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AUFBAU/424: Wir haben gekämpft, ich bin glücklich


aufbau Nr. 81, mai / juni 2015
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Wir haben gekämpft, ich bin glücklich


FILM Die beiden Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne haben mit "Deux jours, une nuit" einen weiteren Film aus proletarischem Milieu auf den Markt gebracht und sich um einen Aufruf zur Solidarität bemüht.

(az) Wir sehen Ausschnitte aus Lebenssituationen, Personen, die handeln, doch bleibt ihr Tun zunächst nicht nachvollziehbar, erst mit der Zeit beginnen wir zu verstehen. Das ist bei Filmen der Brüder Dardenne Programm: Sie entwickeln sich langsam und Erklärungen sind rar, das Schicksal der Personen steht zwar im Zentrum, doch wird es nur in kleinen Stücken offen gelegt. Und am Ende steht die Sympathie klar auf der Seite der Hauptpersonen, die ihr Leben trotz begrenzter Möglichkeiten so schlecht nicht meistern. Willkommen im filmischen Realismus, das Sujet ist die belgische ArbeiterInnenklasse, dargestellt an beispielhaften Einzelfällen.

Es ist zugleich bezaubernd und verblüffend, dass es den belgischen Regisseuren Dardenne Film für Film gelingt, ohne Helden oder Anti-Helden auszukommen, ihre Geschichten entlang eines unauffälligen Lebens zu schreiben und trotzdem fesselndes Kino zu machen. So hat im aktuellsten Film "Deux jours, une nuit" die Arbeiterin Sandra sich nur durchgerungen, gegen ihre Entlassung zu kämpfen. Dabei hat sie sich intensiver mit ihren ArbeitskollegInnen auseinandergesetzt als sie es jemals zuvor getan hat und dabei sowohl Solidarität als auch Entsolidarisierung erlebt. Am Ende ist sie zwar arbeitslos, aber stolz auf sich, dass sie diesen Weg gewählt und sich gewehrt hat. Das ist das desillusionierende Happy End, das der Film zu bieten hat. Im Realismus zählen die machbaren Heldentaten und Emanzipationsschritte.


Abwesenheft der kollektiven Reaktion

"Deux jours, une nuit" zeigt einen durchaus unbedeutenden Arbeitskampf in einer sehr kleinen Fabrik. Der Unternehmer stellt die ArbeiterInnen vor eine untragbare Wahl: Die Finanzen seien knapp, behauptet der Chef, es müsse entweder jemand - konkret Sandra - entlassen oder die persönliche Prämie gestrichen werden. Für beides, also die Weiterbeschäftigung Sandras und die Prämie, fehle hingegen das Geld. Der Film zeigt schmerzhaft die Fiesheit des unternehmerischen Angriffs, der durch diese Scheinwahl Klassenspaltung zur Grundlage hat. Jean-Pierre Dardenne sagt dazu: "Die Abwesenheit einer kollektiven Reaktion, irgendeines Kampfes gegen das Prinzip hinter dieser Abstimmung, zeigt den sehr zeitgenössischen Mangel an Solidarität." Die ArbeiterInnen sind auf die Debatte untereinander zurückgeworfen, anstatt in Konflikt mit dem Unternehmer zu treten.

Von den 16 KollegInnen Sandras sind drei von Anfang an klar auf ihrer Seite. Aber das Resultat besagt, Sandra solle entlassen werden. Die Gewerkschafterin erreicht immerhin aufgrund von Formfehlern eine Wiederholung der Abstimmung. Sandra bleiben damit zwei Tage und eine Nacht, um mit ihren KollegInnen zu sprechen und sie zu überzeugen. So besteht der Film fast ausschliesslich aus Gesprächen und es wird dadurch eine Palette von prototypischen Arbeitern und Arbeiterinnen, ihren Problemen und Grundhaltungen gezeigt. Jene drei, die Sandra von Anfang an unterstützt haben, kommen im Film nur telefonisch vor. Die anderen geht Sandra besuchen. Es gibt solche, die gegen Sandra gestimmt haben, seither aber nicht mehr schlafen können und erleichtert sind, eine zweite Chance zu bekommen. Andere haben Angst vor den KollegInnen, wenn sie "falsch" abstimmen und nochmals andere sind so sehr von existenziellen Nöten geplagt, dass sie mit unglaublich schlechtem Gewissen bei ihrer Entscheidung für die Prämie bleiben wollen. Es gibt aber auch vierte, die Sandra angreifen, weil sie von ihnen den Verzicht auf die Prämie verlange. Sandra wiederholt stoisch während des ganzen Filmes, vor diese Wahl habe nicht sie die KollegInnen gestellt, das sei einzig und alleine die Entscheidung des Chefs. Sie wolle bloss ihren Job behalten. Die zweite Abstimmung fällt 8 zu 8 aus, was nicht genügt, um die erste Entscheidung umzudrehen.


