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AUFBAU/466: Hier, in Griechenland, überall - Widerstand gegen Privatisierung


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Hier, in Griechenland, überall: Widerstand gegen Privatisierung


AUSTERITÄT Im Schraubstock des Kapitals: Hinter dem Schlagwort "Austerität" steht eine Politik des Aushungerns und Luftabschnürens. Mit Sozialabbau, Privatisierung, internationalen Regelwerken und Geldpolitik wird der Staat nicht einfach kaputtgespart, sondern zu einer Kampfmaschine gegen die Arbeitenden getrimmt.

(az) "Austerität" wird ungefähr mit "Strenge und Sparsamkeit" übersetzt. Wenn wir davon sprechen, geht es uns nicht darum, mit einem neuen Schlagwort, alles was der Kapitalismus an Widersprüchen mit sich bringt, unter einen Hut bringen zu wollen. Aber "Austeritätspolitik" vereint die Elemente, die momentan die Strategie des Kapitals ausmachen: ein Aushungern und Gefügigmachen der Bevölkerung, verbunden mit einem Luftabschnüren für mögliche Alternativen. Das Ziel ist, möglichst gute Bedingungen für das Kapital herauszuholen. Dieser Angriff geschieht auf verschiedenen Ebenen. Da ist zum einen die Privatisierung des Service Public. Damit einher gehen der Abbau sozialer Leistungen und eine verstärkte Profitlogik. Das gilt auch in Betrieben, die dem Namen nach öffentlich bleiben. Die Fallkostenpauschale in den Spitälern ist ein solches Beispiel, bei dem die Pflege auf berechenbare Einheiten und ein erkrankter Mensch in eine Serie von Zahlen übersetzt werden. Drittens gehören die Debatten über die Staatskassen dazu, mit denen Steuersenkungen für Reiche und Konzerne mit Angriffen auf die AHV verbunden werden. Aber das ist nur die eine Seite, und Austerität lässt sich nicht mit Staatsabbau fassen - ausgehungert werden die Leute, nicht der Staat. Dieser wird unverhüllt auf die Interessen des Kapitals zugerichtet. Beispielsweise mit einer Geldpolitik wie der Frankenstärke in der Schweiz, die die Erfolgsaussichten von Streiks im Keim erstickt. Bei den jetzigen Exportschwierigkeiten sind die ArbeiterInnen von Anfang an am kürzeren Hebel. Weiter gehören zur Austeritätspolitik Regelwerke wie TTIP und Tisa, mit denen Staaten verpflichtet werden, die profitabelsten Möglichkeiten für das internationale Kapital bereitzustellen: zugespitzt gesagt. die Verwandlung der Welt in eine grosse Sonderwirtschaftszone.

Austerität heisst nicht einfach Armut, sondern bezeichnet ein Zusammenwirken von Finanzmärkten, autoritärer Staatsgewalt, rapide wachsender sozialer Unsicherheit und verschärftem Klassenkampf der Bosse. Nirgendwo zeigt sich all das SO deutlich wie in Griechenland. Als ob dessen Bevölkerung in den letzten Jahren nicht schon genug unter der Austerität zu leiden hatten, sind in den letzten Monaten neue Reformpakete hinzugekommen, die für die europäische Austeritätspolitik wegweisend sein könnten. Hier findet gerade ein Ausverkauf auf die nächsten hundert Jahre statt.


Ein Raubzug in Etappen

Zur Erinnerung: Etwas mehr als ein Jahr ist es her, seit die griechische Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras ein weiteres Sparpaket verabschieden lies. Damit sollte die Zustimmung der Troika - die Europäische Zentralbank (EZB), der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Kommission - zu einem dritten Hilfsprogramm erlangt werden. Infolge der einschneidenden Massnahmen des Sparprogrammes und der innerparteilichen Auseinandersetzungen trat Tsipras am 20. August 2015 zurück. Dennoch konnte er einen Monat später mit der nach rechts gerückten Syriza einen erneuten Wahlsieg feiern. Seit dem wird Griechenland erneut von einer Koalitionsregierung der Syriza und der rechten Kleinpartei ANEL regiert.

Wie erwartet, hat Tsipras in seiner neusten Amtsperiode keines seiner zentralen Wahlversprechen umgesetzt. Statt die Kreditbedingungen neu zu verhandeln, haben sich diese im letzten Jahr gar noch verschärft. Besonders das im Mai dieses Jahres in einem Eilverfahren durchgeboxte Sparprogramm trifft die griechische Bevölkerung hart. Die 7.500 Seiten umfassenden Reformen wurden erforderlich, um eine weitere Tranche des 86 Milliarden Euro schweren dritten europäischen Hilfspaketes zu erhalten. Das mittlerweile erhaltene Geld wurde primär dafür gebraucht, anstehende Rückzahlungsverpflichtungen einhalten zu können. Ein Aberwitz in Zahlen: von den 4,9 Milliarden Euro in der neusten Tranche gesprochenen Geldern wurden alleine im Juni und Juli gut 4 Milliarden Euro dafür aufgewendet, um Forderungen des IWF, der EZB und anderer Gläubiger zu decken.

