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AUFBAU/506: Streik erfolgreich, Privatisierung kommt trotzdem


aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Streik erfolgreich, Privatisierung kommt trotzdem


STREIK In Locarno haben die vierunddreissig Angestellten der Schifffahrt zwanzig Tage lang gestreikt, geschlossen und entschlossen. Wir haben mit einem Mitglied des Partito Operaio e Popolare (Abspaltung der PdA) darüber reflektiert, weshalb die Gewerkschaft den Abbruch durchgesetzt hat.

(az) Nach 20 Tagen Streik, an einer äusserst wilden und lauten Versammlung, flehte die Unia-Führung die Streikenden der Schifffahrt des Lago Maggiore an, das Verhandlungsresultat anzunehmen. Ein Verhandlungsresultat, das zwar Garantien gibt, aber keineswegs erfüllt, was die Streikenden erkämpfen wollten: Die Arbeiter wollten deshalb nicht unterschreiben oder waren stark hin- und hergerissen. Doch nachdem die Gewerkschaftsfunktionäre der Unia, der christlichen OCST und der Gewerkschaft des Verkehrpersonals SEV geschlossen die ganze Versammlung hindurch Angst gesät hatten, fiel das Resultat der etwas zweifelhaften Abstimmung vom 15. Juli 2017 in ihrem Sinne aus.

Was bedeutet das? Die Streikenden gehen zurück an die Arbeit und mischen bei der Diskussion über die Zukunft der Schifffahrt von Locarno nicht mehr mit. Sie haben damit abgesegnet, dass die private Schifffahrtsgesellschaft SNL, die bereits die Linien auf dem Lago di Lugano betreibt, das Schweizer Becken des Lago Maggiore - und damit ihre Arbeitskraft - ab 2018 übernehmen wird. Das italienische Becken bleibt Aufgabe der öffentlichen, italienischen Gesellschaft. Bisher hatte letztere die Schifffahrt auf dem ganzen Lago Maggiore betrieben, wie das zwischen dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK und seinem Pendant in Rom vereinbart worden war. Dabei genossen Angestellte der Linien auf der Schweizer Seite die sehr viel besseren Arbeitsbedingungen als ihre KollegInnen auf der anderen Seite der Grenze. Sie unterstanden (und unterstehen 2018 weiter) dem Gesamtarbeitsvertrag der FART, der öffentlichen Verkehrsbetriebe von Locarno. Es ist nämlich gesetzlich bestimmt, dass die Angestellten des öffentlichen Verkehrs, wozu diese Linien gezählt werden, einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen müssen. Das spezielle an der Situation ist jedoch, dass der Kanton Tessin sich herausnimmt, die Schifffahrt als "öffentlich" zu definieren, sich dadurch aber nicht genötigt sieht, sie mitzufinanzieren. Entsprechend sind die Kosten sehr hoch und die Einnahmen gering. Der italienische Staatsbetrieb hatte während Jahren ein beachtliches Defizit zu verzeichnen, dennoch kamen die Kündigungen, die die 34 Angestellten des Schweizer Beckens im Juni erreichten, nicht auf Betreiben der italienischen Schifffahrtsgesellschaft hin. Diese hatte sich stoisch und äusserst korrekt an die politischen Vereinbarungen gehalten, ohne diese in Frage zu stellen. Ausschlaggebend war hingegen die neue Vereinbarung des UVEK dem italienischen Verkehrsministerium, die die Privatisierung vorsieht und damit die politische Entscheidung beinhaltet, die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore in die Hände der privaten SNL zu spielen.

Private arbeiten für den Profit

Nun sind die oben genannten Fragen für Aussenstehende vielleicht nur mässig interessant, aber dennoch sind sie sehr wichtig, weil unmittelbar klar wird, dass die Rechnung nicht aufgeht und kein privates Unternehmen diese Bedingungen hinnehmen wird. Das weiss auch der Kanton, deshalb hat er sich für das kommende Jahr verpflichtet, 1,15 Millionen Franken einzuschiessen, um die Löhne zu garantieren - die Stadt Locarno beteiligt sich symbolisch mit 50.000 Franken daran. Was darauf folgen wird, ist offiziell noch unklar. Jede Person, die den Kapitalismus kennt, weiss jedoch, dass Entlassungen, Lohnsenkungen und die Schliessung der unrentabelsten Linien folgen müssen. Für die nächsten Jahre ist der Kampf also gewiss. Entweder gelingt es der privaten Gesellschaft, die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern und die Schifffahrt rentabel zu machen. Oder das gelingt ihr nicht. Falls nicht, ist dennoch auszuschliessen, dass sie mit einem Defizit leben wird, also wird sie Jahr für Jahr Subventionen vom Kanton erbetteln und ziemlich sicher erhalten. Sowieso wird der Kanton bezahlen müssen, wenn er diese Linien zu tragbaren Arbeitsbedingungen aufrecht erhalten will, es lässt sich also nicht erklären, weshalb er sie nicht übernommen hat. Ausser wir gehen davon aus, dass der Angriff auf die Arbeitsbedingungen von Anfang an das Hauptanliegen dieses neuen Vertrags des UVEK war.

