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ARBEITERSTIMME/317: Industrie 4.0 - Der Kapitalismus vor dem Aus?


Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Industrie 4.0 - Der Kapitalismus vor dem Aus?


Schon seit einigen Jahren läuft unter dem Stichwort "Industrie 4.0" in der BRD eine Diskussion über die Umsetzung einer umfassend digitalisierten Produktion und um die damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen. Diese Diskussion wird inzwischen in der Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen.

Auf die Industriebetriebe kommt in den nächsten Jahren eine Automatisierung- und Rationalisierungswelle von bisher noch nicht gekanntem Ausmaß zu. Sie wird in den Industriebetrieben und darüber hinaus, so ziemlich alle Bereiche und auch wahrscheinlich alle beruflichen Qualifikationen betreffen. Den ungelernten Arbeiter, den Facharbeiter, die Verwaltungsangestellten und selbst den Techniker, Ingenieur und Wissenschaftler.

Nun kann man einwenden, dass große Rationalisierungswellen, nichts Neues sind. Es gab sie auch schon zu früheren Zeiten. Die permanente Weiterentwicklung der Produktivkräfte gehört zum Kapitalismus wie das "Amen" zur Kirche. Die Unternehmer haben die Entwicklung der Produktivkräfte schon immer vorangetrieben um einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten zu erlangen, das heißt, mit reduzierter Arbeitskräftezahl den selben Produktionsausstoß zu erzielen und unter Umständen die Produktion sogar noch auszuweiten.

Die 4. industrielle Revolution

Die erste industrielle Revolution begann mit der Einführung der Dampfmaschinen. Dieser folgte dann der Übergang zur Massenproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, später Fordismus genannt, und dessen Kennzeichen das Fließband war.

Und beginnend mit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen dann schließlich, im Rahmen des Siegeszuges der Mikroelektronik, die CNC-Technik und Industrieroboter in der Massenfertigung zum Einsatz. Heute stehen wir vor einem weiteren qualitativen Sprung in der industriellen Produktion, Industrie 4.0 genannt.

Auf den einschlägigen Internetseiten wird diese neue Produktionsweise beispielsweise (Telecom) so beschrieben: "Möglich wird der Schritt zur Industrie 4.0 durch cyber-physische Systeme (CPS), die die physikalische und die virtuelle Welt im Internet der Dinge - kurz IoT (Internet of Things) - zusammenführen. Als CPS tauschen intelligente Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel autonom Daten miteinander aus, initiieren Fertigungsschritte und steuern sich gegenseitig. In der Industrie 4.0 organisiert sich die Produktion selbst. Alle beteiligten Produktionsmittel und Produkte sind miteinander vernetzt, eindeutig identifizierbar und lokalisierbar. Sie sind sich ihres Zustandes bewusst, wissen, welche Schritte erforderlich sind, um den Produktionsprozess fortzusetzen, und lösen selbsttätig den nächsten Fertigungsschritt nebst logistischen Prozessen aus. Der Einsatz cyber-physische Systeme, wird die industrielle Fertigung von Produkten weltweit radikal verändern und Wirtschaft sowie Verbrauchern riesige Chancen bieten."

Menschen mit einem herkömmlichen Bildungsstand verstehen von dem was hier beschrieben wird nur sehr wenig. Wahrscheinlich ist das auch so gewollt. Was im Gedächtnis hängen bleiben soll ist, dass sich für "Wirtschaft und Verbraucher riesige Chancen bieten". Alles soll besser werden.

Mögliche Risiken gibt es nicht, oder sie werden ausgeblendet - insbesondere die Risiken für die abhängig Beschäftigten.

