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CORREOS/179: Chile gestern - Venezuela heute?


Correos des las Américas - Nr. 175, 21. September 2013

Chile gestern - Venezuela heute?
Die Bedeutung des 11. September in der Geschichte und für heute.
Ein Plädoyer wider die Ahnungslosigkeit und das Vergessen.

von René Lechleiter



1933 brannte in Berlin der Reichstag, angezündet von den Faschisten, als Vorwand und Ausgangspunkt für einen von der Kriegsindustrie finanzierten Vernichtungsfeldzug gegen alles jüdisch-bolschewistische; 1973 brannte in Santiago de Chile die Moneda (Regierungsgebäude und Symbol der verfassungsmässigen Ordnung), Ausgangspunkt für einen Vernichtungsfeldzug gegen alles kommunistisch-sozialistische, zur Sicherstellung der Vormachtstellung einer kleinen reichen Oberschicht und der multinationalen Konzerne. Das Datum des 11. September 1973 ist im Gedächtnis auf immer eingebrannt für dem Versuch, einen breit abgestützten Emanzipationsprozess eines Volkes blutig abzuwürgen.

Auch wenn heute krampfhaft versucht wird, mit «9/11» eine Zeitenwende zu zelebrieren, gemäss der man als Grossmacht überall in der Welt die eigene Jurisprudenz, Tod und Schrecken verbreiten darf, sollte es doch nicht gelingen, dass die Erinnerung und die Lehren von Chile zugeschüttet werden. Während in den Medien die Erinnerung an 9/11 jedes Jahr wachgerufen wird, werden die Ereignisse in Chile mit ein paar doppelbödigen Cliché-Behauptungen abgetan. Allende habe die «Gesellschaft gespalten», sein sozialistisches «Experiment» sei gescheitert, es haben «Chaos» und «bürgerkriegsähnliche Zustände» geherrscht, ja, er habe auf einen «Bruch der verfassungsmässigen Ordnung» hingearbeitet, kurz: Allende habe schlussendlich ein «totalitäres Regime» errichten wollen...

Kommt uns dieser oder jener Vorwurf nicht bekannt vor? Ohne zu behaupten, Allende und die Unidad Popular (UP) hätten alles richtig gemacht, sieht man im Lichte aller bis heute bekannten Dokumente, dass hier unter tatkräftiger Mitwirkung des Imperiums eine veritable Konterrevolution stattgefunden hat!


Was uns Chile lehrt

Der Militärputsch in Chile am 11. September 1973 markiert in mehrerer Hinsicht einen gravierenden Einschnitt. Er machte deutlich, dass die bürgerliche Demokratie nur so lange hochgehalten wird, wie sie den Interessen der wirklichen Machthaber dient. Immer und wenn sich aber das Volk dieses Instruments bedient, um auch nur ansatzweise Veränderungen einzuleiten, dann ist der Zapfen ab. Auch Honduras oder Paraguay, um nur die jüngsten Beispiel zu nennen, lassen grüssen. In Chile redeten die Generäle diesbezüglich Klartext: Die Demokratie müsse «von Zeit zu Zeit im Blut gebadet werden»...

In diesem Sinne kannte die Konterevolution keine Limiten:

  • sie verfolgte die Strategie des Massenmordes, die physische Vernichtung respektive das «Verschwinden-lassen» des Gegners, gnadenlos, hasserfüllt, Folter Kindsraub - Mord;
     
  • sie nährt sich von der Ideologie des Kalten Krieges, des Antikommunismus, eisern und blind;
     
  • kulturell zielt sie auf eine Verdummung und Abstumpfung, eine Ausrottung der «Saat», die da aufzugehen droht;
     
  • wirtschaftlich zielt sie auf die radikale Abkehr von einer Ökonomie wo sich die zentralen Ressourcen im Besitz des Staates befinden, und deren Früchte den ChileInnnen zugute kommen;
     
  • mehr noch, es ging nicht einmal mehr um die Wiederherstellung der alten kapitalistischen Verhältnisse zugunsten einer nationalen Oberschicht. Es war eine Konterrevolution, die sich gegen alles richtete, auf was die Völker im lateinamerikanischen Subkontinent seit der Französischen Revolution, seit den Unabhängigkeitskriegen (Bolivar !) und seit der Kubanischen Revolution aspirierten. Alles, sämtliche noch so zaghaften Errungenschaften wurden vernichtet, um ein brutales «Experiment» zu starten, die Einführung des Neoliberalismus.

