordneten treffen sich - Vielleicht - mit der Spitze ihrer Parteien in Prag, doch die Öffentlichkeit erfährt nicht einmal, ob es tatsächlich dazu kommt. Nie habe ich gehört oder gelesen, dass diese Abgeordneten ein breiteres Publikum über ihre Tätigkeit bzw. das Geschehen in Brüssel unterrichtet hätten. Kurz gesagt, es gibt keine politische Verbindung zwischen den Bürgern, die Abgeordnete für das europäische Parlament wählen, und den EU-Institutionen. Kein Wunder also, dass bei der Europa-Wahl, die in Tschechien am 23. und 24. Mai stattfand, die Wahlbeteiligung ganze 18% betrug (unterboten nur noch von der Slowakei, wo sie bei 13% lag).

Es gab überraschende Ergebnisse. Drei Parteien werden ins Europa-Parlament je vier Abgeordnete entsenden: die ANO genannte Partei des Milliardärs Babis, die Sozialdemokraten sowie die TOP 09-Partei (geführt vom "Fürsten" Schwarzenberg). Die ANO-Partei trat zu dieser Wahl das erste Mal an, da sie erst drei Jahre "alt" ist, in diesem Sinne war es tatsächlich ein Erfolg. Die Sozialdemokraten verloren - verglichen mit der Wahl vor fünf Jahren - drei Sitze (und scheinen auch in dieser Hinsicht sich auf einer absteigenden Linie zu befinden, wie es alle Umfragen in den letzten Monaten immer wieder beharrlich zeigen.) Das Land hat 21 Europa-Abgeordnete; ausser den erwähnten 12 sind noch drei Kommunisten, zwei Christdemokraten, zwei ODS-Parteimänner sowie ein Vertreter der Anti-EU Partei, genannt Freie Bürger-Partei, gewählt worden. (Die ODS, einst von Václav Klaus gegründet, jetzt nach dem Fall ihrer Regierung im Vorjahr fast am Abgrund, verlor sieben Sitze und hat nun nur noch zwei statt vorher neun.)

Die Gleichgültigkeit der tschechischen Wählerschaft "Europa" gegenüber ist zwar ein Warnzeichen sowohl für die Parteien als auch für die tschechische Politik allgemein. Und obwohl von den Medien angefacht, gibt es kein Zeichen, dass die Öffentlichkeit sehr interessiert an der Frage wäre, welche Partei "ihren" Eurokomissar in Brüssel ernennen würde - auch deshalb, weil ja nur die Regierung einen stellen darf (der übrigens auch Gefahr laufen könnte, abgelehnt zu werden). Die Parteien, die ihre Vertreter in Brüssel haben werden, könnten deshalb - obwohl sie die Wahl "gewonnen" haben - eigentlich als von der Gleichgültigkeit besiegt gelten.

Denn die Rückseite dieser politischen Münze ist die Lebenslage von Hunderttausenden der Bürger. Die Armutsschwelle - im monatlichen Einkommen ausgedrückt - ist 9.674 Kc (tschechische Kronen - 27,50 Kronen sind 1 Euro wert). Weniger als diese Summe haben im Vorjahr 885.900 Bürger Verdient - fast 9% der Bevölkerung. (Nach Angaben des Tschechischen Statistischen Amtes hat sich diese Zahl im Laufe eines Jahres um ganze 104.400 verringert, hauptsächlich durch steigende Löhne der Ärmsten.) 44,5% der Arbeitslosen sind von Armut - im amtlichen Sinne - bedroht, 4% sind auch tatsächlich arm. Das gilt auch für 6,1% der Senioren - falls sie nicht im Arbeitsverhältnis stehen. In dieser Gruppe steigt die Armut. Die meisten von Armut bedrohten Menschen leben in Nordmähren und im Nordwesten von Böhmen.

Während die Armutsrate, verglichen mit dem Vorjahr, gesunken ist, stieg der Anteil der Haushalte, deren Einkommen unter dem Lebensminimum liegt, von 3,8 auf 4,2%, unter den Arbeitslosen sogar auf 4,8%.

Es gibt keine Statistik, wieviele von den Arbeitslosen oder von jenen Bürgern, die von Armut bedroht oder bereits betroffen sind, nicht zur Europawahl gingen. Wir können jedoch verstehen, dass "Brüssel" für sie zu weit entfernt liegt und ihre Lage nicht ändern wird. Die jetzige Regierung verspricht dies zum Teil - sie hat ja noch fast vier Jahre vor sich, um dies zu beweisen.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014, Seite 13
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2014