Der "Südkurier" aus Friedrichshafen bildet solche Risiken in einem Artikel im Juni des Jahres zwar nicht ausdrücklich ab, aber trotzdem werden sie überdeutlich sichtbar. Die Zeitung schreibt anlässlich der Eröffnung der neuen Serienfertigung für PKW-Getriebegehäuse bei der Firma ZF Friedrichshafen: "Die neue Serienfertigung für Pkw-Achtgang-Automatikgetriebegehäuse ist imposant. Mit nur 90 Minuten Durchlauf entstehen hier täglich 750 Gehäuse, die zur Montage ins ZF-Werk Saarbrücken geliefert werden. Die Anlage, die dies vollbringt, ist voll automatisiert. Ein Roboter hebt die Rohteile aus der Drahtbox und setzt sie aufs Verteilerband. Weitere Roboter und ein Laufband bringen die Gehäuse in eine von zehn 'Bearbeitungszentren', wo in 15 Minuten '1300 Behandlungsmerkmale' durchgeführt werden. Nach dieser Prozedur kommt das Gehäuse in eine überdimensionale Waschstraße, wo es gereinigt wird. Für die gesamte Anlage ist ein Mitarbeiter zuständig, der überwacht, ob alles funktioniert."

Leider wird in dem Artikel nicht berichtet, wie viele Beschäftigte vor der Rationalisierung in dieser Abteilung gearbeitet haben. Aber mit Sicherheit waren es deutlich mehr als eine Person. Die vollautomatische Produktion ist also heute zum Teil bereits Realität und sie gibt es in den verschiedensten Segmenten der Industrie. Bereits 25 Prozent der Komponentenfertiger für Deutschlands Automobilbranche haben Industrie 4.0 auf der Tagesordnung. Bei den Maschinenbauern selbst ist es schon jeder zweite und bei Anlagenbauern sind es ausnahmslos alle.

Damit das Konzept einen zusätzlichen Schub bekommt, hat die Bundesregierung bereits im Jahr 2011 ein "Zukunftsprojekt Industrie 4.0" gegründet, das beim Bundesforschungsministeriums angesiedelt ist. Damit will man die deutsche Industrie in die Lage versetzen "für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein". Für entsprechende Forschungsarbeiten wurden bisher Fördermittel in Höhe von über 120 Millionen Euro bewilligt.

Dieser Betrag ist natürlich eine Kleinigkeit, wenn man sieht welche Mittel die Großkonzerne einsetzen um ihren Traum von der "perfekten Fabrik" zu realisieren.

In der Ausgabe vom 10. Juni des Jahres, berichtet die Wochenzeitung Der Freitag, dass beispielsweise Bosch und Siemens viele Millionen investieren um die Automatisierung ihrer Produktion voranzutreiben. Bei Bosch alleine sollen es 500 Millionen Euro jährlich sein und bei Siemens sollen sich mittlerweile mehr als die Hälfte der rund 30.000 Beschäftigten der Forschungsabteilungen mit Softwareentwicklung befassen.

Doch auch in diesem Artikel werden nur die Chancen gesehen. So zitiert die Zeitung aus einer Studie der Unternehmensberater der Boston Consulting Group, wonach durch Digitalisierung und Vernetzung der Produktion in den kommenden zehn Jahren 390.000 neue Arbeitsplätze in Deutschland entstehen werden. Zudem soll das deutsche Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um 30 Milliarden Euro wachsen.

Aber es gibt auch Studien, die auf die Risiken eingehen. So hat ein Jeremy Bowles von der London School of Economics 2014 eine Untersuchung veröffentlicht, wonach durch die möglich werdenden Automatisierungsschübe binnen zwei Jahrzehnten in Deutschland 51 Prozent aller heutigen Arbeitsplätze verloren gehen können. Eine Studie von Oxford-Wissenschaftlern kommt zu dem Ergebnis, dass 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten bedroht sein könnten (Quelle Arbeiterpolitik).

Laut dem BDI arbeiten in der Industrie und den industrienahen Dienstleistern zwölf Millionen Menschen. Das entspricht knapp 30 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland. Sollten die Prognosen stimmen, gingen alleine in Deutschland in der Industrie mehr als sechs Millionen Arbeitsplätze durch die Rationalisierungswelle verloren. Nimmt man alle Erwerbstätigen (42 Mio.) als Basis der Berechnung, wäre das nach der Oxfordstudie sogar mehr als 21 Millionen Arbeitsplätzen, die verloren gingen.

Allerdings sind alle Prognosen zum heutigen Datum äußerst spekulativ.

Sicher dagegen ist, dass sich die ökonomische Krise, in der wir uns seit 2008 befinden, weiter verfestigen wird. Die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems ist offensichtlich. Periodisch wird die Wirtschaft von Überproduktionskrisen heimgesucht.

