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CORREOS/088: Nicaragua - Laßt uns aufhören zu weinen!


Correos des las Américas - Nr. 160, 21. Dezember 2009

NICARAGUA
Lasst uns aufhören zu weinen!

Einer, der nach Nicaragua zurückgekehrt ist, verheimlicht
seinen Enthusiasmus über das, was er antrifft, nicht.

Von Jorge Capelán


Liebe Genossen von nah und fern. Vielen von euch versprach ich zu schreiben, sobald ich in Managua angekommen sei. Ein etwas sehr optimistisches Versprechen. Doch was hiess ankommen? Am ersten Tag drückten sie mir eine Kamera in die Hand und ab, hiess es, das Wunder der Wasserreproduktion zu filmen. Falls ihr es noch nicht wisst, die sandinistische Regierung sät im Volk diese Flüssigkeit des Lebens. Bis Ende Jahr sollen im Land 70 Wasserbrunnen stehen. 70 tiefe Brunnen in weniger als drei Jahren, mehr als 20 im Jahr, eine beeindruckende Zahl, vergleicht man sie mit den 40 plus Brunnen der Regierungen von Alemán und Bolaños von 1996-2006.

Im staatlichen Wasserwerk ENACAL wird werktags mindestens acht Stunden gearbeitet und samstags den halben Tag. Oft länger, denn Wasser ist das Leben von Nicaragua. Deshalb ernannte der Frente Ruth Herrera zur ENACAL-Chefin, die vorher auf der Strasse dafür kämpfte, dass die Liberalen das Wasser nicht privatisierten. Dafür also, dass ich nicht allen von euch individuell antworten konnte, trägt sie eine grosse Verantwortung. Mitschuldig isT auch mein guter Freund William Grigsby vom Radio La Primerísima, der mir einen langen Artikel über die Klimaerwärmung in Auftrag gab. Denn Rest der Zeit habe ich versucht, anzukommen, um nicht irgendwelche Dummheiten von mir zu geben, wie das in den Desinformationsmedien üblich ist, wenn sie auf das Land des Generals der freien Menschen zu sprechen kommen.

Kommt man in Nicaragua von heute an, ist der erste Eindruck, wenn man das Land in der Neuen (?) Ära von Don Enrique Bolaños erleiden musste, etwas eigenartig. Auf den ersten Blick ist es das gleiche arme und chaotische Land, das aus dem schrecklichen Krieg der 80er Jahre und dem barbarischen Stahlbad des darauf folgenden Neoliberalismus resultierte. Managua ist gleich wie immer, mit seinem verrückten Verkehr, seinem alles bedeckendem Staub, seinem Lärm, seinem Mangel an einem Zentrum ... nein, Managua ist nicht gleich. Ist gleich und ist nicht gleich. Eine Reihe von zu Beginn unmerklichen Details lassen uns begreifen, dass die Kugel in Nicaragua langsam, aber sicher wieder rollt.


Einige Pinselstriche

Das Flugzeug setzt zur nächtlichen Landung in der Hauptstadt an. Vor fünf Jahren war die dunkle Nacht von gelblichen Lichtern erhellt, wie von einem Höllenschimmern. Heute machen sich in den Volksquartieren blauen Funken breit, die gesegneten Sparbirnen von ALBA [Bolivarische Alternative der Völker, alternativer Staatenbund in Lateinamerika].Stark subventioniert,sind sie mit 25 Córdobas (etwas mehr als 1 US-Dollar) für eine Bevölkerung erschwinglich, die so die unerbitterliche Stromrechnung beträchtlich lindert.

Das Taxi durchquert Managua von Ost nach West. Wie stets, hält es an zahlreichen Verkehrsampeln an. Wo sind die Kinder, die sich vor drei, vier, fünf Jahren auf jeden Wagen stürzten, um die Windschutzscheibe zu waschen, gekühltes Wasser oder sonst was zu verkaufen oder einfach zu betteln: 'Ein Peso, Señor?'. Die Mehrheit von ihnen - klar, nicht alle - muss ALBA verschluckt haben. Man muss ihnen Gesundheitsversorgung und eine entprivatisierte Schule gebracht haben, man muss sie ins Programm Hambre Cero (Null Hunger) oder eines der Projekte gebracht haben, die ihren Müttern eine Möglichkeit geben, den Lebensunterhalt zu verdienen. Vielleicht hat sie der auf 2.5 Córdobas eingefrorene städtische Bustarif mitgenommen. Wer weiss, was sie mitgenommen hat, aber Fakt ist, es bleiben sehr viel weniger auf der Strasse. Jedenfalls hat keines dieser Kinder bei der Verlosung der green cards gewonnen, welche die rechten Medien propagieren.

