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AUFBAU/322: Der erste Streik der Welt


aufbau Nr. 69, mai/juni 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Der erste Streik der Welt

GESCHICHTE - Ca. 1170 v. u. Z. streikten Handwerker und Bildhauer während annähernd acht Monaten und führten zahlreiche Demonstrationen und Aktionen durch, um gegen die unzureichenden Lieferungen der monatlichen Getreiderationen zu protestieren.



(rabs) Im alten Ägypten stellten Getreiderationen die Entlohnung sämtlicher Arbeit dar. Sie wurden einmal im Monat vom Staat in ausreichender Menge verteilt, um den Lebensbedarf zu sichern. Das Getreide wurde auch für den Kauf von notwendigen Artikeln verwendet. Die Arbeiter standen somit in totaler Abhängigkeit von der Zentralmacht und galten, genauso wie das ganze Land, als alleiniger Besitz vom Pharao, dem Sohn und Nachfolger des Sonnengottes Re und Stellvertreter der Götter auf Erden[1].


Probleme bei der Verteilung der Rationen

Aus einer Tonscherbe, die in Turin aufbewahrt ist, werden erste Probleme in der Verteilung der Rationen schon für das 28. Regierungsjahr des Pharaos Ramses III. (1171 v. u. Z.) ersichtlich. Dieses Dokument wurde von einem Arbeiter in Deir el-Medina verfasst und dokumentiert über einen Zeitraum von zwei Jahren die Fehlbeträge des ausbezahlten Getreides, wobei die Versorgungsprobleme sich bis ins 30. Regierungsjahr fortsetzen.[2]

Offenbar waren die Auswirkungen auf die Arbeiter sehr gross, denn schon bald sind erste Proteste auf einer weiteren Tonscherbe in Berlin dokumentiert: "Jahr 29, 21. Tag des 2. Monats Achet[3]. An diesem Tag sprach der Schreiber Amennakht zur Mannschaft, die sagte: 'Zwanzig Tage sind im Monat vergangen und die Rationen wurden nicht verteilt.' (...) Einer ernannte To zum Visier des Landes von Ober- und Unterägypten".[4]

Bezeichnend für diese Quelle ist, dass Hinweise über die politische Lage Ägyptens auftauchen. "Einer" wäre hier wahrscheinlich als der Pharao zu interpretieren, der einen gewissen To zum Visier von Ober- und Unterägypten, das höchste Amt im Reich, ernennt. In einem Eintrag für den 3. Monat Peret des 29. Jahres im Turiner Streikpapyrus[5] kann man lesen: "Wir (die protestierenden Arbeiter) haben etwas wichtiges zu sagen. Wahrlich, Böses geschieht an Stelle des Pharaos".[6]

Wahrscheinlich ist hier der Visier To gemeint, da anzunehmen ist, dass sich der Pharao zum Zeitpunkt der Unruhen aus den Regierungsgeschäften zurückgezogen hatte. Dafür spricht, dass Ramses III nun schon ein alter Mann und nicht mehr der energische Herrscher war, der die Libyer und die Seevölker besiegt hatte. Sein Rücktritt hatte vielleicht politische Probleme zur Folge, nur drei Jahre danach wurde der Herrscher in einer Hofverschwörung ermordet. Korruption, Misswirtschaft sowie schlechte Ernten, aufgrund des sinkenden Nilniveaus, könnten Gründe für die Probleme bei der Verteilung der Getreiderationen gewesen sein.


Widerstand der Arbeiter

Vom Beginn der Unruhen im 2. Monat Peret bis zu ihrem dokumentierten Ende im 1. Monat Schemu, sind im Turiner Streikpapyrus zahlreiche Demonstrationen, Fackelzüge und Sitzproteste dokumentiert. So liest man für den 10. Tag des 2. Monats Peret: "An diesem Tag, die fünf Mauern der Nekropolis überquerend mit der Mannschaft, die sagte: 'Wir haben Hunger: achtzehn Tage sind vergangen' und sie setzten sich beim hinteren Teil des (Totenkulttempels von Thutmosis III)."[7] [schlechte Übersetzung...]

