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CORREOS/155: Mexikanischer Frühling - Studibewegung macht Wahlkampf heiss


Correos des las Américas - Nr. 170, 26. Juni 2012

Mexikanischer Frühling: Studibewegung macht Wahlkampf heiss

von Philipp Gerber



Auch in Mexiko wurde das beschwörende Lied von der unpolitischen Jugend oft gesungen. Wenn die das anders sieht, kommt plötzlich unverhoffte Bewegung in die trägen Verhältnisse.


Die Präsidentschaftswahlen in Mexiko, welche am 1. Juli stattfinden, schienen gähnend langweilig zu werden. Der Sieger würde aller Voraussicht nach Enrique Peña Nieto heissen, ein vom Fernsehduopol über Jahre aufgebauter Strahlemann, der für die alte Staatspartei PRI ins Rennen ging und in den Umfragen bis zu 50 Prozent der Wähler-Innengunst hatte, zumindest von derjenigen Hälfte der Wahlberechtigten, die überhaupt daran dachten, an die Urne zu gehen. Der Sozialdemokrat Andrés Manuel López Obrador (kurz AMLO) und die Kandidatin der regierenden PAN, Josefina Vázquez Mota, teilten sich die andere Hälfte der Stimmen gemäss Umfragen, ohne reelle Aussichten auf Erfolg. Etliche KommentaristInnen jammerten, dass halt ein Grossteil Erstwähler wären und diese jungen Leute sich nicht an die bleiernen Jahre der PRI-Regierungen erinnern würden (die PRI war 71 Jahre lang an der Macht, bis die konservative PAN im Jahr 2000 die Regierung übernahm). Die junge Generation hätte also keinen Anlass, dem auf jugendlich getrimmten Sunnyboy mit der Gel-Frisur ihre Stimme zu verweigern. Bis dann anfang Mai plötzlich und unerwartet gerade die StudentInnen spontan eine Protestbewegung gegen Peña Nieto und die mit ihm verbandelten Medienhäuser initiierten. Einen Monat und dutzende Demos später ist das Rennen wieder offen und Mexiko im Wahl- und Demokratiefieber ... doch der Reihe nach:

Das Vorspiel der Jugendproteste fand, wie könnte es auch anders sein, im Bundesstaat Oaxaca statt: Am 11. April, zu Beginn der zweiten Wahlkampfwoche, besuchte Enrique Peña Nieto, Kandidat der vormaligen Staatspartei PRI, diesen südlichen Bundesstaat und traf auf eine kleine, aber lautstarke Schar von Protestierenden. Die repressive Politik seiner Partei ist gerade hier in nur zu guter Erinnerung. Die politischen Verbrechen der PRI blieben auch hier ungesühnt. Unverfrorener Ausdruck dafür ist, dass sich der Kandidat Peña Nieto auch von einem auf Fotos klar identifizierbaren Mörder begleiteten liess. Dieser erschlug 2004 einen gegen die PRI protestierenden pensionierten Lehrer.

Doch Repression und Proteste in Mexikos Provinz sind in der Wahrnehmung der Medien irrelevant. Alle Aufmerksamkeit ist auf das Geschehen in der Hauptstadt konzentriert. Dementsprechend gross war das Echo auf die Proteste am 11. Mai anlässlich des Auftrittes von Peña Nieto an der Ibero, einer jesuitischen Privatuniversität. Insbesondere die freche Antwort des Kandidaten auf Zwischenrufe, welche Gerechtigkeit für Atenco forderten, liessen die Stimmung kippen. Im nahe der mexikanischen Hauptstadt gelegenen Atenco kamen 2006 bei einem massiven Polizeieinsatz unter politischer Verantwortung des damaligen Gouverneurs Peña Nieto im Bundesstaat Estado de México zwei Jugendliche ums Leben, dutzende Frauen wurden in Polizeihaft vergewaltigt. Diesen dunklen Fleck auf der Weste des Strahlemanns riefen die StudentInnen der Ibero in Erinnerung, was von diesem mit einem trotzigen «Ich stehe zu meiner Verantwortung in Atenco» beantwortet wurde. Die Übergriffe bedauere er, aber das seien einzelne Taten und die Täter bestraft. Die Studierenden sahen das anders und bedrängten den Kandidaten, der sich zuerst samt Sicherheitsapparat in der WC-Anlage der Uni verschanzte und schliesslich das Weite suchen musste.

Die Parteiführung der PRI verschärfte die Situation Stunden später mit der Bemerkung, die Proteste seien von Provokateuren ausgegangen, die gar nicht an der Ibero studierten. Diese Stellungnahme übernahmen die privaten Fernsehsender unhinterfragt. Tags darauf zeigten 131 Studierende in einem Youtube-Video ihren Ibero-Studiausweis und bekannten sich zu den Protesten. Diese Aktion wurde an «Universitäten im ganzen Land aufgenommen und in den sozialen Netzwerken und auf den Strassen erschallte der Ruf Hunderttausender: «Yo soy 132», ich bin 132. Eine mexikanische Studierendenbewegung war geboren, die zumindest in ihrer Einschliesslichkeit beispiellos ist. Gerade die Studierenden der Privatunis, auch konservativer Couleur, sind aktiv beteiligt, die interuniversitätre Vollversammlung tagte inzwischen zwei Mal und vereinigt RepräsentantInnen von 98 Universitäten des Landes.