Konspirationen ab dem ersten Tag

Tatsächlich war der Wahlsieg der Unidad Popular (UP) mit deren Präsidentschaftskandidat Salvador Allende der Bourgeoisie in die Knochen gefahren. Doch er war alles andere als ein Unfall in der Geschichte, sondern Konsequenz einer jahrelangen politischen Aufbauarbeit, sowie Folge einer sich nicht verbessernden sozialen Lage der Mehrheit der Bevölkerung. Dies trotz ansehnlicher Ressourcen (Bergbau, Kupfer, Kohle, aber auch Landwirtschaftsprodukte wie Wein etc).

Salvador Allende war insgesamt vier Mal Präsidentschaftskandidat von Linksbündnissen (SP & KP) gewesen. Für die Wahlen im September 1970 hatte dieses Bündnis noch um weitere Parteien erweitert werden können. Nur das MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) wollte sich nicht einbinden lassen.

Während sich also die Volkskräfte zu einem einheitlichen Bündnis - und mit einem einheitlichen Wahlprogramm - zusammengerauft hatten, traten die Rechten sowie das Zentrum (Christdemokraten) getrennt an - und verloren. Was man zu jenem Zeitpunkt noch nicht so klar wusste, allenfalls ahnen konnte, ist die Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten schon ab Mitte der 60er Jahre auf höchster Ebene Alarmstimmung herrschte, in Regierungskreisen, den Geheimdiensten und den Chefetagen einiger multinationaler Konzerne. In den von Recherchier-Journalist Jack Anderson im März 1972 enthüllten Geheimpapieren der ITT (Telekommunikation) lautet der Titel von Kapitel 1: «Verhindern, dass Salvador Allende Präsident wird». Die Dokumente zeigen den direkten Draht von ITT zu Henry Kissinger, damals Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Nixon, und zum CIA-Chef Richard Helms.

Diese Troika entwickelte, unterstützt von einem «Rat der 40», die Subversions-, Destabilisierungs- und schliesslich auch die Putschpläne, wobei ihnen die amerikanischen Botschafter in Santiago wichtige Unterstützung leisteten. Für die schmutzige Arbeit liessen sich alleweil rechtsextreme Elemente finden, es wurden viele Dollars und Waffen ins Land geschleust. Ein erstes Opfer war kein geringerer als der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General René Schneider. Der als absolut verfassungstreu bekannte oberste Militär sollte entführt werden, um Panik zu säen und die Streitkräfte zum Intervenieren zu veranlassen. Die Entführung misslang, doch General Schneider erlag drei Tage später seinen Schussverletzungen.

Die CIA setzte, wie schon 1954 in Guatemala erfolgreich erprobt, auf rechtsextreme Exponenten innerhalb der Armee. In diesem Falle war es Brigadegeneral Roberto Viaux, eine Figur, die bezeichnenderweise bekannt geworden war durch eine Meuterei des Regiments «Tacna» im Oktober 1969, noch unter Präsident Frei. Viaux, der wegen dem «Tacnazo» vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, bewegte sich in Kreisen der rechtsextremen Partei Patria y Libertad, welche dann zur politischen Stütze und zivilem Feigenblatt für das Militärregime wurde.