Strukturelle Arbeitslosigkeit wird weiter steigen

Bis zum Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden die während der Krise entlassenen Arbeitskräfte, mit dem Beginn des neuen Konjunktur-Zyklus wieder weitgehend in die kapitalistische Produktion integriert. In der Zeit danach wurde das anders. Anfang der 80er Jahre wurde zum ersten Mal in der Nachkriegszeit die 1-Millionen-Arbeitslosengrenze überschritten. Erinnern wir uns an die aufgeregte Besorgnis, die damals herrschte. Plötzlich gab es trotz anziehender Konjunktur einen Arbeitslosensockel, der nicht wieder in die Produktion integriert werden konnte.

Heute nennt man das strukturelle Arbeitslosigkeit. Und wir stellen fest, dass von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus dieser Sockel größer wird. Die Arbeitslosigkeit geht nicht zurück, sondern sie dehnt sich im Gegenteil noch aus. Die Arbeitslosenquote liegt heute in der BRD offiziell bei knapp 3 Millionen. Und das obwohl man in Deutschland aktuell durchaus noch von einer Konjunktur sprechen kann.

Diese Zahl beunruhigt. Man will sie deshalb möglichst klein halten - denn davon hängt nicht zuletzt die Loyalität der Massen zum gegenwärtigen System ab. Um das zu erreichen haben die Herrschenden zahllose statistische Tricks erfunden, die wirkliche Zahl herunterzurechnen. Sie waren dabei durchaus erfolgreich, denn die aktuellen Arbeitslosenzahlen liegen wohl eher bei mehr als vier Millionen als bei drei.

Allerdings werden die Herrschaften damit, besonders in der Zukunft, nur bedingt Erfolg haben. Denn es ist nicht zu erwarten, dass bei zunehmender Automatisierung und Digitalisierung der Produktion, selbst wenn die wegrationalisierten Arbeitsplätze in den nächsten Jahren nicht den Prognosen entsprechen und deutlich geringer ausfallen, die strukturelle Arbeitslosigkeit abnimmt. Sie wird weiter steigen.

Die Frage die sich stellt ist: warum kam es im Zuge der zweiten industriellen Revolution - also dem Übergang zur Massenproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zu massenhaftem Beschäftigungsabbau? Warum führte diese Rationalisierungswelle vorerst nicht in die strukturelle Krise, sondern verursachte im Gegenteil einen Boom, der sich auch nach der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre und dem zweiten Weltkrieg bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts fortsetzte.

Der Übergang zur industriellen Massenfertigung entwickelte sich zuerst in den USA. So realisierte zum Beispiel Henry Ford in seinen Fabriken Rationalisierungsmethoden die von dem Rationalisierungsspezialisten Frederick Taylor stammten. Taylor analysierte bis ins Detail Arbeitsabläufe und die Bewegungen der ArbeiterInnen an ihren Arbeitsplätzen und er ereichte damit die Optimierung der Fertigungszeiten eines Produktes.

Die neuen Arbeitszeiterfassungs-Methoden erreichten auch bald Europa. In Deutschland beispielsweise wurden sie in den 20er-Jahren, mit der Gründung des "Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung", kurz REFA genannt, eingeführt.

Arbeitszeitstudien, gepaart mit Fließbandarbeit (Verwendung von ungelernten Arbeitskräften) führten zu einem riesigen Produktivitätssprung. Der führte zu einer deutlichen Ausweitung der Produktion, so dass man nicht weniger, sondern sogar mehr Arbeitskräfte benötigte. Das war nur möglich, weil die, unter den neuen Bedingungen produzierten Waren, drastisch billiger wurden. Und viele Dinge, die vormals Luxusgegenstände waren, wurden zum Gegenstand des Massenkonsums. Stellvertretend sei hier nur das Auto genannt, das sich plötzlich (in den USA) ein Arbeiter leisten konnte. Die fordistische Produktionsweise machten sich schließlich alle Industrien zu Eigen, was zu dem heutigen, uns bekannten Massenkonsum, mit allen Vorteilen führte, mit dem aber auch das immer größer werdende Zerstörungspotential sichtbar wird.