Diese Minderheitsregierung hat eine der schärfsten Wirtschaftskrisen des modernen Nicaraguas durchschritten. Mit den Twin Towers der Lehman Brothers fielen auch die Heimüberweisungen der Ausgewanderten und die Exporte in die USA. Und zu allem Übel beschloss ein Teil der Geberländer, ihr Sandkorn an die nicaraguanische Demokratie beizutragen und die internationale Hilfe zu streichen. Glücklicherweise konsumiert Venezuela gerne Fleisch und Bohnen aus Nicaragua, trotzdem sind die Verluste für das Land empfindlich. Aber nicht ein einziger Staatsangestellter wurde auf die Strasse gestellt,nicht eine Strasse weniger gebaut, nicht ein Sozialprogramm gekürzt. Offiziell beträgt dieArbeitslosigkeit rund 5.5 Prozent und das ILO prognostizierte letzten Mai, dass das Land in der Region den kleinsten Arbeitlosigkeitzuwachs aufgrund der Krise haben werde: 1 Prozent im Vergleich zu 4.5 Prozent für den Rest.

Statt Entlassungen und ähnlichen Massnahmen gab es ein ALBA-Darlehen, um die Strompreise einzufrieren.Weitere Subventionen: Die realen Gestehungskosten für einen Kubikmeter Wasser sind 15 Córdobas. Die Leute zahlen je nach Kaufkraft zwischen etwas mehr als 2 und 7 Córdobas. Hunderttausende der Million Nicas, die kein Wasser hatten, haben heute welches. Und viele wollen nicht zahlen.Was man am allerwenigsten will, ist, den Ärmsten diese Dienstleistung zu entziehen und so setzt man auf Aufklärung, denn die Mittel werden gebraucht, um jenen Wasser und Leitungen zuzuführen, die sie bisher noch nicht haben. Die Gewerkschaften verlangen eine Erhöhung, «ein Mal mehr», des Mindestlohnes. Jetzt von 30 Prozent. Die Regierung lacht sie nicht aus.

So wichtig die bolivarische Hilfe, die kubanischen Ärzte, die Investitionen aus Russland, dem Iran und anderen Ländern auch sind - sie reichen nicht. Ein beträchtlicher Teil dieser Hilfe geht an mittel- und langfristige Projekte, welche die Voraussetzungen für die nationale Unabhängigkeit schaffen. Aber das Land braucht heute Geld, um die Angestellten zu entlöhnen und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Geht es darum den Neoliberalismus hinter sich zu lassen, bringt es schon viel, nicht zu stehlen. Die Sandinistas, deren SpitzenfunktionärInnen sich ihre Löhne gesenkt und die MinisterInnen nur schon bei Verdacht auf Korruption entlassen haben, haben mit dieser einfachen Methode die verfügbaren Mittel erhöht. Aber das reicht natürlich nicht. Nicaragua kann sich für den Moment nicht den Luxus leisten, aus dem IWF auszusteigen.


Anpacken

Letzte Woche kam die Nachricht: Der IWF hiess den Wirtschaftsplan der Regierung gut wird mehrere dringend benötigte Dutzend Millionen Dollars an das Land ausschütten. Was die Rechte vorausgesagt hatte, dass nämlich der Zahlmeister des globalen Kapitalismus den Sandinistas das Darlehen verweigern würde, trat nicht ein. Und dies, obwohl im Regierungsplan nicht eine einzige Schule geschlossen, nicht ein Staatsangestellter entlassen und nicht ein Gemeingut privatisiert wird. Ganz im Gegenteil beinhaltet der Plan eine Steuerreform, der die reichsten fünf Prozent des Landes zu ihrem Einkommen angemessenen Steuern verpflichtet, während der Rest keine Erhöhung hat.

Wie ist es möglich, dass der IWF eine solche Wirtschaftspolitik finanziert? Denen, die sagen, dass man nichts machen kann, dass man sich am besten an die Spielregeln hält; denen, die das Reissbrett wegwerfen und sich in irgendeinen tiefen Dschungel begeben, um sich von dort aus in tiefgründigen Klagen über die Schlechtheit des Rests der Linken zu ergehen; denen, die sich hinlegen und davon träumen, in Havanna aufzuwachen; denen, die sagen, die grossen Medien seien an allem schuld, all denen scheinen die Sandinistas zu sagen: «Hör auf zu weinen und pack an, Genosse!»