Privatisierung verhindern

All das wissen die Gewerkschaften natürlich auch, dennoch haben sie nie gegen die Privatisierung der Schifffahrt gekämpft, sondern immer nur für den Erhalt der Arbeitsplätze und der gegebenen Arbeitsbedingungen. Dabei sind diese zwei Fragen nicht von einander zu trennen. Die drei beteiligten Gewerkschaften vermeiden die Frage der Privatisierung konsequent, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV wäre durch ihren Präsidenten Giorgio Tuti, der im UVEK ein- und ausgeht, ideal vernetzt und hätte schon längst über die laufenden Verhandlungen informieren können. Doch scheint sie sich wenig für die Schifffahrt zu interessieren und teilt möglicherweise die liberalisierungsfreundliche Haltung des UVEK in dieser Frage. Die christliche Gewerkschaft, die im Tessin OCST heisst, hat als einzige eingebracht, dass die Schifffahrt von den öffentlichen Verkehrsbetrieben Locarno übernommen werden müsste und dass das auch möglich wäre. Doch glänzte sie in der Folge oft durch Abwesenheit und unternahm keine konkreten Schritte in diese Richtung, in anderen Worten: Die OCST hätte das Richtige gewollt, den Aufwand vermied sie aber geflissentlich.

Die eindeutig stärkste Gewerkschaft, die Unia, ist schwerer einzuschätzen. Sie ist im Tessin sehr trotzkistisch geprägt. Der befragte Genosse, der als Unia-Funktionär arbeitet, erklärt, das mache die Unia-Tessin überdurchschnittlich kampforientiert, was sehr angenehm sei. Die Tessiner Gewerkschaftsfunktionäre und -funktionärinnen müssten nicht wie jene in der Deutschschweiz ihre Zeit mit der Jagd auf Mitglieder verbringen, sondern hätten die Aufgabe, eine kämpferische Praxis aufzubauen. Das sei zwar besser, es fehle aber wie in der restlichen Schweiz an politischer Weitsicht, weil die Unia so sehr im ökonomischen Kampf verankert sei. Denn der Kampf gegen die Privatisierung müsste auch auf politischem Terrain geführt werden. Nach Aussage des Unia Regionalsekretärs stellt dies eine Frage dar, die in eine Partei gehöre und nicht in die Gewerkschaft. So hat die Unia-Tessin diesen Kampf zwanzig Tage lang unterstützt, ohne sich in der Frage der Betriebsstruktur einzumischen. Dabei hat sie den in der Unia organisierten Streikenden 170.- CHF pro Tag ausbezahlt. Es sei durchaus vorstellbar, dass aus der Gewerkschaftszentrale Druck aufgebaut worden ist, die Verhandlungen voranzutreiben und dieses teure Intermezzo zu beenden. Aber unabhängig davon, war die Strategie wohl von Anfang an, vorerst die Arbeitsplätze zu sichern und in einer nächsten Runde den Kampf auf der Ebene des Kampfes um den Gesamtarbeitsvertrag fortzuführen.

Unentspannte Zukunft

Für die Angestellten der Schifffahrt ist das eine schwierige Aufgabe. Jetzt waren sie geschlossen, alle waren entlassen werden und alle haben gekämpft, auch das Kader. An jeder Versammlung wurde mindestens einmal gefordert, die Schifffahrt müsse vom Kanton übernommen werden, der Direktor hat sogar öffentlich gesagt, er würde sich auch noch nach seiner Pensionierung - er wird in einem halben Jahr in Pension gehen - bedingungslos dafür einsetzen. Es ist klassisch, dass dermassen entschlossene Kämpfe entstehen, wenn die ganze Belegschaft betroffen ist. Kämpfe um den GAV sind hingegen erfahrungsgemäss verhaltener und zäher, auch Verteidigungskämpfe sind schwieriger, wenn sich die Belegschaft gegen ein Vorgehen in Salamitaktik wehren muss. Insofern ist es vom Kampf aus betrachtet gänzlich unverständlich, dass die Frage nicht jetzt angegangen wurde.

Hinzu kommt, dass die Privatisierung in diesem Fall ziemlich einfach zu skandalisieren gewesen wäre, denn sie trägt mafiöse Züge. Oscar Calaprice, der bis zu seiner Pensionierung 2014 Direktor der Società Navigazione Laghi dello Stato Italiano gewesen ist, sitzt seit 2007 im Verwaltungsrat der luganesischen SNL. Er hat als oberster Chef des italienischen Staatsbetriebs wohl dazu beigetragen, dass dieser Deal zu Stande kam und sicher in dem Sinne, dass er davon profitieren wird.

So haben die 34 Angestellten der Schifffahrt einiges erreicht: Sie haben geschlossen gekämpft und werden vorerst nicht entlassen, ihre Arbeitsbedingungen sind für ein Jahr gesichert. Doch sie gehen auf eine Zukunft des Abnützungskampfes zu, das ist gewiss. Zurücklehnen gibt es nicht! Das ist der Grund, weshalb sie an der Abstimmung nur halbherzig zugestimmt haben. Der Grund auch, weshalb sie in Zukunft ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen sollten und die Entscheidungen nicht der Gewerkschaftsführung überlassen sollten. Die Officine von Bellinzona haben das vorgemacht.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Eine der Parolen der Matrosen war: "Ci volete disoccupati, ci avrete pirati": Ihr wollt uns arbeitslos, ihr bekommt uns als Piraten.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2017

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