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ARBEITERSTIMME/309: Hartz IV - Die wahren sozialen Folgen


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Hartz IV: Die wahren sozialen Folgen...

Ein Erfahrungsbericht aus Bremen


Die linke Tageszeitung junge Welt brachte am 15.4.2015 unter der Überschrift "Hartz IV: Über eine Million verhängte Sanktionen" einen Artikel zu einigen gravierenden Aspekten gegenwärtiger Hartz IV-Praxis, besonders im Hinblick auf die im Jahr 2014 verhängten Strafmaßnahmen in Rekordhöhe gegen "Regel verletzende" Arbeitslosengeld (ALG) II-Bezieher- und -Bezieherinnen. In derselben Ausgabe folgte noch ein Kommentar, geschrieben von der "Jobcenter-Rebellin" Inge Hannemann. Aufgrund ihrer couragierten Kritik als Arbeitsvermittlerin im Jobcenter von Hamburg-Altona an der gängigen Behördenpraxis gegenüber Arbeitslosen wurde sie 2013 vom Dienst suspendiert. Sie zog dagegen vors Arbeitsgericht, klagte auf Wiedereinstellung, das Verfahren endete mit einem Vergleich. Inge Hannemann ist nach der Landtagswahl im Februar dieses Jahres in Hamburg auf der Liste der Partei Die Linke als parteilose Abgeordnete in die Hamburger Bürgerschaft eingezogen. Ihr neuer Wirkungsbereich ist der Eingabenausschuss, außerdem ist sie arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Hamburger Linksfraktion und setzt sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Mit ihren am amtlichen Schweigegebot vorbei öffentlich vorgetragenen kritischen Einblicken in das Innenleben eines Jobcenters und dessen oftmals mehr als zweifelhaftes Vorgehen gegenüber seinen offenbar wenig geschätzten "Kunden", erregte sie einst Aufsehen. Die gelernte Journalistin bekam Viel unterstützenden Zuspruch vor allem von Betroffenen, hielt Vorträge, beteiligte sich an öffentlichen Protestaktionen und mit Redebeiträgen bei Kundgebungen und Montagsdemos. Die linke Presse würdigte sie als mutige "Whistleblowerin", die sie wie ihre Vorgängerin Brigitte Erler zweifellos ist. Die engagierte SPD-Frau und Gewerkschafterin Erler packte Anfang der 1980er Jahre als Referentin im Entwicklungshilfeministerium über das System "tödlicher Hilfe" für Länder in der Dritten Welt aus und quittierte aus Protest den Dienst.

Widerstand - parlamentarisch wie außerparlamentarisch

Die Partei Die Linke, für die Inge Hannemann nun parlamentarisch gegen das Hartz IV-Programm angehen will, ist die einzige Partei ergreifende Gruppierung in der dritten deutschen Republik, die gegen das neoliberale Konzept der von SPD und Grünen zwischen 2003 und 2005 auf den Weg gebrachten Agenda 2010 parlamentarisch zu Felde zieht. Sie nährt damit zumindest eine kleine Hoffnung, bestätigt und bestärkt alle davon Betroffenen in der Perspektive, dass dieses Regelwerk zutiefst unsozial ist und ersatzlos abgeschafft gehört. Auch in Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und an der Kirchenbasis rumort es und regt sich deshalb z. T. deutlicher Protest und Widerspruch. Aber ohne die immer wieder landauf landab mit öffentlichen Infoständen vor Jobcenter ziehenden Protestgruppen, Mahnwachen, Montagsdemos und sogar gesetzeswidrigen Go-In-Aktionen, würde das von der Linkspartei als einziger massiv aufgegriffene Thema in politischen Debatten in Lokal- und Landesparlamenten wohl gar nicht nennenswerter zur Sprache kommen. Inge Hannemann initiierte eine Unterschriftenaktion für eine Petition "ALG II: Abschaffung der Sanktionen und Leistungseinschränkungen", die mit 50.000 Unterschriften den Weg in den Bundestag schaffte, wo sie im März 2014 in einer Anhörung behandelt wurde. Die dringendsten Probleme und Missstände sind den Politikern und Politikerinnen bekannt.