Solidarität muss gepflegt werden

Wir würden uns die Ausgangslage solidarischer erhoffen, es wäre schön, wenn die ArbeiterInnen geschlossen diese Abstimmung verweigern würden und klar durchgeben könnten, dass sie selbstverständlich sowohl die Prämie als auch Sandra haben wollen. Aber in wie vielen Betrieben würde das realistischerweise passieren? So liegt das Progressive des Films darin, die problematische und individualisierte Ausgangslage der Klasse in der wirtschaftlichen Krise herauszuarbeiten, und dabei nicht moralisierend mit dem Finger auf alle KollegInnen zu zeigen, die sich für sich selber entscheiden. Einige davon stehen tatsächlich mit dem Rücken zur Wand. Und es gelingt verständlich zu machen, dass es dennoch sinnvoll ist, zu kämpfen. Im Arbeitskampf geht es nicht nur um den tatsächlichen Sieg, sondern auch darum, die Würde zu bewahren und die totale Fremdbestimmung zu durchbrechen. Noch sinnvoller wäre es, vorbereitet zu sein und sich gar nie in diese erpresserische Abstimmung zwingen zu lassen.

Am Ende wird der Chef Sandra vorschlagen, sie doch zu behalten und dafür den Arbeitsvertrag eines jungen Arbeiters, der noch keine Festanstellung hat, nicht zu verlängern. Sandra geht mit den Worten: "Das wäre das Gleiche". Sie wird sich nie mehr individualisieren und gegen die KollegInnen ausspielen lassen. Und wir ZuschauerInnen auch nicht, so wohl die didaktische Hoffnung des Films. Luc Dardenne hat an der Pressekonferenz gesagt: "Ich glaube, dass Solidarität auch heute noch möglich ist. Zumindest will der Film das zum Ausdruck bringen." Die Brüder Dardenne gehören zu den berühmtesten und erfolgreichsten Regisseuren Europas. Seit ihr Film "Rosetta" in Cannes die goldene Palme gewonnen hat, sind sie auch mit jedem nachfolgenden Film dort eingeladen worden, ohne dass sie ihn vorher hätten zeigen müssen. Ihr Name genügt, um Zutritt zu gewähren. Das ist dann auch ein Teil der Widersprüche und Irritationen, die ihr Name bei einigen auslöst. Haben sie in der belgischen ArbeiterInnenklasse einfach eine einträgliche Marktlücke gefunden, die sie nun konsequent als Sujet ausbeuten und der Bourgeoise vorführen oder machen sie proletarisches Kino? Denn Cannes ist zwar nicht die Oscar-Verleihung, aber dennoch ganz und gar nicht proletarisch. Da tummelt sich ein Gemisch von Prominenten und bildungsbürgerlichen Studio-Kino-BesucherInnen und es lässt sich wohl nicht bestreiten, dass da die Bourgeoisie aus sicherer Distanz und ethnographisch aufbereitet die ihr unbekannte Klasse gezeigt bekommt. Dennoch ist der Vorwurf scheinheilig. Schliesslich sind Filme eine teure Angelegenheit und der Erfolg eine fast zwingende Vorbedingung, um erstens die Filme tatsächlich in die Kinosääle zu bringen und zweitens ein nächstes Filmprojekt realisieren zu können.


Der proletarische Film: Widersprüchliche Aufgabe

Sehr viel schwerwiegender ist da schon der Vorwurf, dass die Dardennes Filme über das Proletariat machen, aber ihre Filme wenig von proletarischem Publikum geschaut werden. Allerdings ist auch das ein wenig kurz gegriffen und geht zudem von einer sehr negativen Sicht auf das Proletariat aus. Natürlich ist heute eine Mehrheit von schlechtem TV und Action-Kino eingenommen, was aber nicht heisst, dass niemand anspruchsvolle Filme schauen würde. Muss ein Film wirklich schnell geschnitten sein und einen fetten Soundtrack haben, ansonsten ist er unproletarisch? Die Brüder Dardennes beharren auf einer sperrigen Form und verlangen Auseinandersetzung und Anstrengung. Die Form, die sie wählen, mag unzugänglich und intellektuell sein, doch ist sie keineswegs zufällig, sondern wichtiger Teil des Inhaltes. Gegenkultur gehört auch zur Emanzipation und Politisierung, sie ist nicht einfach Konsumgut.

Das Problem liegt viel weniger bei den beiden Regisseuren, als in der Gegenkultur selbst. Diese fehlt weitgehend. Es bräuchte Debatten über Kunst und ihre Funktion. Kunst ist aber momentan ein von der Gesellschaft abgekoppeltes Metier. Gäbe es eine selbstbewusste, an politischer und kultureller Bildung interessierte ArbeiterInnenklasse, welche proletarische Filme einfordert, würden Filme geschaut und diskutiert, auch hart kritisiert werden. Regisseure und Regisseurinnen könnten an diesen Diskussionen wachsen und neue Filmsprachen entwickeln. Es würden harte Linienkämpfe um die "richtige" Form der Kunst geführt werden. Diese Ausgangslage haben die Dardennes und alle anderen, die linkes oder proletarisches Kino machen wollen aber nicht, sie sind ziemlich alleine in dieser Auseinandersetzung um die Form. Die literarische Sozialrealismusdebatte, die Brecht und Lukacs geführt haben, war interessant, weil sie Ausdruck bestehender Bewegungen war und die beiden Intellektuellen das Sprachrohr dieser Bewegungen. Das Problem, das die Dardennes in ihrem Film "Deux jours, une nuit" thematisieren, nämlich die Individualisierung und der notwendige Kampf um das Kollektiv, betrifft auch das Filmbusiness selbst. Es steht schlecht, aber es ist nicht hoffnungslos.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 81, mai / juni 2015, Seite 13
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2015

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