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AUFBAU/602: Vom Kleinen zum Grossen


aufbau Nr. 100, März/April 2020
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

AUFBAUPROZESS
Vom Kleinen zum Grossen


Der Kapitalismus präsentiert sich heute als alternativlos. Doch wo es Bewegung auf den Strassen gibt, ist der Aufbau von Gegenmacht nicht weit und die Organisierung im Kleinen eröffnet die Möglichkeit zur Veränderung des grossen Ganzen.


(agkkzh) Nach der umfassenden Krise der revolutionären Linken in den Metropolen, des kontinuierlichen Verlustes des revolutionären Charakters der Befreiungskämpfe im Trikont in den 80er Jahren und auch nach dem Ende der Sowjetunion 1989 ging es zuallererst darum, an der kommunistischen Alternative zum Kapitalismus festzuhalten. Trotz umfassenden Veränderungen blieben fundamentale politische Koordinaten für uns bestehen. Die aktuelle aggressive imperialistische Neuaufteilung der Welt und die reaktionären Lösungsversuche gesellschaftlicher Widersprüche durch die Herrschenden in den letzten Jahren, hat diese Auffassung bestätigt.

Auch wenn uns nach der Restauration des Kapitalismus, die in diesem Ausmass nie erwartet wurde, das theoretische Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung noch fehlt, scheint eines klar zu sein: Der Übergang vom Imperialismus zum Sozialismus wird, nach dem Stand unserer historischen und aktuellen Erkenntnis, vermutlich eine Frage von mehreren Anläufen sein.

Wir haben die Grundursachen von Verflachung, Dogmatisierung, reformistischer Integrationsbereitschaft und kapitalistischer Restauration nicht nur ausserhalb, in der schwierigen objektiven Situation, sondern auch innerhalb der revolutionären Bewegung, bei den KommunistInnen selbst gesucht. Innerhalb der revolutionären Positionen gibt es keine einseitigen Rechts-Links-Bilder, sondern Bewegungssituationen, in denen sich objektiv vorhandene Widersprüche jeweils in diese oder jene Richtung, zur Revolution oder zu reformistischen Lösungen entwickeln können. Politische Entscheidungen sind immer in diese oder jene Richtung möglich. Der Geschichtsprozess ist in seinem Ablauf eben nicht linear determiniert, vorbestimmt und ununterbrochen seinem Ziel zustrebend.

Was von den historisch gewachsenen Erfahrungen in veränderter Form jeweils weiterleben soll, kann nur konkret durch die eigene revolutionäre Praxis und der daraus erwachsenden Neubestimmung des revolutionären Prozesses festgelegt werden. Die Basis dieser Neubestimmung ist die Erkenntnis aus der Geschichte der revolutionären Bewegung, wonach das revolutionäre Subjekt, und damit unsere einzelnen Handlungen, keine automatische, quasi ursprüngliche, immer gegebene Kraft ist, sondern vielmehr eine im Geschichtsprozess immer wieder von neuem zu konstituierende Kraft darstellt.

Unbestritten ist jedoch der Bruch mit der Vorstellung von reinem Widerstand. Es geht um die Machteroberung der arbeitenden Klasse - ArbeiterInnen, Angestellte, Arbeitslose, Studierende, SchülerInnen, ReproduktionsarbeiterInnen.


Befreiten Gebiete - rote Zonen - Unterstützungsbasen - Revolutionäre Gegenmacht

Wir kennen sie, die Befreiten Gebiete, rote Zonen und Unterstützungsbasen, alles Gebiete, in denen konkrete Formen von revolutionärer Gegenmacht aufgebaut wird, allerdings unter völlig anderen geographischen und politischen Bedingungen als sie hier vorzufinden sind. Sie dienen als Basis für den weiteren Verlauf des Kampfes und als Modell einer kommunistischen Gesellschaft. Ist es daher nicht vermessen sich hier und heute an diesem Revolutionskonzept zu orientieren? Die Keimzellen von revolutionärer Gegenmacht sind nicht an territoriale Kontrolle gebunden. Wer eine revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ziel hat, kommt um die zentrale Frage, wie revolutionäre Gegenmacht erkämpft werden kann, nicht herum. Natürlich auch in der gegebenen gesellschaftlichen Situation, hier und heute, auch wenn dies nur im ganz Kleinen stattfinden kann. Vom Kleinen zum Grossen.

Revolutionäre Propaganda in den verschiedensten Formen, die die Missstände des Kapitalismus aufzeigt, reicht nicht aus, um den revolutionären Prozess konkret zu gestalten. Freilich bleibt dies unerreicht, wenn die Frage der revolutionären Macht mit dem Verweis auf die dunklen Seiten der Geschichte tahuisiert und ignoriert wird. Die Auseinandersetzung darüber, wie historisch-emanzipative, positive Gegenmacht entwickelt werden kann, ist die beste Methode, Machtmissbrauch zu vermeiden.