Destabilisierung

Doch das Gespann Nixon-Kissinger-Helms setzte nicht allein auf das Mittel des Politmordes. In Washington und Langley wurden noch weitere Methoden ausgeheckt, um einen Krieg auf niedriger Intensität zur Destabilisierung der Volksfrontregierung zu führen. Bemerkenswert ist, dass ihnen im Verlaufe der letzten vierzig Jahre zwar nicht mehr viel Neues eingefallen ist, dass aber der Überraschungseffekt und die Wirksamkeit jedesmal von Neuem relativ gross ist. Leider. Die Liste der angewendeten Tricks ist relativ lang (und nie vollständig):

  • gezielte politische Morde oder Mordkomplotte (in Chile zuerst General Schneider, dann Konteradmiral Araya), oft auch seltsame Flugzeugabstürze (General Torrijos in Panama, Präsident Jaime Roldos von Ecuador), oder wie vor zwei Jahren in Bolivien, wo eine grössere Gruppe von Söldnern aus Ungarn/Kosovo für einen Sezessionskrieg eingeschleust, bewaffnet und finanziert wurde;
     
  • Sabotage-Aktionen (im Grossen und im Kleinen, plötzlich fällt die Stromversorgung aus wie jüngst in Venezuela; zu Nicaragua hat die CIA ein eigentliches Manual in Umlauf gebracht wie man tagtäglich Schaden anrichten kann, z.B. Strom- und Telefonleitungen kappt);
     
  • Antikommunistische Hetze (in Chile wurde die Präsenz von sowjetischen Fischkuttern dafür missbraucht um die Angst vor einer Invasion zu schüren. Lugo in Paraguay wurde wegen der Alfabetisierungskampagne nach der Methode «Yo sí puedo» vorgeworfen, er wolle damit das Land cubanisch indoktrinieren, Correa in Ecuador wird laufend mit den FARC von Kolumbien in Verbindung gebracht);
     
  • künstliche Verknappung von Gütern des täglichen Bedarfs (plötzlich hat es in den Supermärkten kein WC-Papier, keine Zahnpasta und/oder keine Seife mehr, so in Chile, in Nicaragua und jüngst wieder in Venezuela), in Chile verschoben Grossgrundbesitzer ganze Rinderherden zum Verkauf nach Argentinien - in Santiago gab es während Wochen kein Fleisch mehr;
     
  • Aufwiegeln der Mittelklasse (wenn es kein Fleisch mehr gibt, wird auf die leeren Pfannen gehauen), Schuld ist immer die Regierung;
     
  • geheime Geldflüsse zur Aktivierung von Oppositionsparteien, konterrevolutionären Gruppen und Einzelpersonen (in Chile, angesichts einer geschwächten Escudo-Währung, konnte mit Dollars viel bewirkt werden; so lag dem grossen Streik der Lastwagenfahrer keine reales Anliegen zugrunde, man verdiente als Chauffeur mehr, wenn man an diesen Tagen nicht fuhr. Gleichzeitig waren aber die Nachschubwege unterbrochen, Frischwaren aus dem Süden erreichten die Hauptstadt nicht mehr);
     
  • Lügen-, Diversions- und Diffamierungkampagnen in den «freien» Medien
     
  • Bestechung (siehe den Inside-Bericht von John Perkins «Confessions of an economic Hit Man»);
     
  • Schüren von Konflikten mit nationalen Minderheiten (wer erinnert sich nicht an die Thematik der Miskitos an der Atlantikküste Nicaraguas? In Chile waren es die ihre eigene Kultur bewahrenden und um ihre alten Landrechte kämpfenden Mapuches);
     
  • Einschleusen von Spitzeln (irgendwoher kommen ja die Schwarzen Listen, heute modernisiert durch flächendeckende Abhörmethoden);
     
  • Einschleusen von Agents Provocateurs (sie wollen alles schneller, radikaler, hetzen auf);
     
  • Verknappung der Finanzflüsse durch Manöver seitens der Banken;
     
  • Manipulation von Börsenkursen (an der Rohmetallbörse in London brach 1972 plötzlich der Kupferpreis ein);
     
  • enge Kollaboration der Geheimdienste (Datenaustausch, Plan Condor, Geheimgefängnisse, aber auch Attentate gegen einflussreiche Gegner der Diktatur, die im Exil leben, wie gegen den verfassungstreuen General und Ex-Minister Carlos Parts, oder Allendes Aussenminister Orlando Letelier, die beide bei Bombenattentaten durch den CIA-Agent Townly ihr Leben lassen mussten).

