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AUFBAU/338: "Solidarität ist der Kitt, der alles zusammenhält"


aufbau Nr. 71, januar 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

GEFANGENE
"Solidarität ist der Kitt, der alles zusammenhält"



Nach mehr als fünf Monaten Untersuchungshaft wurde Mitte November auch der Verhaftete vom NT-Areal wieder freigelassen. Wie kann die Solidarität tatsächlich zur Waffe werden und was bedeutet sie für einen Gefangenen? Ein Gespräch mit P., dem "Gefangenen vom NT-Areal" und M., einem der Gefangenen vom 1. Mai 2012.


(raw) Wer sich den öffentlichen Raum für seine eigenen Inhalte und Formen aneignet, gehört hinter Schloss und Riegel. Darin zumindest sind sich die Basler und die Zürcher Staatsanwaltschaften einig. In Basel war es eine unbewilligte Party mit über 1000 BesucherInnen und ein Gerangel mit einem Zivilpolizisten anfangs Juni, die den Anlass für eine mehr als fünfmonatige Untersuchungshaft gaben. In Zürich waren es politische Aktivitäten am Morgen, Mittag und Nachmittag des 1. Mai 2012, die am 10. Juli zu Hausdurchsuchungen und zur Verhaftung von sechs Genossen führten. Fünf der sechs Gefangenen vom 1. Mai kamen nach sechs Wochen Haft wieder frei, der sechste nach zehn Wochen. Aufgegangen sind die Ziele der beiden Staatsanwaltschaften aber nicht: Mit zahlreichen Solidaritätsaktionen, mit zwei Demos in Basel und Zürich und in der Breite der Solidaritätsbekundungen und -botschaften zeigte sich, dass die Solidarität trotz aller Abschreckungsversuche stetig und über viele Grenzen hinweg wachsen und zur gemeinsamen politischen Waffe werden konnte. Was bedeutet die Solidarität von aussen wenn man in U-Haft sitzt? Im Sinne einer Verallgemeinerung und Kollektivierung der Erfahrungen geben wir hier ausschnittsweise ein Gespräch mit einem der Gefangenen vom 1. Mai und dem Gefangenen vom NT-Areal wieder.

Frage: Vielleicht können wir zu Beginn gerade über die erste Zeit im Knast reden. Wie war das für euch, als ihr das erste Mal mitbekommen habt, dass die GenossInnen draussen Bescheid über eure Verhaftung wissen und euch unterstützen?

P: Gemerkt, dass draussen bereits was am Laufen ist, habe ich, als mich der Anwalt zum ersten Mal besucht hat. Damit war schon mal eine gewisse Sicherheit vorhanden. Und schon nach ein paar Tagen wurde zum ersten Mal vor dem Knast geknallert, was mir schon eine gewisse Stärke gegeben hat.

M: Bei mir ging die Vernetzung draussen eigentlich auch überraschend schnell und weit über den "kleinen Rahmen" der Politszene hinaus. So sind Leute aus verschiedenen Umfeldern zusammengekommen und haben sich abgesprochen. Es hat mich positiv überrascht, aus wie vielen Ecken ich Briefe und Postkarten erhielt. Es ist beruhigend zu wissen, dass die Organisierung der Solidarität und das Aufbauen dieser Netzwerke so schnell und so gut funktioniert. Gerade wenn wir durch das Anziehen der Repressionsschlinge in Zukunft vielleicht öfters mal damit rechnen müssen, dass jemand im Knast sitzt.

P: Und es stärkt natürlich auch, wenn man weiss, dass nun Leute miteinander zusammenarbeiten, die sonst politisch vielleicht eher weniger miteinander zu tun hatten.

M: Ich denke, die Solidarität ist eine effektive Antwort, die wir auf die Angriffe der Repression geben können. Sie versuchen einzelne Leute herauszugreifen und die Individualisierung voranzutreiben. Im Moment setzen sie ja eher auf Qualität und nicht auf Quantität. Die Strategie mit grossen Kesseln und Massenverhaftungen scheint aktuell nicht mehr so angesagt. Die Bullen machen vermehrt qualitative Verhaftungen, greifen einzelne Leute raus, von denen sie denken, dass sie eine führende Funktion haben oder die sich etwas mehr exponieren und versuchen an ihnen ein Exempel zu statuieren. Einzelne werden bestraft, gemeint sind aber alle! Dies dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen das politische Kollektiv zusammenhalten und der Gegenseite damit zeigen, dass wir uns von ihnen nicht vereinzeln lassen. Die Solidarität ist darin eine Art Kitt, der alles zusammenhält. Auch wir müssen in diesen Zeiten auf Qualität setzen und unsere Vernetzungen, unsere Strukturen und Kommunikationswege verbessern. Auch um zukünftige Angriffe der Repression auffangen und Gefangenen-Solidarität in Zukunft effizienter organisieren zu können.

Frage: Wie hat sich die Solidarität konkret auf das Verhalten der Staatsanwaltschaft ausgewirkt? Haben sie versucht, die Individualisierung und Isolation besser aufrechtzuerhalten oder zu verstärken?

P: Dass Solidarität tatsächlich eine Waffe sein kann, habe ich auch daran gesehen, dass die Staatsanwaltschaft von all den Briefen total gestresst war. Wenn du kein Geld hast, kannst du nur zwei Briefe pro Woche rausschicken, wenn du ein "Knast-Guthaben" hast, musst du einfach das Porto für die Briefe bezahlen, kannst aber eigentlich beliebig viele schreiben. Ich hatte von Anfang an immer Geld zur Verfügung und trotzdem bekam ich nach ein paar Wochen plötzlich einen Brief von der Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis, ich dürfe nur noch zwei Briefe pro Woche verschicken. Wahrscheinlich war es einfach eine Art Einschüchterungsversuch, von dem ich mich aber nicht beeindrucken liess und einfach weiterschrieb.