Tsipras' neustes Gesetzespaket enthält zahlreiche indirekte und direkte Steuererhöhungen. Unter anderem wird die Mehrwertsteuer auf Lebens- und Genussmittel erneut angehoben werden. Dem griechischen Staat soll die einprozentige Erhöhung nach wohlwollenden Berechnungen rund 1,8 Milliarden Euro einbringen, der griechischen ArbeiterIn wird dies gleichzeitig rund 810 Euro im Jahr kosten, was einem durchschnittlichen Monatsgehalt entspricht. Ebenso soll das Rentenalter angehoben werden. Auch damit widersetzt sich Tsipras seinen eigenen Versprechen, hatte er doch vor den letztjährigen Wahlen grossmäulig den Ausbau des Sozialstaates versprochen. Dass solche Sparmassnahmen vor allem die ArbeiterInnenklasse treffen und dass die Austeritätspolitik auf das Sozial- und Gesundheitswesen verheerende Auswirkungen hat, ist keine neue Erkenntnis. Neu ist hingegen das Ausmass im Bereich der Privatisierung.


Rein in den Privatisierungsfonds

Schon vor dem Gesetzespaket vom Mai sah es für das griechische Staatseigentum nicht gut aus. Wichtige Immobilien und staatseigene Firmen sollten seit 2011 über den Staatsfond HRADF (Hellenic Republic Asset Development Fund) an internationale Investoren verscherbelt werden. Betroffen davon waren unter anderem Flughäfen, Häfen oder Teile der griechischen Rüstungsindustrie. Als bisher grösste Massnahme wurde im April 2016 der Verkauf von 51 Prozent der Anteile des Hafens von Piräus an die chinesische Reederei Cosco bekannt gegeben. Dafür erhielt Griechenland rund 368,5 Millionen Euro. Noch 2009, als Cosco zum ersten Mal einen Teil des Hafens kaufte, besuchte Tsipras die streikenden HafenarbeiterInnen und verurteilte die Teilprivatisierung als "kolonialistisch". Mittlerweile ist sich Tsipras nicht zu schade von einer "hervorragenden Kooperation" mit dem chinesischen Unternehmen zu sprechen.

Im Juli wurde zudem bekannt, dass die staatliche Eisenbahngesellschaft Italiens für gut 45 Millionen Euro die griechische Bahngesellschaft Trainose aufkaufen werde. Für diesen läppischen Preis gibt es heute nicht mal mehr einen überzeugenden Fussballspieler. Auch hier sei daran erinnert, dass Syriza genau weiss, was sie tut. Noch 2013 verurteilte sie den Versuch der konservativen Regierung das Bahnunternehmen für 300 Millionen Euro zu verscherbeln als "einen totalen Ausverkauf", mittlerweile, mit Regierungsmacht ausgestattet, wird ein solcher Ausverkauf als Erfolg des kleineren Übels verkauft.

Als ob das nicht schon genug wäre, sollen neu fast sämtliche Besitztümer des Staates, darunter gut 71.500 Immobilien und 597 Inseln, in einen Fonds der Hellenic Holdings and Property Company (EESP) übertragen werden. Darunter fällt auch ein grosser Teil der bisher im HRADF gehaltenen Besitztümer. Neu erhält der entsprechende Fonds, an dessen fünfköpfiger Spitze auch zwei VertreterInnen der Troika sitzen, ab 2018 für 99 Jahre das Recht, das staatliche Eigentum verkaufen zu dürfen. Auf kritische Worte an dieser ausserordentlich langen Laufzeit liess die griechische Regierung lapidar verlauten, dass dies eine "international übliche Praxis" darstelle.

Die abschliessende Liste, welcher Staatsbesitz Bestandteil des neuen Fonds sein wird, ist noch nicht öffentlich. Aber Einsprüche aus der eigenen Fraktion haben schon bekannt gemacht, dass Bereiche der Gas-, Wasser- und Stromversorgung wie auch Teile des öffentlichen Personennahverkehrs vom neuen Fonds ausgenommen sein sollen. Doch das neue Gesetz hält auch hierfür eine Lösung bereit. So können Firmen und anderes Eigentum neu per Ministerentscheid und nicht mehr über den Entschluss des Parlaments in den Privatisierungsfonds übertragen werden. Das bedeutet, dass wenn es beispielsweise einem Minister zukünftig danach ist, den Strommarkt zu privatisieren, dann kann er dies neu per Amtshandlung durchführen lassen. Wenn man bedenkt, mit welchem Tempo die griechische Regierung bisher ihre Sparpolitik durchgedrückt hat, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die von den Privatisierungsmassnahmen verschonten Staatseigentümer im neuen Privatisierungsfonds aufgenommen werden.


