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AUFBAU/400: Die algerische Revolution in Theorie und Praxis


aufbau Nr. 78, september / oktober 2014
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die algerische Revolution in Theorie und Praxis



ANTIKOLONIALISMUS Vor 60 Jahren begann in Algerien der Unabhängigkeitskampf der FLN. Frantz Fanon, Mitglied der FLN, verfasste mit "Die Verdammten dieser Erde" ein sprachgewaltiges Manifest für die Überwindung des Kolonialismus.


(rabs) In den 1950er und 60er Jahren führten in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas linke nationale Befreiungsbewegungen den Kampf gegen koloniale Herrschaft. In der Folge dieser Kämpfe erlangten die Länder ihre formelle Unabhängigkeit von den europäischen Mächten bzw. den USA. Die antikolonialen Kämpfe standen unter dem Zeichen der Konfrontation zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Teilen der Welt. Die oft von der Sowjetunion unterstützten antikolonialen Bewegungen wurden zur Bedrohung für die kapitalistischen Länder und ihre Hegemonie.

Im von Frankreich kolonialisierten Algerien begannen die Auseinandersetzungen am 1. November 1954: Die algerische "Front de Libération Nationale" (FLN) attackierte in mehreren Städten zivile und militärische Ziele. Die französische Armee versuchte mit allen Kräften die Kolonie zu halten und organisierte eine gewaltsame Jagd auf die algerische Bevölkerung. Frankreich hatte im Frühling 1954 in der Schlacht um Dien Bien Phu eine Niederlage gegen die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh eingefahren. Nun galt es, in Algerien Stärke zu beweisen. Die Kämpfe weiteten sich 1956 auf das ganze Land aus und wurden vonseiten der FLN mit Guerilla-Methoden geführt. Die bewegliche Kriegsführung im Sinn der unter anderem von Mao Tse-tung entwickelten Guerilla-Taktik baut auf einen starken Rückhalt der Kämpfenden in der Bevölkerung, insbesondere der ländlichen. In Algerien beispielsweise fanden die Militanten der FLN bei der bäuerlichen Bevölkerung Schutz vor der Verfolgung durch die französische Armee. Die Verbindung zwischen Kämpfenden und jahrelang unterdrückter Zivilbevölkerung ermöglichte es den Befreiungsbewegungen vieler Länder, die technisch weit überlegenen Kolonialarmeen zum Rückzug zu zwingen. So geschah es auch in Algerien, das im Jahr 1962 unabhängig wurde.


Verbreiteter Rassismus

Frantz Fanon, Militanter und Theoretiker aus den Reihen der FLN, wurde an unterschiedlichen Stationen seines Lebens mit rassistischen Verhältnissen konfrontiert. Geboren auf der Karibikinsel Martinique, die zu Frankreich gehörte, schloss er sich 1944 als Freiwilliger dem Kampf gegen die deutsche Wehrmacht an. Innerhalb seines Bataillons herrschte eine strenge Hierarchie der "Rassen", die insbesondere die senegalesischen Kämpfenden abwertete. Fanon wurde offiziell als Franzose eingestuft und hatte somit eine bessere Position, die er aber immer durch seine Kopfbedeckung markieren musste, um als Schwarzer nicht den Senegalesen zugerechnet zu werden. Diese Erfahrung von Rassismus in einer Armee, die sich gegen den nationalsozialistischen Rassenhass wehrte, prägte Fanon. Er erlebte die deutsche Kapitulation in Frankreich - am gleichen Tag wurden in Algerien Demonstrationen für die Unabhängigkeit blutig unterdrückt. An diesem Tag und in den darauf folgenden Unruhen wurden insgesamt mehrere Zehntausend Menschen durch die französische Armee getötet.

Fanon studierte ab 1946 Medizin in Frankreich und interessierte sich bald besonders für die Psychiatrie. Er erlebte die ablehnende Haltung französischer ÄrztInnen gegenüber nordafrikanischen PatientInnen und erkannte auch seinen eigenen minoritären Status innerhalb der französischen Gesellschaft. In "Schwarze Haut, weisse Masken", seinem 1952 erschienenen, ebenfalls breit rezipierten Werk, beschrieb er die rassistische Spaltung zwischen Schwarzen und Weissen. Er fokussierte darin auf die Auswirkungen des Rassismus auf Schwarze, auf das Zuschreiben einer biologischen Minderwertigkeit, die bis zur Aberkennung des Mensch-Seins ging. Ab 1953 arbeitete er in Algerien als Psychiater im Krankenhaus von Blida-Joinville. Er baute eine psychiatrische Station auf, auf der, angestossen durch die französische Reformpsychiatrie, versucht wurde, die Hierarchie zwischen ÄrztInnen und PatientInnen teilweise aufzuheben. Nach Ausbruch des Unabhängigkeitskampfs suchte die FLN den Kontakt zu Fanon und bald entwickelte sich Fanons Station zu einem Ort medizinischer und logistischer Unterstützung - etwa durch das Verstecken gesuchter UnabhängigkeitskämpferInnen. Wegen der zunehmenden politischen Repression trat Fanon Ende 1956 von seinem Posten als Chefarzt in Blida-Joinville zurück und verliess Algerien.