Weiss man, was man will, woher man kommt, kennt man die Prioritäten und die Schwächen des Gegners, geht man von der konkreten Realität aus, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, dann geht es darum, Hand anzulegen, um die Revolution von oben, von unten, von der Seite, von hinten, von vorne mit allen verfügbaren Mitteln voranzutreiben.

Wenn es darum geht, sich im engen Korsett des Systems zu bewegen, haben die Sandinistas nationale Ökonomen, die nicht blond sind und keine Diplome der Yankee-Unis haben, die aber in hartem Studium die Regeln gelernt haben und sie perfekt anwenden, um zu versuchen, nicht zu verlieren. Geht es darum, die engen Rahmenbedingungen auszutricksen oder Parlamente mit korrupten Mehrheiten auszudribbeln, stehen die grossnationalen Unternehmen von ALBA zur Verfügung [grannacional: bezieht sich auf das grosse Vaterland von Lateinamerika]. Und eine unabhängige Aussenpolitik, die es zustand bringt, mit so unterschiedlichen Ländern wie der Volksrepublik China und Taiwan Beziehungen zu unterhalten. In der Zwischenzeit erlaubt sich Präsident Daniel Ortega, Uribhitler, Micheletti oder was auch immer für einem losgelassenen Gorilla ein Märschchen zu pfeifen.


Flüsse von Tinte gegen sozialistisches Ziel

Das Ziel ist ein Sozialismus mit starkem Selbstverwaltungseinschlag. Die Situation ist die eines im Grund revolutionären und antiimperialistischen Volkes, das Hunger, ideologischer Manipulation, Terrorismus in seinen verschiedenen Schattierungen und dem Verlust seiner geschichtlichen Wurzeln ausgesetzt war. Die Prioritäten sind, den Hunger des Volkes nach seinen sozialen, ökonomischen und allgemeinen Rechten zu stillen, die Ressourcen des Landes zu bewahren, sich auf der Basis der Nahrungsmittelproduktion entwickeln (zur Kornkammer von ALBA zu werden, sagen sie) und sich vor den Auswirkungen der globalen kapitalistischen Krise zu schützen. Das Imperium und die lokale Oligarchie sind in einem Zustand terminaler Krise, sie fressen sich gegenseitig auf und haben keine politische Alternative anzubieten. Niemand glaubt ihnen mehr. Schon als ich vor fünf Jahren in Nicaragua war, war das klar. Sie können niemanden mehr erschrecken, es reicht, die Nachrichten aus Afghanistan zu hören.

Was ihnen bleibt, ist Flüsse von Tinte zu spucken, tausende Fernseh- und Radiostunden zu produzieren,um zu manipulieren und zu entmutigen, nicht mehr, so simpel ist das. Vor allem die Printmedien haben sich wie in Venezuela und anderswo in eine politische Partei verwandelt, um die Reaktion um die Interessen des Botschafters der Gringos zu sammeln (der übrigens früher die rechte Hand von John Dimitri Negroponte gewesen ist). Bitte, Genossinnen und Genossen: Glaubt absolut nichts von dem,was La Prensa und El Nuevo Diario schreiben. Wenn ihr etwas besonders Entsetzliches über Nicaragua hört, fragt woher es kommt. Bestimmt aus dieser Quelle.

Doch die Argumente der Regierung sind mehr als überzeugend, sie wirken sich im Magen von vielen aus. Und im Kopf von vielen anderen. Lassen wir uns nicht durcheinander bringen. Das Verbot der Abtreibung auf medizinische Indikation war eine Barbarei. Aber ich glaube auch, dass in den letzten zwanzig Jahren noch nie so viele Kondome verteilt worden sind wie heute. Es wird viel und zunehmend mehr über Sexualität gesprochen. Es ist ein komplexes Phänomen. Für die Mehrheit der Frauen im Volk steht die Abtreibung nicht zuoberst auf der Agenda. Aber die Kontrolle über die Ökonomie des Haushaltes, die Möglichkeit zu haben, vielleicht zum ersten Mal im Leben einen Arzt aufzusuchen, Lesen und Schreiben lernen - das sind Belange erster Güte, die ihnen diese Regierung ermöglicht. In der letzten Zeit ist es zu einer Zunahme von Gewalt gegen Frauen Land gekommen, obwohl die Polizei im ganzen Land Büros eröffnet hat, um solche Delikte anzugehen. Ich vertrete die These, dass es sich dabei um die Reaktion eines zunehmend und in verschiedener Hinsicht bedrohten Patriarchats handelt, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet.