Automatismus erspart Umerziehung

Dem jüngsten Gesetzespaket wurde zudem ein automatischer fiskaler Stabilisator eingebaut. Das ist, auf Deutsch, ein Schraubstock: wenn zukünftig festgestellt werden wird, dass die Sparziele verfehlt wurden, dann werden nun automatisch alle Staatsausgaben - mit Ausnahme der Landesverteidigung und des Arbeitslosengeldes - gekürzt. Betroffen sind insbesondere staatliche Löhne und die Renten. Was die Bevölkerung hart treffen wird, erspart Tsipras und allen anderen zukünftigen Regierungen zusätzlichen Ärger. Denn wenn etwa Rentenkürzungen zukünftig automatisch in Kraft treten, dann kann das Parlament unliebsamen Abstimmungen entgehen und alle Schuld bezüglich Kürzungen von sich weisen. Diese neue Situation ist nicht zuletzt deswegen so zynisch, weil die Syriza-Regierung ihre Politik beständig damit verteidigt, dass es keine Alternative zu den aktuellen Sparmassnahmen gebe. Bedenkt man den neuen Automatismus - ein Gesetz, das als Gegenvorschlag zum Massnahmenkatalog der Eurogruppe von der Tsipras-Regierung selbst erarbeitet wurde - dann ist es aber gerade die Syriza, die an neuen Systemzwängen arbeitet.


Entmachtung und Perspektive

Die automatische Kostensenkung und der neue Privatisierungsfonds bedeuten eine schleichende Entmachtung des griechischen Parlaments. Dies ist nicht deshalb so gefährlich, weil Parlamente generell bessere Entscheidungen treffen würden, sondern weil dies einen Versuch darstellt, eine dem europäischen Finanzzentrum genehme Austeritätspolitik an der Peripherie der EU langfristig festzuzurren. Ob die Entmachtung nationale Entscheidungsfelder anhand finanzpolitischer Automatismen zu einem strategischen Ziel der Troika geworden ist oder ob sich die Syriza-Regierung vielmehr in vorauseilendem Gehorsam ins eigene Fleisch geschnitten hat, muss sich erst noch zeigen. Sicher ist hingegen, dass die Troika in der Syriza für jegliche Austeritätspolitik einen hervorragenden Partner gefunden hat.

Syrizas bisherige Politik hat auch Einfluss auf den Widerstand von unten. Zwar gab es im vergangenen Frühjahr erneut Demonstrationen und Streiks, die Beteiligung war jedoch geringer als in den vorherigen Jahren. Dies mag mit einer Protest- und Politikmüdigkeit nach bald fünf Jahren Austerität zusammenhängen, aber auch mit der Vorherrschaft von Syriza unter den Linken. So absurd es klingen mag, erreicht Syriza mit ihrer Politik des kleineren Übels durchaus einen Teil derjenigen Leute, die in den vorherigen Jahren noch auf die Strasse gingen.

Anders sieht es hingegen im gewerkschaftlichen Widerstand aus, wo Syriza traditionell wenig Einfluss hat. Dass der Personennahverkehr bisher von den Privatisierungsmassnahmen ausgenommen wurde, hängt auch mit der Streikbereitschaft der Belegschaft zusammen. Ebenso legten die Hafenarbeiter von Piräus und Thessaloniki aufgrund der Sparmassnahmen und wegen dem Verkauf an die chinesische Reederei für mehrere Wochen ihre Arbeit nieder. Inwiefern hier jedoch Erfolge errungen werden können, wird sich erst noch zeigen müssen.


Ein Labor für TTIP, Tisa & Co.

Was in Griechenland geschieht wirkt sich auf die Situation hier aus; es lohnt sich deshalb, Lehren daraus zu ziehen. So massiv die Konfrontationen in Griechenland sind, haben sie doch auch geschichtliche Vorläufer, aus denen wir lernen können. Die Aufstände in Lateinamerika gegen die Strukturanpassungsprogramme des IWF in den 80er Jahren richteten sich gegen viele ähnliche Eingriffe. Damals liefen diese Kämpfe an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems. Mit der Krise ab 2008 sind sie ins Zentrum, nach Europa, gewandert. Gegenwärtig weiten sich die entsprechenden Angriffe vom südosteuropäischen Rand in den reichen Norden aus. So ist Griechenland ein Labor für die Unterwerfung unter Regelwerke des Kapitals wie Tisa oder TTIP. Privatisierung und Sozialabbau finden auch hier statt - die "Experimente" werden auch umgesetzt. Häufig werden Krisenmassnahmen mithilfe des Schocks der Krise eingeführt und dann auf Dauer gefestigt, wie beispielsweise mit den Gesetzen zur Flexibilisierung der Arbeit in Frankreich oder mit der Kurzarbeit bei uns. Deshalb hat der gegenwärtige Raubzug in der griechischen Krise ganz direkte Lehren für uns hier.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 1+7
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2016

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