Militanter der FLN

Er zog nach Tunis, wo sich eine Exilzentrale der FLN befand und wurde offiziell Mitglied der Befreiungsbewegung. Er schrieb Artikel für Organe der FLN und wurde im Sommer 1957 deren Sprecher. Als Vertreter der FLN reiste er an internationale Tagungen, war aber auch weiterhin als Arzt tätig, sowohl in Lagern der FLN entlang der tunesischen und marokkanischen Grenze, als auch in tunesischen Krankenhäusern. Im Jahr 1960 ernannte die FLN Fanon zum Botschafter in Ghana, eine Position, die Fanon persönliche Kontakte zu führenden Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegungen verschiedener afrikanischer Länder ermöglichte.

Fanon selbst sollte die Unabhängigkeit Algeriens nicht mehr erleben: Er starb 1961 an Leukämie. Im gleichen Jahr erschien sein berühmtestes Buch "Die Verdammten dieser Erde", in dem er seine eigenen Erfahrungen in politischen Analysen zum Kolonialismus verarbeitete und eine Theorie der antikolonialen Revolution formulierte. Er richtete sich mit dem Buch an seine GenossInnen im Befreiungskampf bzw. an alle jene, die unter kolonialen Strukturen zu leiden hatten und die er dazu aufrief, sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Er charakterisierte die koloniale Gesellschaft als sowohl von physischer, als auch psychischer Gewalt gegen die Kolonialisierten durchzogen. Diese von offener Gewalt geprägte Ordnung manifestierte sich in einer latenten Aggressivität der Kolonisierten, die in der Zeit vor dem Unabhängigkeitskampf ihren Ausdruck in Auseinandersetzungen unter den Kolonisierten, in selbstdestruktivem Verhalten und in mystischen Ritualen fand.

Durch den gewaltsam geführten Befreiungskampf konnte nun die Aggressivität, die in Körpern und Psychen der Unterdrückten vorhanden war, kanalisiert und gegen die koloniale Unterdrückung gerichtet werden. Die koloniale Unterdrückung war für Fanon Grund für diese Aggressivität, die ohne die Umwälzung der kolonialen Verhältnisse nicht überwunden werden konnte. Die Gewalt erlaubte es den Kolonialisierten, sich ihrer Minderwertigkeitskomplexe zu entledigen. Fanon betonte die befreiende Rolle von Gewalt in Situationen, in denen alle anderen Mittel gescheitert waren. Er sah sie als verbindendes Element zwischen unterschiedlichen Gruppen von Kolonisierten. Dabei problematisierte er Gewalt durchaus auch, etwa wenn er auf ihre Auswirkungen einging, mit denen er als Arzt und Psychiater direkt konfrontiert war oder wenn er die unnötige Brutalität, die teilweise von Mitgliedern der FLN ausgeübt wurde, zurückwies. In einem Kapitel aus "Die Verdammten dieser Erde" widmete er sich den psychischen Störungen, die sich im Kolonialkrieg auf beiden Seiten manifestierten und verwies darauf, dass die Anwendung von Gewalt auch dann ihre Spuren hinterliess, wenn die Handlung selbst als legitim und notwendig erachtet wurde.


Das revolutionäre Subjekt

Für den kolonialen Kontext sprach Fanon der bäuerlichen Bevölkerung die hauptsächliche Rolle des revolutionären Subjekts zu, in Verbindung mit der verarmten städtischen Bevölkerung. Er charakterisierte sie als die Teile der kolonialen Gesellschaft, die nichts zu verlieren hatten und in denen eine gemeinschaftliche Tradition den kollektiv geführten Kampf begünstigte. Dem Zusammentreffen von aktiven BefreiungskämpferInnen mit der ländlichen Bevölkerung mass Fanon eine grosse Bedeutung zu, da ein gegenseitiger Lernprozess in Gang gesetzt werden konnte. Darin lernten einerseits die Militanten, die Situation in Algerien besser einzuschätzen, etwa das ländliche Elend und die Bereitschaft der Bevölkerung zum Aufstand. Andererseits wurde die Landbevölkerung militärisch und politisch ausgebildet. Hingegen bezweifelte Fanon, dass die proletarische Klasse die antikoloniale Revolution entscheidend voran bringen würde. Sie machte einen sehr kleinen Teil der algerischen Bevölkerung aus und nahm eine privilegierte Position im Kolonialsystem ein.

Fanon betonte die Notwendigkeit der aktiven Teilnahme am Befreiungskampf. Er verstand den revolutionären Prozess als Zusammenspiel von gesellschaftlicher und individueller Befreiung. In der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ging es ihm auch um die Selbstveränderung, die in der Beteiligung am Kampf möglich war. Auch Marx betonte in den "Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln" die Notwendigkeit der Selbstveränderung - auch wenn dadurch Kämpfe verlängert werden. Die ehemals kolonialisierten Menschen sollten, so Fanon, zur gemeinsamen Gestaltung ihres Schicksals befähigt werden, anstatt Verhältnissen ausgesetzt zu sein, die ihnen von anderen auferlegt wurden. Fanon warnte zudem in "Die Verdammten dieser Erde" vor der Vereinnahmung der Errungenschaften der Revolution durch nationale Eliten. Diese Warnung erwies sich nicht nur im algerischen Kontext als hellsichtig. In vielen ehemals kolonialen Ländern blieben nach der Unabhängigkeit die kolonialen Strukturen erhalten, statt dass sie im Sinn der sozialistischen Ausrichtung der Befreiungsbewegungen umgewälzt worden wären.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 78, september / oktober 2014, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2014