All das scheint noch viel zu wenig an Aktivitäten und solidarisch außer wie innerparlamentarisch vereintem Druck zu sein, bleibt dieser doch für die Betroffenen so gut wie folgenlos. Dies wird wohl auch bis auf weiteres so bleiben, solange sich der Reform be- und verhindernde Mehrheitsblock der Großen Koalition in Berlin mit einer sich stoisch ungerührt zeigenden SPD-Arbeitsministerin Nahles und einem gleichfalls empathielos wirkenden sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Gabriel wie ein Bollwerk dem entgegenstellt. In den wie "gleichgeschaltet" erscheinenden bürgerlichen Medien findet eine kritische Diskussion der gesamten Thematik so gut wie nicht statt. Das ist zum gesetzlichen und amtlichen noch der sich hinzu gesellende politische wie öffentliche Skandal. Von einem endlich kritisch intervenierenden Sozialwort des gegenwärtigen Bundespräsidenten ganz zu schweigen. Hier könnte er als Staatsrepräsentant wie Kirchenmann die Deutschland zugewachsene Verantwortung sozial Anteil nehmend wahrnehmen. Aber der deutsche Herr namens Gauck ist eben kein Gustav Heinemann.

Hartz IV-Existenz: was bedeutet das praktisch?

Keineswegs soll der Eindruck erweckt werden, als solle man sich auf betroffener Seite irgendwelchen Illusionen in baldige Abhilfe von denen da oben hingeben. Im Gegenteil wird hier im Folgenden davon gesprochen, wie eine Hartz IV-Unexistenz praktisch aussehen und einem das Leben nicht nur schwer, sondern nahezu unführbar machen kann. Wie, das wissen wir Linke doch alle schon zur Genüge? Ich denke nicht. Zumal Viele Linke (Christoph Butterwege mit seinem neuen, die Hintergründe ausgezeichnet analysierenden Buch "Hartz IV und die Folgen. Bekommen wir eine andere Republik?" davon ausdrücklich ausgenommen), die darüber viel Kluges reden, nicht unbedingt auch einen konkreten Einblick in eine Existenz auf Hartz IV-Basis haben, da es sie selbst (noch) nicht getroffen hat. Nun muss eine/einer eine Kartoffelsuppe nicht noch probieren, um ungefähr zu wissen wie eine (gute) Kartoffelsuppe schmecken sollte. Doch wollen wir uns statt über Kochrezepte zu fabulieren lieber einmal einen konkreteren Einblick in so ein alltägliches Hartz IV-Innenleben verschaffen. Die Rede ist beim zugrunde gelegten authentischen Beispiel von einem "Kunden" mit akademisch studiertem Hintergrund, aber ohne ebensolchen qualifizierten Diplom- oder sonstigen Berufsabschluss und fast achtzehnjähriger, durchgehender Erfahrung in der mittleren Verwaltungstätigkeit, aus der heraus er vor einigen Jahren unverschuldet in die Arbeitslosigkeit gekündigt wurde.