Bei der jetzt, auf uns zukommenden Automatisierungswelle entfällt in den Industriebetrieben die menschliche Arbeitskraft in ihrer bisherigen Funktion weitgehend. Wie das erwähnte Beispiel der ZF Friedrichshafen zeigt, benötigt die dortige Anlage nur noch einen Arbeiter, der vereinfacht gesagt, wenn irgendetwas schief laufen sollte, auf den roten Notschalter drückt, um die Anlage zum Stehen zu bringen. Mehr Funktionen hat er im Grunde genommen nicht.

Industrie 4.0 bedeutet, ebenfalls, wie der Fordismus, einen gewaltigen Produktivitätssprung der zur deutlichen Ausweitung der Produktion und zur Verbilligung der Waren führen könnte. Die Frage ist aber, ob das objektiv möglich ist? Im Gegensatz zur fordistischen Produktionsweise braucht man nicht mehr, sondern weniger Arbeitskräfte. Das bedeutet, dass die Massenkaufkraft weiter schrumpft. Damit aber fehlt die Grundbedingung, die für die historisch einmalige Produktionsausweitung der 1920er Jahre die Voraussetzung war.

Die fordistische Produktionsweise löste einen ungeheueren Boom aus und absorbierte damit die wegrationalisierten Arbeitskräfte. Das geschieht aber heute und in Zukunft nicht mehr.

Es ist deshalb davon auszugehen, dass die vorhandene strukturelle Massenarbeitslosigkeit sich unaufhaltsam weiter ausdehnen wird. Einen Boom, wie ihn die fordistische Produktionsweise auslöste, wird es nicht geben, bzw. ist ein solcher nicht vorstellbar.

Daraus ergeben sich aber eine Reihe gravierender Probleme, die zu weitreichenden gesellschaftlichen Erschütterungen führen können.

Sozialstaat hört auf zu bestehen

Im Grundgesetz definiert sich die BRD als "sozialer und demokratischer Rechtsstaat". Lassen wir einmal beiseite inwieweit dieser Anspruch der gesellschaftlichen Realität entspricht. Bei aller Kritik müssen wir aber trotzdem konstatieren, dass trotz der drastischen Angriffe der vergangenen Jahre auf das Rechts- und Sozialsystem, noch immer ein relativ hohes Sozialleistungs-Niveau besteht. Das gilt besonders im Hinblick auf andere Länder in Europa und noch mehr im weltweiten Vergleich.

Wie jeder Staat finanziert sich die BRD über Steuern und Sozialabgaben. Die neoliberale Offensive der zurückliegenden Jahrzehnte hat aber dazu geführt, dass auf wichtige Einnahmequellen staatlicherseits verzichtet wurde (z.B. Vermögenssteuer, Steuersenkungen für Konzerne usw.). Im Gegenzug kam es zu einer immer größeren Umverteilung von unten nach oben.

Die Folge davon ist, dass heute der Löwenanteil der Staatsfinanzierung im Grunde nur noch von den Nicht-Kapitaleigentümern getragen wird. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich bei einer weiteren krisenhaften Entwicklung der Ökonomie die politisch und ökonomisch herrschenden Kreise sich von dieser Politik abwenden. Freiwillig geben Kapitalisten ihre Privilegien nicht wieder her.

Dehnt sich aber die strukturelle Massenarbeitslosigkeit drastisch immer weiter aus, erreicht man irgendwann den kritischen Punkt, an dem die sozialen Netze reißen und der Sozialstaat in der heutigen Form nicht mehr zu halten ist.

Wenn die staatlichen Einnahmen sinken und gleichzeitigen die Leistungsempfänger drastisch ansteigen, kommt das gesamte staatliche Gefüge in die Schieflage, mit der Folge eines noch stärkeren Sozialabbaus und einer sich weiter verschärfenden Austeritätspolitik. Zu was die Herrschenden bereit sind und wie weit sie gehen können zeigen die aktuellen Beispiele Griechenland, Portugal und Spanien. Und mit Sicherheit ist das noch nicht das Ende der Fahnenstange. In der Vergangenheit und auch aktuell haben die herrschenden Klassen oft genug gezeigt, zu welcher Barbarei sie gegenüber den lohnabhängigen Klassen fähig sind.