Ja, es ist viel die Rede von Gott. Na und? Wenn damit gemeint ist, «dem Volk Gottes zu dienen» oder «seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben», so wie es Gott und die Praxis des FSLN verlangen, wo liegt das Problem? Es stimmt, es kommt manchmal zu Übertreibungen. Es stimmt, dass es Compañeros gibt, die in rhetorischen Opportunismus verfallen, aber das ist nicht die dominante Note im offiziellen Diskurs. Wer von den Sandinistas Atheismus verlangt, weiss nichts von Nicaragua. Weiss nicht, was es bedeutet, dass [Kardinal] Obando y Bravo bei der Vergabe von Landtiteln an die Campesinos lammfromm auf der Tribüne steht, statt als spirituellen Führer des Feindes einen Krieg niedriger Intensität zu führen oder einer ländlichen Rechtspartei im Dienst des grossen Finanzkapitals vorzustehen.

Dies sind die Bedingungen, unter denen in Nicaragua heute gekämpft wird. Die Arena der Ideen, der Information und der Kultur sind von fundamentaler Bedeutung. Die sandinistischen Massen heilen mit dem Rest des Volkes zusammen, das jedes Mal sandinistischer (und/oder weniger antisandinistisch) wird, die Wunden des Krieges der 80er Jahre und der Hölle, die danach kam.

Der Neffe von Sandino sammelt heute jeden Fetzen Papier, den sein Grossvater beschrieben hat, um die Geschichte des sandinistischen Kampfes nach den Grundsätzen des Generals der freien Menschen aufzuzeichnen. Das Ergebnis, dessen Veröffentlichung vom bolivarischen Venezuela finanziert wird, wird die beste je geschriebene Biographie des Helden sein. Das «Forum der sandinistischen JournalistInnen gegen die mediale Diktatur» vereint jedes Mal mehr Menschen. Die KursgängerInnen an den Kaderschulen des FSLN werden jede Woche mehr. Nein, was wir sehen ist nicht ein aggiornamiento einiger erneuerter Sandinistas, sondern die Fortführung von jenem 19. Juli 1979.

All dies ereignet sich in einer Gesellschaft, die von der vom Neoliberalismus erzeugten konsumistischen Ideologie durchdrungen ist, die während sechzehn Jahren den abstossendsten, entmenschlichten und mit Massentechnologie verbreiteten kulturellen Produkten der US-Industrie ausgesetzt war. Dieser Kampf wird eklektisch geführt von einigen sandinistischen Kanälen, vor allem Radios und einem Fernsehsender. Manchmal gelingt das, etwa wenn es zu einer linken Version der Show von David Letterman kommt oder wenn Feministinnen Fragen von Männern beantworten. Manchmal geht es daneben, wenn etwa Skandalnachrichten exzessiv viel Platz beanspruchen oder die schlimmsten «Stammtisch»-Vorurteile bejaht werden.

In Nicaragua kennt man Werke wie «Maradona» von Kosturica oder «Looking for Eric» von Ken Loach nicht, Werke, welche die Perspektive der einfachen Leute mit viel Schalk, Humor und Tiefe ernst nehmen. Viele der mit der sandinistischen Revolution hochgekommenen Kulturkader sind wegen materieller Interessen, Verachtung für das Volk oder bitteren Ressentiments abgesprungen. Aber es bleiben Tausende von normalen KulturarbeiterInnen und -aktivistInnen, viele von ihnen durch die Veränderungen der 80er Jahre geformt, andere aus späteren Generationen, mit der Aufgabe, diese Prozess kulturell zu fassen. Sie tun es schon.

Lasst uns aufhören zu weinen, Compañeros. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind zu gross dafür. Es sind die Wirbelstürme und die Dürren der globalen Erwärmung, die gefährlichen posthumen Schläge des imperialen Zerfalls, die dringende Notwendigkeit, eine neue Welt aufzubauen, um nicht als Spezies unterzugehen (auch, weil die Chose schon zu viele Jahrhunderte gedauert hat). Dies ist der Ruf, den man auf diesem gesegneten Flecken Land wahrzunehmen glaubt, wenn man den ohrenbetäubenden Stimmen des medialen Obskurantismus kein Gehör schenkt.


Der uruguayische Autor lebte in den 80er in Nicaragua und erlitt später fünf Jahre Neoliberalismus in diesem Land. Danach war er nach Skandinavien ausgewandert, bevor er jetzt wieder heim gefunden hat.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 160, 21. Dezember 2009, S. 12-13
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2010