Es beginnt schon damit, dass man sich den Jahresbezug einer Tageszeitung nicht mehr leisten und weniger allgemein informieren kann. Es ist auch sehr angeraten, noch rechtzeitig vor Beginn einer ALG II-Antragstellung sämtliche laufenden Abos z. B. von politischen Zeitschriften zu kündigen. Ebenso ist mit Mitgliedschaften in Vereinen oder politischen Organisationen zu Verfahren, die Mitgliedsbeiträge erheben. Man kommt sonst bei derzeit max. 399 Euro monatlicher Unterstützung schnell in die Situation, mit der Zahlung auflaufender Abo- und sonstiger Rechnungen oft zum Jahresende nicht mehr nachzukommen. So beginnt eine schleichende Schuldenspirale. Und hier ist wohlgemerkt die Rede von im Grunde Kleckerbeträgen weit unter hundert Euro, die sich aber für eine/einen Hartz IV-Bezieher/Bezieherin schnell zum unüberwindlichen Schuldenberg anhäufen können, den man dann mit zunehmender Sorge vor sich herschiebt. Also am besten, man geht ungefähr mit tausend bis zweitausend Euro Reserve als Selbstbehalt (lt. Gesetz Lebensalter bei Antragstellung x 150 Euro pro Jahr) in den Hartz IV-Unruhestatus, sofern man diese vorher "geldvermögend" hatte. Dann war jemand vielleicht vorher mit säumigen Beträgen schon bei der Krankenversicherung mit einigen hundert Euro in der Kreide, die jetzt nach mehreren erfolglosen Mahnungen als "Körperschaft des öffentlichen Rechts" zur Tat schreitet und eine Kontenpfändung und -sperrung beim Bankgirokonto erwirkt, was auch bei Hartz IV-Leistungen Beziehenden statthaft ist. War man darauf nicht gefasst, wird beim nächsten Gang zum Bankautomaten beim Versuch, Geld abzuheben oder Kontoauszüge zu ziehen, vorab schon mal die Bankcard einbehalten. Bis man diese nach Erledigung allen bürokratischen Procederes incl. Behördenbearbeitungsfristen wieder bekommt, Feiertage und Wochenenden womöglich noch verlängernd dazwischen, kann es viele Tage bis Wochen dauern, in denen man völlig ohne Geld dasteht. Erfahrungsgemäß, was so zu vernehmen ist, zwischen 2-3 Wochen, selbst wenn man ein ausreichend gedecktes Konto vorzuweisen hat, auf das einem der Zugriff schlicht verwehrt ist. Das heißt, es geht erstmal im bargeldlosen Zahlungsverkehr für Tage bis Wochen nichts mehr, solange man den säumigen Gesamtbetrag nicht sofort beglichen bzw. wenigstens in vereinbarten angemessenen Raten abzustottern begonnen hat, die den monatlichen Hartz IV-Satz zusätzlich auf Monate hinaus belasten werden. Notwendige Einkäufe von Lebensmitteln und täglichen Bedarfsgütern können nicht vorgenommen werden. Wohl denen, die dann Vorräte gehortet haben. Dasselbe gilt für säumige Telefon-, Strom- und Rundfunkgebührenrechnungen, sofern man bei letzterer nicht rechtzeitig die Befreiung bei ARD und ZDF beantragt hat. Gegen die Kontenpfändung gibt es seit kurzem (2013) die gesetzliche Möglichkeit, das eigene Girokonto in ein sog. P-Konto umgewandelt zu bekommen, also ein pfändungsgeschütztes Konto zu führen mit entsprechenden Nachteilen - Strafe muss sein - beim Zahlungsverkehr. Ohne schlüssige Begründung sind keine Überweisungen mehr digital am Terminal möglich, also keine Kundenselbstbedienung, kein Telefon- oder Net-Banking, gibt es keine Kreditkarten und Dispogewährung mehr und besteht ein pfändungsgeschützter Freibetrag von 1.045 Euro, sofern man mehr Einkommen darüber hat. Das muss man erstmal wissen, die Bank sagt es einem nicht, auch nicht das Jobcenter. Und was manche/r so vorher nicht recht bedenkt: eine Rückumwandlung in ein normales Konto ist danach nicht mehr möglich. Man ist mit einem Bein damit schon aus der Bank draußen, ausgegrenzt und kommt sich fast stigmatisiert vor, gekennzeichnet durch den Vermerk eines "P" in der Bankakte.

Einige Strukturdaten

Die einst geschäftige, traditionelle Handelshafen- und Werftenmetropole Bremen weist nach der aktuellen Statistik der örtlichen Arbeitsagentur (Stand: März 2015) eine Zahl von 37.923 Arbeitslosen auf. Das sind 11,1 Prozent, womit der hanseatische Stadtstaat bundesweit gleich an zweiter Stelle hinter dem ländlichen Mecklenburg-Vorpommern folgt. 30.749 davon sind Bezieher und Bezieherinnen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II, das die Grundsicherung für Arbeitsuchende regelt. Laut statistischem Jahresbericht 2014 der örtlichen Arbeitnehmerkammer gab es 2013 217.614 Vollzeitbeschäftigte bei einer Gesamteinwohnerzahl von 655.751. Daneben verdingten sich in Teilzeitarbeit 81.488, reinen Minijobs 45.431, Mininebenjobs 25.255 und in Leiharbeit 15.326 Menschen. Die nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 2012 ansteigende Quote bei der sog. Armutsgefährdung betrug für Bremen an der Spitze aller Bundesländer 23,1 Prozent, also mehr als ein Fünftel der Bevölkerung.