Revolutionäre Propaganda, revolutionäre Intervention, kann aber die Keimzelle von revolutionärer Gegenmacht sein, wenn sie als Teil eines umfassenden Ganzen verstanden wird. Im Kern von revolutionärer Gegenmacht liegt die Erkenntnis, dass die tagtäglichen Interventionen und Klassenkämpfe sich zu einer politischen Substanz anhäufen müssen, sollen sie denn langfristige Wirkungsmacht entfalten. Nach diesem Verständnis vom subversiv-revolutionären Prozess gilt es einen politischen Raum - der letztlich auch zu einem territorialen Raum führen soll aufzubauen, der dem Zugriff der anderen Seite entzogen ist. Das kann bedeuten, dass die vielfältigen Formen der Propaganda kollektives und selbstbestimmtes Handeln ermöglichen, sich eine eigene Asthetik ausbildet; das kann bedeuten, dass die Organisierung weitere operative Möglichkeiten eröffnet und materielle Möglichkeiten vergrössert; das kann bedeuten, dass die Militanz auf der Strasse das Gewaltmonopol des Staates bricht; das kann bedeuten, dass Schulung unsere theoretischen Kompetenzen erhöht; das kann bedeuten, dass im Kollektiv emanzipative Werte die alten bürgerlichen ersetzen, usw. In ihrem Zusammenhang und als Eckpunkte von strategischen Überlegungen sind das Ansätze von einem revolutionären Machtfaktor.

Die Entwicklung dieser Vorstellungen lässt sich nicht auf einen intellektuellen Prozess im Kopf reduzieren. Die Realität sieht anders aus. Revolutionäre Politik bricht dann auseinander, wenn die Formen tote Abstraktionen sind, in ihnen keine Handlungen sichtbar sind. Die Form hat eben die Aufgabe, ein reales, physisches Verhältnis zu den Inhalten auszubilden und zu entwickeln. Das Wesen des revolutionären Prozesses soll konkret fassbar gemacht werden: seinen revolutionären, emanzipativen Charakter, den Bruch mit dem kapitalistischen System, also die Infragestellung des bürgerlichen Macht- und Gewaltmonopols. Welche Formen Gegenmacht annehmen kann, entwickelt sich also in einem lebendigen, vielfältigen Austausch mit den realen Bedingungen in denen wir kämpfen, der kognitiv und emotional stattfindet.


Wo liegen die Wurzeln der revolutionären Gegenmacht?

Mit dem politisch-organisatorischen Vorschlag des Revolutionären Aufbaus haben wir ein altes Konzept der kommunistischen Bewegung in aktueller Form wieder aufgenommen. Der Aufbau der eigenen Seite stand schon immer im Zentrum des revolutionaren Prozesses. Je nach historischer objektiver und subjektiver Lage waren seine Schwerpunkte und damit der Verlauf des Aufbaus proletarischer Organisierung verschiedene. Die Grundidee und ihre Prinzipien aber haben sich nicht verändert. Sich zu organisieren ist ein Grundpfeiler von revolutionärer Gegenmacht.

"Vor allem unterscheidet sich der Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, daß er die Bewegung durch keine bestimmte Kampfesform bindet. Er anerkennt die verschiedensten Formen des Kampfes, wobei er sie nicht 'erdenkt', sondern nur verallgemeinert, organisiert und jenen Formen des Kampfes der revolutionären Klassen, die im Gange der Bewegung von selbst entstehen, eine bewußte Form verleiht." Das Zitat von Lenin verdeutlicht, wo die Wurzeln revolutionärer Gegenmacht gefunden werden, im Klassenkampf auf der Strasse, und wie sie von den RevolutionärInnen weiter entwickelt werden.

Die Besetzung von öffentlichem Territorium, Demos und Kundgebungen, revolutionäre Präsenz auf der Strasse mittels Plakatierung und Beschriftung der Mauern usw. soll der Stadt ein revolutionäres Gepräge aufdrücken - als Kontrast zur bürgerlichen Normalität. Eine demonstrative Wirkung auf 'Freund' und 'Feind': die Herrschaft des Kapitalismus wird hier in Frage gestellt und für eine revolutionäre Alternative gekämpft. Wie wir wissen kommt diese Botschaft an. Von diesen Initiativen geht eine Wirkung aus, die über alle verbalen Äusserungen gegen den Kapitalismus hinaus reichen. An seine Stelle tritt zwar noch keine eigene Machtposition, doch vermitteln diese Kampfformen Bewusstsein über die eigene Kraft.

Die unmittelbare physische und symbolische Ausdrucksweise der Massen durch kollektive Handlungen gehört zu den wichtigsten Wurzeln der Infragestellung des herrschenden Machtmonopols. In einer Epoche, in der fast alle revolutionären Traditionen zerrissen sind und eine politisch fundamentale Veränderung kaum vorstellbar ist, ist der Kampf um und auf der Strasse mit seiner Unmittelbarkeit ausserordentlich wichtig. Auf der Strasse lernen die Massen, sich dem Kampf mit Staat und Kapital zu stellen. Nicht nur die Ausnutzung der legalen Möglichkeiten, sondern auch die Entfaltung der Kämpfe, die den Rahmen der bürgerlichen Legalität sprengen.

Der Kampf auf der Strasse ist Ausdrucksform von revolutionärer Massenkommunikation ohne Vermittlung durch technische Hilfsmittel - die zudem meistens in den Händen der Herrschenden liegen - und daher durch seine Unmittelbarkeit für revolutionäre Politik besonders wertvoll. Denn indem die Einzelnen, im Kollektiv aktiv handelnd, in den politischen Prozess eingreifen, zerschlagen sie die herrschende politisch-soziale Kohäsion, nämlich die Verhältnisse passiv beobachtend hinzunehmen. Sie lösen sich aus ihrer Isolation und überwinden ihre Machtlosigkeit/Handlungsunfähigkeit. Die Praxis des Revolutionären Aufbaus fusst und zielt zugleich auf diese politischen Möglichkeiten.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 100, März/April 2020, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz:
aufbau, Postfach 8224, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2020

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