Die Situation der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit

Spätestens mit der Übernahme der DDR durch die BRD hat sich, nicht nur im Osten, sondern auch in den Betrieben Westdeutschlands vieles zum Negativen verändert. Es gab gravierende Veränderung bei Löhnen und Gehältern, in der Arbeitsorganisation und bei den Normalarbeitsverhältnisse.

Parallel dazu wurde durch Leiharbeit und heute verstärkt durch Werkverträge ein Niedriglohnsektor geschaffen, der den Beschäftigten vor Augen führt, was ihnen blüht, sollten sie den Arbeitsplatz im Stammbetrieb verlieren.

In den letzten 20 Jahren hat die Tarifbindung der Betriebe drastisch abgenommen - im Osten gibt es sie inzwischen nur noch rudimentär. Dasselbe gilt für Betriebsräte. Nicht wenige Betriebe sind betriebsrats- und gewerkschaftsfrei. Das liegt weniger am mangelnden Interesse der Belegschaften, sondern vielmehr am aggressiven Verhalten der Unternehmer gegenüber BR-Wahlinitiativen. In mehreren Anträgen zum Gewerkschaftstag der IG Metall wurde deshalb das Thema "Union Busting" aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen dagegen gefordert.

Die Auswirkungen dieser Entwicklung kann man an den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften ablesen. Waren 1989 noch rund 7,8 Millionen Beschäftigte in DGB-Gewerkschaften organisiert, so waren es Ende 2014 nur noch 6,1 Millionen - trotz der gestiegenen Erwerbspersonen aufgrund der deutschen Wiedervereinigung.

Zwar konnten sich die Gewerkschaften in letzter Zeit organisationspolitisch etwas stabilisieren und Mitgliederzuwächse verzeichnen, doch von einer nachhaltigen Wende kann nicht gesprochen werden.

Alles in allem sind die Gewerkschaften heute schwächer als vor 20 Jahren, doch sind sie glücklicherweise immer noch in der Lage bei Tarifbewegungen die Beschäftigten zu mobilisieren. Im Organisationsbereich der IG Metall gilt das besonders für die Automobilindustrie und deren Zulieferer. Dieser Bereich ist das Herzstück der Organisation.

Aber gerade hier wird die Auswirkung der zukünftigen Automatisierung am größten sein. Es ist heute nur schwer absehbar, was es für die Klasse der abhängig Beschäftigten bedeutet, wenn ihr gut organisierter Kern in den großen Industriebetrieben abhanden kommt.

Die Gewerkschaftsvorstände sind sich mit Sicherheit der auf sie zukommenden Gefahren bewusst, das zeigen auch die Entschließungen und Leitanträge des Gewerkschaftstages der IG Metall. Die Rückschlüsse die sie aber daraus ziehen, lassen allerdings nichts Gutes erahnen.

Es wird wieder auf den Korporatismus zurückgegriffen. Unter der Federführung des Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel wurde zusammen mit BDI-Präsidenten Grillo und dem IGM-Vorsitzenden Wetzel im November des letzten Jahres ein neues "Bündnis" aus der Taufe gehoben. "Bündnis zur Erneuerung der Industrie" nennt es sich.

In einer gemeinsamen Erklärung der Beteiligten heißt es: "Der industrielle Sektor einschließlich der industrienahen Dienstleistungen ist Stabilitätsanker, Innovationskern und Wachstumstreiber der deutschen Industrie. Hohe Wertschöpfung und dynamische Innovationen ­... sind ganz wesentlich mit einer wettbewerbsfähigen Industrie verbunden ... Das Ziel: die Zukunft der Industrie in Deutschland und Europa sichern."

Was hier geschieht ist nur schwer zu ertragen. Anstelle Widerstandslinien und Gegenmachtpositionen gegen die zukünftigen Kapitalangriffe aufzubauen, macht sich die IGM-Führung mit dem Gegner gemein und sieht ihr Wohl in der Stärkung dessen Wettbewerbsfähigkeit Das geschieht in der Hoffnung, dadurch dem Schicksal zu entgehen möglicherweise in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Dabei gibt es doch Beispiele genug, die zeigen, dass solche "Bündnisse" in der Vergangenheit immer zu Lasten der abhängig Beschäftigten gingen. Die Rolle der Gewerkschaften beschränkte sich darin, der Kapitalseite gegenüber Zugeständnisse zu machen. Eine Gegenleistung dafür bekamen sie nie. Das war Ende der 1960er Jahre mit der "konzertierten Aktion" so, dann in den 1970er Jahren mit dem "Modell Deutschland" und schließlich kurz vor der Jahrtausendwende war das so mit dem Zwickelschen "Bündnis für Arbeit". Das Ergebnis war immer, dass die Gewerkschaften anschließend schwächer dastanden als vorher.