Man ist für den Staat ein "Fall", der "gemanagt" wird

Ein sog. Stadt- (nicht Sozial-) Ticket für den öffentlichen Verkehr kostet auch eine/einen Hartz IV-EmpfängerinIn in Bremen monatlich immer noch 33,70 Euro. Auch hier gilt: zum Jobcenter gehen, wieder lange warten, Antrag stellen, Passbild besorgen, Antrag einreichen usw. Ein allseits begehrtes Ausweispapier, gültig für 6 Monate. Wer z. B. noch ein Depotlager für die Unterstellung von Utensilien und Hausrat aus der Auflösung der Wohnung (des Hauses) etwa der verstorbenen Eltern finanzieren muss, weil er nicht alles bei sich zuhause im Keller oder hilfsbereiten Freunden unterbringt, muss auch das vom monatlichen Regelsatz bezahlen, sagen wir mal bei einem kleinen Bestand von max. bis 10 m³ zwischen 50 bis 100 Euro pro Monat, die nicht übernommen werden. Wir sehen, wir kommen bereits in den Bereich, wo es schon empfindlich eng bis bedrohlich knapp werden kann. Da darf jetzt nichts außer der Reihe mehr dazwischen kommen, z. B. eine aufwendigere PC-Reparatur, Wohnungsrenovierung, Kühlschrank- oder Waschmaschinendefekt oder so. Ein Essen beim Italiener, Griechen oder im Veggie-Restaurant ist da im Grunde nicht mehr drin. Irgendwo mal im Gasthof übernachten bleibt ein Wunsch. Schließlich muss man mit mindestens ca. 120 bis 150 Euro für einen ganzen Monat auch noch an die billigste Discounter-Verpflegung denken (Bio oder gesund bleibt ohne eigenen Boden zum Anbauen unerschwinglich) und die Erfahrung des stundenlangen Schlangestehens bei der städtischen oder wohlfahrtsverbandlichen Sozialtafel, um überhaupt noch etwas Brauchbares zu ergattern, ist auch nicht gerade das Erbaulichste. Bücherkauf? Kann man über mehr als ein preiswertes Exemplar hinaus abhaken. Zigaretten- und Alkoholgenuss gibt's nur zu Lasten anderer nötiger Ausgabeposten und führt zu einseitiger ungesunder Lebensweise. Teure Zahnersatzrechnungen oder dringend benötigte neue Brille? Ohne Rücklagen Fehlanzeige. Neue Schuhe, Kleidung ..., oder gar ein Fahrrad und Mobiliar? Man kann dafür z. T. einmalige Zuschuss-Leistungen seitens der Arbeitsagentur beantragen, also wieder Papierkram, Begründungen ausdenken, Antragsformulare abholen, Belegkopien machen, bei Ablehnung langwierige Widersprüche einreichen etc. Bis dahin kann die letzte Hose an den Verschleißstellen durch sein, die Sohlen vollends abgelaufen. Also alles rechtzeitig vorher bedenken und aufpassen und vorsorglich horten. In wenigen Wochen können sich da schnell zwei bis drei Aktenordner mit schriftlichen Vorgängen füllen. Man führt eine Aktenexistenz, ist ein "Fall", der "gemanagt" wird und nahezu ständig mit Aktenkram befasst, um die Übersicht nicht zu verlieren. Ständig kreist das eigene Denken und Empfinden um den Erhalt der eigenen Existenz. Wer das Glück hat, sich wenigstens eine Bahncard 25 leisten zu können, kann für Fernreisen samt Sparpreisen für sich noch vergünstigend etwas herausholen, aber bei den heutigen Bahnpreisen, vor allem auch in den Nahbereichen? Ein Auto unterhalten, wenn auch ein altes gebrauchtes bis bald schrottreifes, nicht daran zu denken. Schon eine Tankfüllung gefährdet das verbleibende Hartz IV-Kontoguthaben bedrohlich, von Wartungen, Reparaturen, Versicherungen gar nicht erst zu reden. Man kann vom Hartz IV-Satz nichts ansparen, muss bei unverhofften Ausgabeposten wie etwa jährlichen Nachzahlungsforderungen aus Betriebs- oder Stromkosten notfalls Freunde überbrückend um Hilfe bitten, wer das noch kann, aber auch das hat seine Grenzen, und auch Freundschaften sind nicht beliebig belastbar.