M: Kamen alle deine Briefe an?

P: Nein, viele Briefe behielten sie wegen angeblich "beleidigendem Inhalt" zurück.

M: Bei mir war es auch sehr willkürlich was ankam und was nicht. Ein weiterer Aspekt bei mir und den anderen Gefangenen vom 1. Mai lag dann natürlich in der Begründung der U-Haft: Sie versuchten die Solidarität gegen uns zu verwenden. Bei mir schrieben sie, dass zu befürchten sei, dass mir mein solidarisches Umfeld - eine "verschworene und loyale Gemeinschaft" - im Falle meiner Freilassung sofort ein Alibi verschaffen würde.

P: Bei mir schrieben sie mal, dass ich gemessen an der Zahl der Briefe die ich erhalte, wohl eine Führungsfunktion haben müsse. Sie konnten sich die grosse Solidarität in ihrer Denkweise wohl nicht anders erklären.

Frage: Wie hat sich die Haftsituation für euch entwickelt, auch im Zusammenhang mit der Solidarität von aussen?

P: Ich hatte die ersten paar Tage schon die Hoffnung dass ich schnell wieder rauskommen würde. Als dann klar wurde, dass es länger gehen würde, konnte ich mich wenigstens etwas darauf einstellen und mir einen eigenen Tagesablauf zurechtlegen. Die Umsetzung davon ging manchmal besser und manchmal schlechter, man hat ja nicht viele Möglichkeiten im Knast. Unbewusst macht man sich natürlich bei jedem noch so kleinen Ansatz Hoffnungen auf ein baldiges Rauskommen, auch wenn man es besser weiss. Wenn dann die nächste U-Haft-Verlängerung bewilligt wurde, war ich blöd gesagt eigentlich fast ein bisschen froh darüber, weil ich mich so wenigstens wieder auf etwas einstellen konnte. Das wichtigste waren für mich aber schon die Briefe. Durch das Lesen und Schreiben bist du mit den Gedanken eigentlich bei den Leuten draussen. Du musst einfach. mit allen Mitteln versuchen, deinen eigenen Rhythmus durchzuziehen.

M: Das wichtigste für mich war es, die Initiative zu behalten. Sie wollen sie dir wegnehmen, durch den vorgegebenen Tagesablauf, den Reizentzug und so weiter. Sie wollen dich zermürben. Die Waffe, die du dagegen hast ist, die Initiative soweit es geht in den eigenen Händen zu behalten, z.B. durch bewusstes Umsetzen einer eigenen Tagesstruktur oder das Gestalten der Zellenwände mit Postkarten, Briefen und Fotos. Zudem war die Solidarität von aussen eine wichtige Kraftquelle. Du kannst ein Teil davon aber auch drinnen weitergeben: Das Knallern zum Beispiel führte immer wieder zu Diskussionen im Hofgang und löste auch bei den Mithäftlingen Reaktionen aus. Solidarität hinterlässt Spuren!

Frage: Kannst du das gerade noch etwas ausführen, wie fassten die anderen Häftlinge die Solidarität mit euch auf, wie reagierten sie darauf?

M: Von den Häftlingen gab es eigentlich nur positive Feedbacks. Und man wird schnell zum Anlaufpunkt, wenn man hilfsbereit ist und gut deutsch kann. Du bekommst schnell deine Rolle, so wie jeder im Knast eine Rolle hat.

P: Ich schrieb und übersetzte viel für die andern. Das Knallern kam eigentlich bei allen gut an und hat sie gefreut.

M: Bei mir waren die Solidarität und die Reaktionen der Mithäftlinge darauf der Grund für eine Verlegung vom Flughafen-Gefängnis ins BGZ. Ein Knastspaziergang für mich hat innerhalb des Knastes einen riesigen Tumult ausgelöst, zahlreiche Gefangene schrien Parolen und waren in ausgelassener Stimmung. Ich denke, das wuchs den Knast-Verantwortlichen über den Kopf. Sie befürchteten wohl, dass diese Art der Solidarität plötzlich beginnt Schule zu machen, dass auch andere vor den Knast kommen, um die Gefangenen zu unterstützen.

P: Am Tag der Demo in Basel wurde der Hofgang auf den Morgen verschoben, danach hiess es, aus betrieblichen Gründen müssten wir den Nachmittag in den Zellen verbringen. Sie hatten wahrscheinlich Angst, dass sie die Reaktionen auf diese Solidarität nicht mehr kontrollieren könnten.

M: Vielleicht kann man aus unseren Erfahrungen zum Schluss auch einen etwas grundsätzlichen Aufruf formulieren; den Gefangenen zu schreiben ist von draussen ein kleiner Aufwand, für die Gefangenen haben die Briefe aber eine riesige Bedeutung. Wie schon erwähnt, kannst du mit Postkarten deine Zellenwände schmücken und dir deinen Raum aneignen. Die Beschäftigung mit Lesen und Schreiben gibt Kraft und ist ein Draht nach Draussen. Nach der Freilassung ist es in meinen Augen sehr wichtig, dass man die Erfahrungen, die man im Knast gemacht hat bewusst aufarbeitet, auch wenn wir im Vergleich zu anderen nur kurz gesessen sind. Für mich ist es z.B. die Arbeit zu politischen Gefangenen, die mir hilft oder Gespräche mit anderen Ex-Gefangenen wie dieses hier. Auch das Verallgemeinern und Kollektivieren von Erfahrungen gehört für mich zum Prozess der bewussten Aufarbeitung.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 71, januar 2013, Seite 4
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2013