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ARBEITERSTIMME/336: Tschechien vor der Wahl


Arbeiterstimme Nr. 193 - Herbst 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Tschechien vor der Wahl

von Stepan Steiger


In der Tschechischen Republik finden am 7. und 8. Oktober Regional- und Senatswahlen statt (ein Drittel des Senats wird gewählt). Obwohl Parlamentswahlen erst nächstes Jahr erwartet werden - termingemäss -, wird die diesjährige Wahl als ein Zeichen angesehen: ein vielleicht wichtiges Zeichen für eine mögliche politische Entwicklung. Denn die zwei wichtigsten Parteien, die Sozialdemokraten und die ANO-Bewegung, stehen im Wettbewerb miteinander um den ersten Platz. Meinungsumfragen zeigen eine Schaukelbewegung - nicht immer, doch sehr oft steht die ANO-Bewegung (die sich immer noch offiziell nicht als "Partei" bezeichnen will) vor den Sozialdemokraten, z. B. den jüngsten Juliergebnissen zufolge. Dies ist deshalb wichtig, weil, wenn ihr Gründer und Vorsitzender, der Milliadär Andrej Babis, im nächsten Jahr Ministerpräsident wird, dann wird sich die Regierungspolitik ziemlich ändern. Da hilft es nicht, wenn ein Gesetz über Interessenkonflikt im Abgeordnetenhaus diskutiert wird (von Ironikern Lex Babis genannt), Regierungsmitglied zu werden für den Fall, dass er "eine Geschäftskorporation oder ein Medienunternehmen" beherrscht - beides bezieht sich auf diesen Minister.

Solange es die Sozialdemokraten sind, die die Grundtendenz der Regierungspolitik angeben, kann man annehmen, dass sie auch in der Sozialpolitik den Ton angeben, umso mehr allerdings vor den Wahlen: Altersrenten werden - wie im Vorjahr - angehoben, ebenso wie der Minimallohn, die Unterstützung für kinderreiche Familien wird erhöhnt usw. (Natürlich werden diese Maßnahmen von der ganzen Regierung verabschiedet, doch die meisten Vorschläge kommen von den Sozialdemokraten.)

Es ist klar, dass es auch Schattenseiten gibt - schliesslich leben wir doch im Kapitalismus. So ist es nicht überraschend, wenn wir erfahren, dass es heutzutage doppelt so viele sog. ausgeschlossene Lokalitäten, sonst Ghettos genannt, gibt wie 2006 - es gibt 600 davon, in denen 105.000 Menschen leben (meistens Roma).

Unter der Armutsgrenze leben in Tschechien ungefähr 900.000 Menschen. Doch weitere Zehntausende sind von dieser Grenze nur durch ein paar hundert Kronen "entfernt". Unter der Armutsgrenze - d.h. einem Reineinkommen von 9.907 Kronen - leben 9,7 Prozent der Bevölkerung. Würde die Grenze um 165 Kc erhöht, wären fast 65.000 Menschen mehr bedroht.

Seit der "Umwälzung" von 1989 gibt es immer wieder Schätzungen, wie weit Tschechien vom Lebensniveau der "mehr entwickelten" westeuropäischen Länder entfernt ist. Eine bedeutende Studie der größten Gewerkschaftszentrale CMKOS, Tschechisch-mährische Konföderation der Gewerkshaftsverbände - vom Vorjahr, die unter dem Titel "Eine Vision der Wirtschaftsstrategie der Tschechischen Republik" veröffentlicht wurde (und soviel ich weiß, seitens der Regierung keiner seriösen Kritik unterworfen wurde) kam zu dem Schluss, dass es ohne eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik hundert Jahre dauern könnte.

Zusammengefasst fand die Studie heraus, wenn die bisherige Politik ohne Änderung auch weiterhin andauert, würden die Arbeiter weiter ein Dittel der westeuropäischen Löhne beziehen, die Entfernung zu den entwickelten Ländern würde wachsen, und die Tschechen könnten ihre Nachbarn in einigen Dekaden oder gar Jahrhunderten einholen. Denn anstatt von Fertigprodukten mit hohem Mehrwert würden immer mehr Komponenten und Teile produziert für niedrige Preise - daher für niedrige Löhne.

Die Tatsache, dass die Wirtschaft dieses Staates sehr schnell wächst - im zweiten Vierteljahr 2016 waren es 2,5 Prozent, doch seit dem zweiten Vierteljahr 2015 sinkt dieser Wert - kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirtschaftspolitik geändert werden müsste. Die Regierung sollte sich vielmehr auf höher qualifizierte Arbeit orientieren, auf Innovationen, sowie auf Produkte, die veredelt werden. Die Politik niedriger Löhne (Arbeitskosten) sowie eines niedrigen Wechselkurses für die Krone führt zu absteigender Restrukturierung der Wirtschaft in Richtung niedrigerer Stufen der Bearbeitung.

Leider gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese oder vielleicht die nächste Regierung den Schlüssen dieser Studie folgen könnte. Der Grund ist leicht zu finden: Im System, in dem wir leben, können Regierungen wirtschaftlich keine im wahren Sinne des Wortes strategischen Entscheidungen treffen. Das zu tun, sind nur die wirklichen "Wirtschaftsführer imstande - d.h. die Kapitalisten. Heute können die Regierungen die Staaten, die sie leiten, nur verwalten - sie zu ändern, sogar grundlegend, daran denken sie gar nicht. Die tschechische Regierung stellt sich der politischen Wahl, doch eine wirtschaftliche Reorientierung gibt es für sie nicht.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 193 - Herbst 2016, Seite 21
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2016

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