Also bleiben wir schön sesshaft (sess-haft!) vor Ort, tun möglichst nichts was etwas kostet und wollen nicht in der Gegend herumreisen, mal Freunde außerhalb besuchen, zu einer Demo oder am Wochenende zum Baden an die Küste fahren, Natur im Wald oder an Seen genießen. Das alles muss ohne Rad leider weitgehend entfallen für die kurze Übergangszeit des Hartz IV-Bezugs, denn wer arbeiten will, der/die findet auch welche ..., bloß welche und wie schlecht bezahlt! Aber wer fragt schon danach. Wie heißt es in den Bestimmungen? Jede zumutbare Arbeit ist anzunehmen, eine dehnbare Bestimmung. Hartz IV-Beziehende haben Anrecht auf ca. vierzehn Tage Urlaub im erwerbslosen Jahr, sonst hat man permanent täglich mit Arbeitssuche "beschäftigt" zu sein, soll an Zahl festgesetzte Bewerbungen schreiben, das Internet, so man dazu zuhause Zugang hat, mit geeigneten Stellenanzeigen rauf und runter durchforsten, sich als über 60-Jähriger bei einem Headhunter-Unternehmen chancenreich für die Telefonzentrale bewerben usw. Nun sind es aber weit über eineinhalb Millionen, die das vielfach schon über Jahre hinweg ertragen. Was kann da denn am System von "fördern und fordern" nicht stimmen?

Zu den materiellen die psychischen Folgen

Im Wesentlichen sind das zunächst mal nur die rein materiellen Fakten. Hinzu kommt noch das ganze leidige Kapitel der stufenweisen Sanktionen. Meist bis zu 30 % Abzug vom Regelsatz monatlich über 3 Monate Dauer oder dauerhaft, bei nicht oder nicht genügendem Erfüllen von Auflagen des Jobcenters in dessen gesetzlichem Ermessen oder wenn "Kunden" die Unterschrift unter nötigende, einseitig vorgebende Eingliederungs-"Vereinbarungen" verweigern. Zusätzlich kann es zur Strafe zu Kürzungen der Mietzahlungen oder deren vollständigen Einstellung kommen. Das führt in nicht wenigen Fällen alsbald zu Räumungsklagen mit Wohnungsverlust und geradewegs in die Obdachlosigkeit. Ein jüngerer Kollege berichtet in der Beratung im Erwerbslosenzentrum, dass er derzeit so nach Strafabzügen noch auf monatlich 140 Euro vom Jobcenter käme. Klar, dass er als gelernter Maler und Anstreicher, der keine feste Anstellung findet, jede sich bietende Gelegenheit ergreift, privat "schwarz" zu arbeiten. Ein typischer "Sozialbetrüger"? An zulässigem Zuverdienst, so man etwas findet, sind monatlich sozialversicherungsfrei bis 160 Euro gestattet. Alles, was darüber ist, wird auf den Hartz IV-Satz angerechnet, ersetzt die staatliche Leistung. Dem großen Aktiv-Posten Fordern steht neben der existenziellen Minimalabsicherung mit zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit nur ein vergleichsweise geringer des Förderns gegenüber, der gerade bei älteren Erwerbslosen immer mehr gegen Null tendiert.