Wie immer liegt in der Breite auch die Gefahr der Beliebigkeit oder der Spaltung. In ihrem ersten Monat konnte #YoSoy132 jedoch einen wichtigen Minimalkonsens erreichen: Die PRI und mit ihr Peña Nieto wird klar abgelehnt, aber keine Wahlempfehlung für einen anderen Kandidaten ausgegeben. Die Medien, insbesondere der Fernsehgigant Televisa, werden als manipulativ denunziert, eine echte Medienvielfalt wird gefordert. Zudem sollen die Behörden faire Wahlen garantieren. Die studentische Jugend zeigt also, dass sie doch ein historisches Gedächtnis hat, dass Oaxaca und Atenco 2006 ebenso unvergessen sind wie die unsaubere Wahl im selben Jahr, nach der sich schliesslich Felipe Calderón mit Hilfe von Militärs vereidigen liess. Die seither grassierende Militarisierung und der «Drogenkrieg» der Regierung konnten zumindest die studentische Schicht noch nicht soweit paralysieren, dass keine Mobilisierung mehr möglich ist. Allein für die zwei Wochen vor dem Wahltermin sind acht Mobilisierungen in der Hauptstadt geplant.

Mitte Juni, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, scheint das Rennen zwischen AMLO und Peña Nieto offen, ein Wahlsieg der mexikanischen Linken möglich. Bedenkenswert nur, dass diese Linke bisher ebenfalls nur wenige gute Regierungsresultate vorzuweisen hat. Mexiko Stadt, seit 1997 in PRD-Hand, zählt zwar heute zu den sichersten Grossstädten Lateinamerikas, doch dies zum Preis von Gentrifizierung und ohne einige Grundübel wie die systematische Folter auf den Polizeiposten oder die Missstände im Strafvollzug anzugehen. Die Regierungserfahrungen der «Linken» in den Bundesstaaten sind sogar durchs Band unverzeihlich schlecht: Korruption, Verbindungen mit der Mafia, Kriminalisierung der sozialen Bewegungen und Straflosigkeit sind das ewige Lied in Chiapas, Oaxaca, Guerrero und anderen von der Linken (mit-)regierten Teilstaaten. Der bisherigen und der neuen sozialen Bewegung ist deshalb eines klar: Egal, wer am 1. Juli gewählt wird, nur wenn der neue Wind von #YoSoy132 über dem Wahltag hinaus gerettet wird und der Druck von der Strasse nicht nachlässt, kann Mexiko auf reale Veränderungen hoffen.


Behörden gestehen Verantwortung für massive
Menschenrechtsverletzungen in Oaxaca ein

Am 14. Juni, dem 6. Jahrestag der versuchten Räumung einer LehrerInnenkundgebung, bekannte sich Gouverneur Gabino Cué zur staatlichen Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen, die 2006 und 2007 in Oaxaca begangen wurden. Vor mehreren hundert Folterüberlebenden und deren Angehörigen gab Cué bekannt, dass mit der Opfervereinigung und den sie begleitenden Menschenrechtsorganisationen eine Übereinkunft erzielt wurde: Ein «integraler Plan zur Wiedergutmachung der Schäden» soll die Opfer der Staatsgewalt rehabilitieren, bei der Bewältigung der Folgen unterstützen sowie nach internationalen Standards entschädigen.

Im Namen der Opfer sprach Merit Jiménez Jiménez, die jugendliche Tochter des Lehrers José Jiménez Colmenares, welcher auf einer Demonstration im August 2006 mutmasslich von Polizisten erschossen wurde: «Dieser Akt markiert den Beginn einer neuen Etappe, in welcher sich Ereignisse wie diejenigen von 2006 in Oaxaca nicht wiederholen können. Damit wird der Teufelskreis der Straflosigkeit durchbrochen».

Die Menschenrechtsorganisation Codigo DH betonte, der öffentliche Akt der Regierung trage «zur Wiederherstellung der Würde der Opfer und ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft» bei. Gleichzeitig betont Codigo DH, dass die Gerechtigkeit eine unverrückbare Prämisse für eine echte Versöhnung sei. Deshalb drängen Menschenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen darauf, dass die Ermittlungen der vor einem Jahr eingerichteten Sonderstaatsanwaltschaft baldmöglichst Früchte tragen und die Verantwortlichen für aussergerichtliche Hinrichtungen, Folter und Kriminalisierung des sozialen Protests dingfest gemacht werden.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 170, 26. Juni 2012, S. 30-31
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2012