In einer Broschüre "Beteiligen und Mitbestimmen", deren Herausgeber Detlef Wetzel ist, schreibt dieser im Zusammenhang mit der Industrie 4.0: "Dass wir vor einer Zeitenwende bei der industriellen Produktion stehen, ist der erste Grund, warum genau jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, eine breite Debatte über Demokratie in der Wirtschaft mittels einer klugen Verbindung von individueller Beteiligung und kollektiver Mitbestimmung zu führen ...".

Mit einer solchen Debatte (wobei Demokratie in der Wirtschaft und den Betreiben eine Illusion ist) ist nicht gemeint, die Belegschaften gegen die zunehmenden Missstände zu mobilisieren, sondern sie orientiert alleine auf den Gesetzgeber. Das belegen auch andere Äußerungen von Vorstandsmitgliedern. So meint beispielsweise der designierte Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, in einem Gastbeitrag in der Mittelbayerischen Zeitung: "Der Gesetzgeber muss die Erosion der Arbeitswelt stoppen". Dabei müsste Hofmann aufgrund seiner langjährigen Erfahrung wissen, dass "uns kein höheres Wesen rettet"!

Wie groß die Probleme in den Betrieben tatsächlich sind. zeigt alleine schon ein Blick in die Homepage der IG Metall. Dort kann man z.B. lesen: "Ob Auto-oder Stahlbranche, Werften oder Luftfahrtindustrie, ob Großkonzern oder Mittelständler: Mehr als zwei Drittel der Unternehmen lagern Aufgaben, die zum Kerngeschäft gehören, aus. Dieser Missbrauch von Werkverträgen führt zu Lohndumping und spaltet Belegschaften. Jetzt rufen Betriebsräte die Politik auf, endlich zu handeln und den Missbrauch zu stoppen".

Oder: "Automobil-Hersteller vergeben immer mehr Arbeit, die zu ihrem Kerngeschäft gehört, per Werkvertrag nach draußen. Arbeit wandert so oft vom tarifgebundenen Betrieb in tarifvertragsfreie Zonen. Beschäftigte haben nicht mehr die gleichen Rechte und verdienen ganz unterschiedlich."

Und schließlich sagt Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall: "Die Arbeitgeber sollen nicht glauben, sie könnten durch Outsourcing widerstandslos Löhne und Arbeitsbedingungen absenken und sich der Zuständigkeit der IG Metall entziehen".

Hier irrt sich Hoffmann! Und ob die das können. Das geschieht tagtäglich und zwar widerstandslos, oft unter der Beteiligung des betriebsrätlichen Co-Managements.

Ein Mittel dieser unheilvollen Entwicklung zu begegnen, sieht die IG Metall perspektivisch darin, einheitliche Tarifverträge entlang der Wertschöpfungsketten zu erkämpfen. Dieser Ansatz ist bestimmt richtig, denn er führt dazu, dass in den Betrieben und den unterschiedlichen Branchen die Beschäftigten auf ein gemeinsames Ziel vereint und orientiert werden.

Einfach ist diese Aufgabe allerdings nicht, denn um das zu erreichen, muss nicht nur der politische Gegner bezwungen werden, sondern auch kleinkarierte Abgrenzungsschranken zwischen den DGB-Gewerkschaften abgebaut werden und auf internationaler Gewerkschaftsebene verbindliche Vereinbarungen zustande kommen.

Die Zukunft wir zeigen, wie ernst gemeint diese Absicht ist. Auf der einen Seite sind die Industriegewerkschaften dazu gezwungen etwas zu tun, wollen sie ihre Machtposition nicht verlieren. Auf der anderen Seite muss man aber sehr skeptisch sein, wenn man die gewerkschaftsseitige Korporationsbereitschaft mit dem deutschen Kapital sieht, das seine internationale Vormachtstellung und Konkurrenzfähigkeit mit allen Mitteln erhalten und ausbauen will.