Hinzu kommt auch das, was das alles in und mit einem psychisch und körperlich macht: da sind die aus ständiger Sorge um die tägliche Existenz nicht mehr durch geschlafenen Nächte; da ist der Dauerverlust innerer Ausgeglichenheit; die ständige nervliche Anspannung; die sich allmählich einstellenden, "unerklärlichen" psychosomatischen Beschwerden bis hin zu lästigen Ohrgeräuschen, Herzrhythmusstörungen und plötzlichen, quälenden neuralgischen Kopfschmerzen und Organerkrankungen. Symptome, mit denen man bislang nennenswert nie etwas zu tun hatte. Es beschleicht einen ein zunehmendes Druck- und Unruhegefühl, wenn man nicht mehr weiß, wovon man auflaufende Rechnungen noch bezahlen soll, geschweige denn wo einem der Kopf steht. Angst vor Strom- und Wasserabstellung durch den örtlichen Energieversorger bei wiederholt offenen Rechnungen u. v. m. Wie soll das gegenüber dem ärztlichen Dienst beim Jobcenter in einem Ursachen-Zusammenhang zur Ermittlung und Bewertung gebracht werden?

Man kann vom derzeitigen Regelsatz mit deutlichen Einschränkungen zwar gerade noch existieren, aber nicht menschenwürdig leben. Die zugrunde gelegten Berechnungsgrößen sind wie beim Stromverbrauch zu niedrig angesetzt, statt im Schnitt tatsächlich monatlich 41 Euro pro Person liegt die Bedarfszumessung mit 33 Euro deutlich darunter. Die Grundrechte des Individuums werden administrativ eingeschränkt und willkürlich beschnitten. Der einzelne Mensch wird dem Gesetz angepasst und gefügig gemacht, statt mit dem Gesetz adäquat den menschlichen Bedürfnissen zu entsprechen. Das System Hartz-IV lähmt in Folge die persönliche Initiative und macht Menschen systematisch krank! Ein Teufelskreis eröffnet sich. Man lässt sich selbst mehr und mehr in die soziale Isolierung drängen, wird zunehmend handlungsunfähig und motivationslos. Das kann einem auch als Linkem so passieren, der eigentlich die Zusammenhänge durchschauen können müsste, was einen nicht vor eigenem misslichem Erleben schützt und bewahrt.

Jobcenter sind sozial sterile Orte, keine Treffpunkte

Wer zum Jobcenter muss, um entweder seine monatlichen Bewerbungsbelege abzugeben und laufenden Bemühungen bei der Arbeitssuche zu dokumentieren oder nach einem halben Jahr bereits wieder von neuem die Weiterbewilligung zu beantragen usw., gerät in eine seltsame, sozial steril wirkende Umgebung. Frühmorgens noch vor der Öffnung um 8 Uhr kommen die Ersten und warten auf Einlass, dann beginnt der Run einen Stock höher in die Warte-"Lounge", wo jede/r am Automaten eine Nummer zieht, mit der man per Digitalanzeige zur Vorstellung aufgerufen wird. Kontakt untereinander kommt selten zustande, man bleibt in der Regel für sich. Hinter einem in drei abgetrennte Boxen geteilten Tresen ähnlich wie in Wahlkabinen empfangen einen die SachbearbeiterInnen und nehmen deinen "Fall" auf und Unterlagen an, entscheiden über den weiteren Ablauf. Verblüfft erfährt unser "Kunde" von seiner Fallmanagerin, dass er rechtzeitig vor Erreichen des 63. Lebensjahres den vorzeitigen Antrag auf Verrentung einzureichen habe, da über diese Altersgrenze hinaus keine Hartz IV-Zahlungen mehr geleistet würden. Es ist das amtliche Eingeständnis, dass das "Rente mit 67"-Konzept für Erwerbslose am Ende ihres Berufslebens gescheitert ist. Und es bedeutet, dass nun auch noch eine weitere faktische Kürzung ohnehin oft nur schmaler Mini-Renten hingenommen werden soll, ohne dass die offizielle Politik hier dringenden Handlungsbedarf angesichts des bereits einsetzenden Anstiegs von "Altersarmut" sieht. Viele der so aus der Hartz IV-Bezugsberechtigung hinaus gedrängten landen automatisch als Aufstocker und Aufstockerinnen wieder bei der Sozialbehörde. Es ist ein Hin- und Hergeschiebe zu Lasten der Bedürftigen. Zwar vertreten die Gewerkschaften zum vorzeitigen Verrentungszwang einen deutlich konträren Standpunkt und raten zum Widerspruch, aber hier könnte wohl nur ein Musterprozess notfalls bis zur Instanz Bundesverfassungsgericht Klärung schaffen. Und ob dieser derzeit zugunsten der prozessführenden Seite positiv ausginge, geschweige denn die Klage angenommen würde, bleibt offen.