Compañero Presidente

Mit all diesen Methoden wurde in Chile begonnen, noch bevor Allende wirklich das Präsidentenamt innehatte (er hatte mit 36,3 Prozent der Stimmen nur eine relative Mehrheit errungen, kapp vor dem Kandidaten der Konservativen, Jorge Alessandri, mit 34,9 Prozent, die Differenz betrug lediglich 40.000 Stimmen, und vor dem Christdemokraten Radomiro Tonic mit 27,9 Prozent. Gemäss Verfassung musste nun das Parlament entscheiden). Als die Wahl dann trotz Mord an Schneider und trotz politischen Manövern mit den Christdemokraten nichts fruchteten, wurde die Destabilisierungskampagne und die Putschvorbereitungen intensiviert.

Die UP hatte sich für die Wahlen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm geeinigt. Herzstück darin waren «die ersten 40 Massnahmen der Volksregierung», mit dem berühmten halben Liter Milch pro Tag als Ration für jedes Kind. Es wurde ein gemischtes Wirtschaftssystem angestrebt mit einem staatlichen, einem gemischten und einem privaten Sektor, sowie eine tiefgreifende Agrarreform. In dieser Beziehung haben die 1000 Tage mit Allende sehr viel gebracht.

Man muss erlebt haben, mit was für einem Enthusiasmus, in was für einer Aufbruchstimmung die Menschen sich an die Umsetzung dieser Zielsetzungen machten. Die grosse Mehrheit wollte Veränderung, fühlte sich ernst genommen, partizipierte. Es manifestierte sich ein starker Wille, trotz manchmal sehr widriger Umstände und Hindernisse gemeinsam diesen neuen Weg zu beschreiten. Wie breit die Unterstützung für den Prozess und die führenden Persönlichkeiten war zeigte sich in den Parlamentswahlen vom März 1973, wo die UP ihren Wähleranteil auf 43,4 Prozent steigern konnte. Ebenso auch in grossen Festen und Demonstrationen.

Abgesehen von den bösartigen Destabilisierungsmassnahmen der Gegner waren manche inhaltlichen Auseinandersetzungen unter den Parteien der UP dem Prozess nicht sehr zuträglich. Diese liessen sich resümieren in den konträren Slogans: Das Erreichte konsolidieren, um dann weiterzuschreiten versus sofort voranschreiten, um dann zu konsolidieren. Letztere Linie vertrat vor allem das MIR, in dem es mit eigenmächtig organisierten Landbesetzungen die Agrarreform beschleunigen wollte, wodurch die Carabineros in Aktion traten und es zu sehr unschönen Szenen kam. Als bei einer solchen Konfrontation in einem marginalen Barrio ein Poblador ums Leben kam zog der Trauerzug mit dem Slogan «Allende - Asesino» durch die Strassen.

Dem besseren Vorwärtskommen stand oft eine sehr sektiererische Haltungen im Wege. In Zeiten so grosser Konfrontationen sind Separatzüglein, von wem auch immer sie gefahren werden, Gift für das weitere Vorankommen. Eingedenk dieser Tatsache lautet das Vermächtnis, das uns Hugo Chávez hinterlassen hat: Unidad! Unidad! Unidad!


Die Chicago Boys

Der grundlegende Wendepunkt ist jedoch nicht allein im rein Politischen auszumachen. Ziel des Putsches war es letztlich, die gesamte chilenische Gesellschaft umzupolen, wirtschaftlich, kulturell, ideologisch und sie damit weichzuspülen für ein anderes «Experiment» am lebendigen Leib: Der Einführung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Sie war ganz klar nicht durchsetzbar unter demokratischen Bedingungen, und schon gar nicht gegen die Präsenz von machtvollen Massenorganisationen.

