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AUFBAU/374: Türkei - Ein Sommer des Aufbruchs


aufbau Nr. 75, dezember / januar 2013-14
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Ein Sommer des Aufbruchs

Im vergangenen Sommer fanden in vielen Orten der Türkei grosse Proteste statt. Ein halbes Jahr später ist die Bewegung weniger sichtbar, aber nicht vorbei.



(rabs) Ende Mai 2013 begannen die Proteste in Istanbul und breiteten sich innerhalb weniger Tage in mehreren Dutzend Städten aus. Auslöser für die Aufstände war die massive Polizeigewalt, mit der den Kämpfen um die Erhaltung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls begegnet wurde. In vielen Teilen Istanbuls finden Prozesse der Gentrifizierung statt, in denen die wenigen verbliebenen Grünflächen überbaut werden sollen und die ärmere Bevölkerung durch die Zerstörung proletarischer Quartiere verdrängt wird. Dabei soll Istanbul unter anderem als zentraler Finanzplatz etabliert werden. Diese durch die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdogan vorangetriebenen städtischen Umstrukturierungen sind nicht alleiniger Grund für die Proteste.

Die Unzufriedenheit mit der Regierung manifestiert sich auch in anderen Fragen. Auf die kurze Phase der Demokratisierung unter der ersten AKP-Regierung ab 2002, in der etwa eine Annäherung an die kurdische und armenische Bevölkerung versucht, die Todesstrafe abgeschafft und die Meinungsfreiheit erweitert wurde, folgte ab 2007 eine Neuausrichtung der Regierung. Seither tut sie sich mit dem neoliberalen Umbau der Wirtschaft hervor, der zwar Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigen lässt, aber keine Vorteile für die unteren Klassen mit sich bringt. Begleitet wird die wirtschaftliche Liberalisierung von einer konservativen und autoritären gesellschaftlichen Entwicklung. So wird die Pressefreiheit eingeschränkt und kritische JournalistInnen verfolgt, Polizei und Militär aufgerüstet und religiöse Werte gewinnen an Relevanz. Frauen sind von dieser Entwicklung besonders betroffen, etwa durch restriktive Abtreibungsgesetze und die Tolerierung häuslicher Gewalt gegen Frauen. Aktuell zeigt sich das reaktionäre Klima am Beispiel der Razzien, die in Wohnungen durchgeführt wurden, in denen Männer und Frauen unverheiratet zusammen leben. Sie richteten sich insbesondere gegen Wohngemeinschaften von Studierenden und sind somit auch Teil der Repression gegen die Protestbewegung, in der Studierende einen wichtigen Platz einnehmen.


Infrastruktur gegen Repression

Die gewaltsame Räumung des von AktivistInnen besetzten Gezi-Parks war keine Ausnahme, sondern folgte der üblichen staatlichen Vorgehensweise gegenüber gesellschaftlichen Mobilisierungen. So machten Kämpfe in türkischen Gefängnissen wiederholt auf ein Gefängnissystem aufmerksam, das von Folter, Isolationshaft und Gefängnisaufenthalten ohne gerichtliches Urteil geprägt ist. Im Fall der jüngsten Proteste trifft die Repression nicht nur einzelne Menschengruppen - KurdInnen, linke Organisationen etc., die leicht als TerroristInnen diffamiert werden können -, sondern weite Teile der Bevölkerung. Der Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern, Gummischrot und scharfer Munition führte zum Tod von sieben Menschen und zu mindestens 8000 Verletzten.

Innerhalb der Bewegung wurde der Polizeigewalt auf verschiedene Weise begegnet. In Moscheen und Kirchen wurden Anlaufstellen zur medizinischen Soforthilfe aufgebaut; AnwältInnen boten rechtliche Hilfe an; im Internet kursierten Listen von Restaurants und Hotels, in denen DemonstrantInnen Zuflucht suchen konnten; ebenso wurden Orte aufgeführt, an denen ÄrztInnen zur Verfügung standen und Gasmasken erhältlich waren. Wie bei anderen urbanen Bewegungen, etwa in Spanien oder Griechenland(1), wurden auch in der Türkei öffentliche Foren bzw. Volksräte gebildet, die bis heute bestehen. In den nach Stadtteilen organisierten Foren werden sowohl allgemeine Anliegen der Bewegung besprochen, wie auch regionale Probleme. Im Versuch, diese Probleme selbst anzugehen, werden Formen der Gegenmacht sichtbar(2).


Stimmungswechsel in der Bevölkerung

Ein halbes Jahr nach Ausbruch der Proteste ist es in der Türkei ruhiger geworden, insbesondere wenn Massendemonstrationen als Indikator für den momentanen Zustand der Bewegung betrachtet werden. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, dass über die konkreten Aktionen hinaus kein Prozess der Veränderung im Gang ist. Die täglichen Demonstrationen und Strassenkämpfe im Sommer haben bei den beteiligten Menschen und darüber hinaus Spuren hinterlassen. So ist etwa das grosse Misstrauen der Bevölkerung in die Regierung und in die Gewaltapparate des Staates eine direkte Folge des brutalen Vorgehens gegen die Protestierenden. Wenn früher bei Verhaftungen von vielen angenommen wurde, dass die Verhafteten kriminelle Handlungen begannen hätten, so haben heute viele Menschen Erfahrungen mit Polizeiübergriffen gemacht. Diese veränderte Haltung, die sich in der Unterstützung der Verhafteten ausdrückt, kommt den schon lange gegen Repression kämpfenden Kräften in der Türkei zu Gute.

Auch das Vertrauen in die türkischen Medien wurde erschüttert. In ihnen kamen die grossen Demonstrationen der ersten Tage schlicht nicht vor. Stattdessen wurde etwa im Fernsehen zur Hauptsendezeit eine Dokumentation über Pinguine gezeigt.

Die Foren finden zur Zeit zwar nicht mehr täglich und wegen zunehmender Kälte nicht mehr auf Plätzen statt, sie treffen sich jedoch nach wie vor in Cafés oder öffentlichen Gebäuden. Nicht zuletzt wird damit versucht, sich in einer Form zu organisieren, die mit dem Alltagsleben kompatibel ist. Bei einschneidenden Ereignissen können die Strassenproteste schnell wieder aufgenommen werden. So dehnten sich im September 2013 die Proteste in der ganzen Türkei aus, als die Polizei ein Protestcamp auf dem Campus der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTU) räumte(3). Die von unterschiedlichen Menschen getragenen Kämpfe brachten eine Solidarität innerhalb der Bevölkerung mit sich, die zuvor nicht denkbar gewesen war. Exemplarisch zeigte sich dies, als nach der Ermordung eines kurdischen Jungen auch nationalistische TürkInnen auf die Strasse gingen um sich zu solidarisieren. Im Fall Istanbuls brachten die Proteste Menschen zusammen, die sonst kaum in Kontakt waren, da dort verschiedene Bevölkerungsgruppen nach Stadtteilen aufgeteilt sind. Die hinter den Barrikaden erlebte Kollektivität wird die Möglichkeit einschränken, die verschiedenen Teile der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen.


Anmerkungen:

(1) Zu Spanien siehe aufbau Nr. 66, zu Griechenland aufbau Nr. 67.

(2) Siehe das Gespräch mit Figen Yüksekdag, junge Welt, 16.11.2013.

(3) Das Camp wurde errichtet, um gegen ein Strassenbauprojekt der Regierung zu protestieren, dem der auf dem Campus befindliche Wald zum Opfer fallen sollte.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 75, dezember / januar 2013-14, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2014