Demut und Willensbereitschaft

Zurück zu unserem Besuch im Jobcenter. Draußen auf dem Gang und in der Lounge, die sich an drei Tagen in der Woche allmorgendlich mit weit über hundert durchlaufenden "Kunden" und "Kundinnen" füllt, patrouillieren derweil ständig ein bis zwei unbewaffnete Sicherheitsleute mit direktem Funkkontakt zur Polizei auf und ab. In Bremen befindet sich das zentrale Polizeigebäude gleich nebenan. Gleichzeitig betätigen sie sich als Auskunft gebende, warten den ständig im Dauerbetrieb befindlichen Kunden-Kopierer, der immer wieder den Geist aufgibt. Die "Wärter" geben sich in der Regel freundlich und hilfsbereit, solange alles ruhig und geordnet abläuft, was sich schnell ändern kann, wenn "Kunden" mal richtig laut werden und erbost schimpfen, nachdem sie gerade schlechte Nachrichten bei ihrer Fallbehandlung erhalten haben. Man spürt und weiß unter den Wartenden, wer in dieser bleiernen Atmosphäre das Sagen hat und von wem man wie abhängt. Man sitzt in Reihe auf Stuhlgestängen aus Stahlrohr wie es sie auf Bahnsteigen gibt. Nach zehn Minuten steht man das erste Mal auf, um sich zu strecken, weil einem davon schon Rücken und Hintern zu schmerzen beginnen. Einzelne bringen deshalb schon selbst gepolsterte Sitzunterlagen mit. Das erinnert an spartanische hölzerne Sitz- und Kniebankreihen in alten Dorfkirchen, die einen zu schmal und unergonomisch in eine schmerzhafte Demutshaltung zwingen. Es soll nicht allzu bequem sein in der Kirche und im Jobcenter. 11. Gebot: du sollst dich nicht in deiner Arbeitslosigkeit einrichten, sondern dich unter Leidensdruck aktiv, dynamisch, erfinderisch, fit, bewusst ernährt und positiv eingestellt selbst motivieren und mobilisieren. Das ist das in Motivationskursen von outgesourcten Auftragsfirmen geforderte plakative Bild des/der Arbeitsuchenden, meist ziemlich neben der Realität. Trainingseinheit Benimm- und Verhaltensregeln: dunkle Socken zur dunklen Hose bitte beim persönlichen Vorstellungsgespräch, keine Jeans, Krawatte muss nicht mehr unbedingt, auf korrektes, selbstbewusstes Auftreten und sauberes Äußeres ist zu achten usf.

Die "Vorschläge für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" der 2002 eingesetzten Kommission unter Leitung des VW-Vorstandsmitglieds Peter Hartz, sahen bereits einen Regelsatz von 511 Euro pro BezieherIn und Monat vor. Die zweite Schröder/Fischer-Regierung hat das entgegen ihrer Zusage zur Bundestagswahl 2002, eine 1:1-Umsetzung vorzunehmen, mit Inkrafttreten des Gesetzes ab 1. Januar 2005 kurzerhand auf im Westen 345, im Osten 331 Euro wieder abgesenkt, als gäbe es da noch begründbare Unterschiede in der Lebenshaltung. Ca. 55 Euro Erhöhung in zehn Jahren, das reicht weder zum jährlichen Inflationsausgleich noch um mit den pro Jahr ständig im Schnitt zwischen 1,5 bis 2,5 Prozent ansteigenden Lebenshaltungskosten Schritt halten zu können. Peter Hartz zeigte sich mit dem Erreichten selbst unzufrieden und bemerkte 2007 dazu resümierend in seinem Buch "Macht und Ohnmacht": "Herausgekommen ist ein System, mit dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden". Die letzte Regelsatz-Erhöhung fand zum 1. Januar 2015 statt von 391 um 2,21 Prozent mehr auf 399 Euro. Wo werden wir im Jahr 2020 angekommen sein?

E. K., Bremen 21. April 2015

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 27 bis 31
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2015

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