Der Putsch vom 11. September diente mehreren Zwecken, vordringlich ging es darum, die Ausstrahlungskraft auf andere Länder in Lateinamerika zu unterdrücken (Kissinger), und gleichzeitig, getragen von Gewehrkugeln und Repression, einem neuen kapitalistischen Modell die Bahn zu brechen. Dieses Modell hatte eine Gruppe von Wirtschaftswissenschafter um Milton Friedman an der University of Chicago entwickelt. Sie strebten einen absolut «freien Markt» an, der nur durch rigorose Privatisierungs- und Deregulierungsmassnahmen zu erreichen ist.

Diese totale Umkrempelung im ökonomischen Bereich war nur realisierbar unter den politischen Bedingungen einer Diktatur. Chile wurde zu einem Übungsfeld, für das man buchstäblich über Leichen ging. Kissinger und Friedmann erhielten beide für ihr Tun den Nobelpreis.

Das solchermassen erprobte «Experiment» wurde seither, mit Retouchen, auf andere Felder (Länder, Regionen, die Welt) ausgedehnt. Der Siegeszug dieser neoliberalen Politik führte direkt zur Schuldenkrise der 80er Jahre, und damit in eine neue Abhängigkeit. Inskünftig waren (und sind) es Vertreter von IWF und Weltbank , welche den Lauf von nationalen Ökonomien bestimmen; vor allem durch rigorose Kürzungen in Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Kulturbereichen. Die Tentakel dieser Politik haben inzwischen Europa erreicht, Griechenland, Spanien, Portugal...


Beseitigung jeglicher Opposition

Die Vehemenz, um nicht zu sagen, der zügellose Hass, mit dem die Liquidierung jeglicher Oppositionsregung bewerkstelligt wurde, übersteigt noch heute die menschliche Vorstellungskraft. Sie traf - trotz den zahlreichen Vorzeichen und Warnungen - die Unidad Popular mehr oder weniger unvorbereitet. Bis zuletzt hatte man an die angebliche Verfassungstreue der Streitkräfte geglaubt. Was für eine Illusion! Die Chilenen hatten keine praktische Vorstellung von Faschismus. Sie ahnten auch nicht, was auf sie zukommen könnte, als an die Wände Santiagos das Menetekel «Jakarta» geschmiert wurde. (Zwischen einer halben und einer ganzen Million Linke wurden in Indonesien 1965/66 im Rahmen eines US-gesponsorten Militärputsches umgebracht.)

Für den Tag des Militärputsches waren 100.000 Mann der Streitkräfte und der Carabineros mobilisiert, örtlich begleitet von Zivilisten men Patria y Libertad. Der Regierungssitz wurde mit Panzern umstellt, und sodann, als Allende das Ultimatum, sich bedingungslos zu ergeben, vehement zurückgewiesen hatte, aus der Luft bombardiert. Die Jagdflugzeuge vom britischen Typ Hawker Hunter (mit dem auch die schweizerische Luftwaffe flog) griffen nahtlos auch den Wohnsitz von Allende an sowie die Studios und Sendemaste der Radiostationen mit nationaler Ausstrahlung. Statt zum Plebiszit sprach Allende eine bewegenden Abschiedsrede zum Volk; ein Aufruf zum Widerstand oder zur Verteidigung der Errungenschaften erfolgte nicht, es war nicht darauf vorbereitet...

Die Militärs setzten sofort alle verfassungsmässigen Rechte wurden ausser Kraft, erklärten das Parlament für aufgelöst, die politischen Parteien der UP, die Gewerkschaften und Massenorganisationen der Jugend, StudentInne, Frauen usw. wurden illegalisiert, deren Eigentum beschlagnahmt oder vernichtet (Parteilokale, Archive, Bibliotheken, Finanzen). Erinnert das im Ansatz nicht an den April 2002 in Venezuela, als der Putsch gegen Chávez begann? Nicht zu vergessen: Auch in Santiago wurde in den ersten Stunden des Putsches die cubanische Botschaft angegriffen - ähnlich wie dies Capriles beim Putsch 2002 in Caracas praktizierte. Zufall?