Tendenzieller Fall der Profitrate

Schließlich hat eine Rationalisierungswelle wie in der Industrie 4.0 dargestellt eine weitere Konsequenz. Eine Konsequenz die einen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung des kapitalistischen Systems hat.

Die Automatisierung der Produktionsprozesse steigert die Produktivität der Industrie in bisher noch nicht gekannte Höhen. Da es aber nur die menschliche Arbeitskraft ist die Werte schafft, hat das zur Konsequenz, dass je größer die Produktivität ist, desto geringer ist der Anteil der menschliche Arbeitskraft pro erzeugter Ware und desto geringer daher der Wert, auf den es im Kapitalverwertungsprozess ankommt. Doch das interessiert den einzelnen Kapitalisten erst einmal nicht. Er steht in Konkurrenz zu den anderen Unternehmern seines industriellen Segmentes. Und wenn er in der Lage ist, mit geringeren Kosten als seine Konkurrenten zu produzieren, kann er sich einen Teil deren Mehrwertproduktion aneignen. Das heißt also: je mehr ein Kapitalist in seinem Unternehmen die Produktivität steigert, desto größer ist der Anteil des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts, den er sich aneignet.

Dieser Widerspruch führt dazu, dass das Kapital durch Produktivitätssteigerungen dazu beiträgt, dass die Wertproduktion zunehmend ausgehöhlt und untergraben wird. In der Vergangenheit wurde dieser Widerspruch verdeckt durch Ausdehnung der Gesamtarbeitsmenge, das heißt durch Vergrößerung der Beschäftigtenzahlen. Das hat die Epoche des Fordismus am deutlichsten gezeigt.

Das ist aber schon heute nicht mehr möglich und wenn die Industrie 4.0 greift, noch weniger. Die Folge wird sein, dass es zu verschärfter nationaler und globaler Konkurrenz zwischen Konzernen und Staaten kommt, mit allen Konsequenzen, die da sind verschärfte Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, weitere gesellschaftlicher Destabilisierung und steigende Kriegsgefahr.

Perspektive Sozialismus

Einer solchen Entwicklung Einhalt bieten können nur die arbeitenden Klassen. Schauen wir uns aber deren aktuellen Zustand in Deutschland, Europa und der Welt an, müssen wir uns fragen, ob sie dazu in der Lage sind. Im Moment sind sie es mit Sicherheit nicht.

Aber so wie es jetzt ist wird es nicht bleiben. Da sich alles verändert, verändert sich auch das Bewusstsein der Menschen, besonders dann, wenn einem großen Teil die Existenzgrundlage entzogen wird. Die Frage allerdings ist in welche Richtung das veränderte Denken geht.

Aktuell erleben wir, wie sich kleinbürgerliche Denkweisen auch bei vielen abhängig Beschäftigten durchsetzen. Dieses Denken steht für die Akzeptanz autoritärer Lösungen, die keine Lösungen der anstehenden gesellschaftlichen Probleme sein können.

Dabei könnten die Möglichkeiten, die sich aus der vierten industriellen Revolution ergeben unendlich groß sein. Die Drohung der Bibel, "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen" wäre endgültig Vergangenheit. Radikale Arbeitszeitverkürzungen wären möglich, die den Menschen die Perspektive eröffnen würde, ihren tatsächlichen Interessen nachzugehen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Das Ergebnis könnte eine Welt ohne monotone, gesundheitsschädliche Schinderei sein, ohne Armut und Angst vor der Zukunft.

Einer solchen Entwicklung stehen allerdings die Interessen der Kapitalisten entgegen. Freiwillig werden sie diesen Weg nicht beschreiten. Das heißt, zu diesem Ziel kommen wir nur, wenn wir den Kapitalismus überwinden und der Sozialismus erzwungen wird. Einen Automatismus gibt es dafür nicht. Angesichts der Schwäche sozialistischer und kommunistischer Kräfte erscheint das als eine Herkulesarbeit, zu der es aber trotzdem keine Alternative gibt.

Aber das was heute noch nicht denkbar ist, kann morgen durchaus möglich sein. In der Geschichte gibt es dafür genügend Beispiele.

Oktober 2015

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015, Seite 1 + 3 bis 7
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2016

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