Die Proteste scheinen vor allem während des ersten Streikmonats aufgeflammt zu sein, denn für diese Zeit sind in einer Abfolge von drei Tagen ein Fackelzug, mehrere Demonstrationen und ein Sitzprotest belegt.

In den folgenden Monaten ereigneten sich weitere Demonstrationen, die offenbar einen gewissen Effekt hatten, denn grosse Anstrengungen erfolgten, um die Getreidelieferungen zu stabilisieren. Dennoch beruhigte sich die Lage nicht. Noch für das 1. Regierungsjahr des Nachfolgers von Ramses III sind Proteste der Arbeiter von Deir el-Medina belegt.[8]


Handwerker und Bildhauer, eine privilegierte
Arbeiterklasse

Handwerker und Bildhauer gehörten zu einer speziellen Gruppe von Männern im pharaonischen Ägypten. Diese bewohnten zusammen mit ihren Familien schon seit einigen Generationen das Arbeiterdorf von Deir el-Medina im südlichen Bereich von Theben-West und gewannen ihren Lebensunterhalt mit der Dekoration der Gräber im Tal der Könige und den dazugehörigen Totenkulttempel.[9]

In der altägyptischen Herrschaftsideologie war einer der wichtigsten Zwecke des Reiches die Erhaltung des "Leben nach dem Tode" vom Pharao als "großem Gott" unter den grösseren Götter. Dies war aber ohne die Arbeit der Handwerker und Bildhauer der Nekropole unmöglich, da die rituellen Abbildungen und Texte Voraussetzung für den Übergang und Aufenthalt des Verstorbenen im Jenseits waren.[10] Obwohl diese Teil einer privilegierten Arbeiterklasse waren, ist aus dem Turiner Streikpapyrus herauszulesen, dass die nicht abgegebenen Rationen die Arbeiter vor ernste Überlebensprobleme stellten und dass, angesichts der Passivität der Herrschenden, ihnen nur der Widerstand übrig blieb.


ANMERKUNGEN

[1] Nach Susanne Bickel: Die Verknüpfung von Weltbild und Staatsbild. S. 82-88.

[2] Nach Müller, Matthias: Der Turiner Streikpapyrus. In TUAT, Texte zum Rechts- und Wirtschaftsleben, Neue Folge Band 1 (204), S. 167-168.

[3] Der altägyptische Kalender teilte sich in drei Jahreszeiten, mit jeweils vier Monaten à 30 Tagen: die Jahreszeit der Überschwemmung (Achet, Juni-Oktober), die Jahreszeit der Aussaat (Peret, Oktober-Januar) und die Jahreszeit der Ernte (Schemu, Februar-Juni).

[4] Originalübersetzung in Edgerton, William F.: The strikes in Ramses III's twenty-ninth year. In: Journal of Near Eastern Studies 10 (1950), S. 137.

[5] Der Turiner Streikpapyrus (Turin 1880) ist ein tagebuchartiges Dokument, dass die Unruhen in Deir el-Medina dokumentiert. Eine Übersetzung auf Deutsch findet man in

[6] Müller, Der Turiner Streikpapyrus, S. 178-184.

[7] Originalübersetzung in Edgerton, The strikes in Ramses III's twenty-ninth year, S. 140.

[8] Originalübersetzung in Edgerton, The strikes in Ramses III's twenty-ninth year, S. 139.

[9] Nach Müller, Der Turiner Streikpapyrus, S. 175.
Nach Edgerton, The strikes in Ramses III's twenty-ninth
year, S. 137.

[10] Nach Edgerton, The strikes in Ramses III's twenty-ninth year, S. 137.

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Redaktion

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Quelle: aufbau Nr. 69, mai/juni 2012, Seite 10 HerausgeberInnen: Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch Redaktion und Vertrieb Schweiz aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich E-Mail: info@aufbau.org Internet: www.aufbau.org   aufbau erscheint fünfmal pro Jahr. Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2012