Ebenso unmittelbar begann eine beispiellose Menschenjagd. Massenverhaftungen und gezielte Einzelverhaftungen, Hausdurchsuchungen, Überstellung an militärische Stäbe, Verhöre, Folter und Hinrichtungen. Im Stadion Chile wurde ein KZ-ähnliches Auffanglager eingerichtet. Offensichtlich waren auch Schwarze Listen erstellt worden. Mit dem «Dekret Nr. 10» wurde die Hatz auf 95 meistgesuchte Personen eröffnet, alles führende Persönlichkeiten der Parteien der UP, der Gewerkschaften, der Landarbeiter-Genossenschaften, linken Kulturorganisationen sowie der Regierung und Stadtverwaltung.

Diese Aktionen waren nicht nur auf die Hauptstadt Santiago beschränkt. Als zwei Wochen nach dem Putsch ruchbar wurde, dass im Süden und Norden des Landes einige Garnisonskommandanten Gefangene machten, entsendete der Diktator getreu seinem Wahlspruch «keine Gnade mit den Extremisten» einen mit Sondervollmachten ausgestatteten General auf eine «Karawane des Todes». Mit einem Milktärhelikopter flog dieser zuerst im extremen Süden des Landes verschiedene Garnisonen an und liess 26 Gefangene ermorden; anschliessend eine ähnliche Runde im Norden mit einem Saldo von 71 Toten.

Es ist diese Todeskarawane, die 33 Jahre später dem Diktator Pinochet eine erste Verurteilung mit anschliessendem Hausarrest eintrug. Die weitgehende Straflosigkeit (impunidad) für all diese aussergerichtlichen Hinrichtungen und Gräueltaten und die selbst verfügte Amnestie für alle Schergen und Mörder ist eine der schwerwiegenden Altlasten, die heute noch auf der chilenischen Gesellschaft lastet. Zudem erfreuen sich die Militärs, je nach Dienstgrad, einer erklecklichen Pension, während die Angehörigen der Opfer wegen dem Verlust von Familienangehörigen, den Beraubungen und Drangsalierungen vielfach in Armut leben.


Schweizer Profiteure

Die Haltung der offiziellen Schweiz zählt zu einem Schandfleck unserer Geschichte. Sie schnitt den Verfolgten und vom Tod bedrohten insofern den Weg ins Exil ab, als sofort eine Visumpflicht für ChileInnnen eingeführt wurde. Wer dennoch bis an unsere Grenze kam, wurde dort gestoppt, der Bundesrat hatte ein Kontingent von lediglich 250 Flüchtlingen zugelassen. Im Übrigen beeilte man sich zu betonen, dass die Schweiz die diplomatischen Beziehungen nicht unterbreche, da man Länder, nicht Regierungen, anerkenne.

Die Schweizer Exporte nach Chile, welche 1973 angesichts von Zahlungsproblemen stark zurückgegangen waren, zogen ab 1974 ungeachtet der Menschenrechtsverletzungen kräftig an (Schmidheinys Holderbank, Nestlé). Beim Putsch waren die aus Neuhausen stammenden SIG-Sturmgewehre im Einsatz, und zur Umgehung des Waffenexport-Gesetzes verkaufte die Mowag später die Patente für den Piranha-Schützenpanzer an die chilenische Armee. Diese war inzwischen zum grössten Land- und Waldbesitzer aufgestiegen und betrieb eine eigene Waffenfabrik. Der «Vorwärts» enthüllte in den 80er-Jahren, dass zwischen dieser Fabrik und der EMS-Chemie von Christoph Blocher Verhandlungen stattgefunden hatten über die Lieferung von modernsten Zündern.

Demgegenüber kann sich das, was die Solidaritätsbewegung geleistet hat, durchaus sehen lassen. Zahlreich und gross waren die Veranstaltungen zur Unterstützung des Widerstandes. Im Allende-Komitee fanden sich erstmals seit dem Kalten Krieg alle Linksparteien und Organisationen zusammen um gemeinsame Aktionen durchzuführen. Man erkannte auch, dass man sich schon sehr viel früher, als der Prozess noch in der Aufbauphase war, aktiv hätte einschalten müssen. Eine Lehre, die dann ab 1979 zur grossen, kreativen Solidaritätsbewegung mit Nicaragua führte.


Ausradierung nationaler Identität

Der Putsch in Chile hatte noch eine weitere nachhaltige Seite. Nicht nur in Berlin, auch in Chile kam es unmittelbar nach dem Putsch durch das Militär zu Bücherverbrennungen. Mit dem selben geistigen Hintergrund: Eliminierung des politischen Bewusstseins und Ausradierung der nationalen Identität. Verboten wurde sofort die Música Andina und das so genannte Neue Chilenische Lied (la nueva canción Chilena). Die Militärs räumten auf mit Flöten, Quenas und Charangos, weil dies alles Instrumente sind, mit denen die Aufbruchstimmung und das sozialkritische Lied identifiziert worden war. Ebenso mussten viele Autoren und sogar bestimmte Wörter, wie zum Beispiel Streik, aus Publikationen und dem öffentlichen Vokabular verschwinden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Aufbruchstimmung: Für die Verbreitung des «Neuen Chilenischen Liedes» wurde ein eigenes Schallplattenlabel geschaffen. So konnten sich die neuen Inhalte gegen den Kulturimperialismus durchsetzen und fanden Gruppen wie Inti Illimani, Quilapayún, Tiempo nuevo und die Cantautores wie Victor Jara oder Violetta Parra ihre Verbreitung. Auch hier sticht die hochstehende Umschlag-Gestaltung ins Auge. Einheit von Inhalt und Form!


So brannten auf den Scheiterhaufen die Gedichte von Pablo Neruda und die Lieder von Victor Jara. Diesem, dem wohl bekanntesten Cantautore Chiles, wurden nach der Verhaftung in dem zu einem riesigen Gefangenenlager umfunktionierten Estadio de Chile zuerst vor aller Augen hochsymbolisch die Hände gebrochen, damit er nicht mehr Gitarre spielen kann, dann wurde er in den Katakomben des Stadions ermordet und seine Leiche an einem Strassenrand als NN (No Name) entsorgt.

Tabula rasa machten die Soldaten und Carabineros gleichzeitig in Bibliotheken, Theatern, Museen und vor allem auch in den Universitäten. Die Generäle zielten darauf ab, auf diese Weise den kritischen Geist, eben Allendes "Saat", mit Feuer und Folter auszurotten.

Dies scheint in Chile mehr oder weniger erfolgreich gelungen zu sein. In der Gesellschaft vorherrschend ist heute eine grosse Lust auf Ahnungslosigkeit, Vergessen und Konsum. Erst die StudentInnenbewegung zur Wiederherstellung eines öffentlichen Bildungswesens knüpft an die Erfahrungen der 60er Jahre an...


Unidad! unidad! unidad!

Man wird also der historischen Wahrheit nicht gerecht, wenn man den 11. September 1973 auf den Namen und das Wirken von Salvador Allende und seinem Kontrahenten reduziert. Allende verkörpert die Kategorie der Rolle des Individuums in der Geschichte, so wie dies Hugo Chávez, Evo Morales, Fidel Castro oder Ché Guevara tun. Sie sind aber keine selbsternannte Caudillos, sondern sind Produkt und Exponenten eines manifesten Volkswillens, nicht mehr fremdbestimmt zu sein, sondern die Geschicke selber in die eigene Hand zu nehmen.

Das chilenische Fanal ist nicht vergessen, es wurde 25 Jahre später in Venezuela aufgegriffen, weitere zehn Jahre später auch in Ecuador und Bolivien. Es ist noch nicht das Ende der Geschichte! Aber auch die Troika's schlafen nicht.


René Lechleiter, Architekt und Journalist, bereiste 1971 erstmals ganz Südamerika und lebte zur Zeit der Unidad Popular über ein Jahr lang und bis kurz vor dem Putsch in Chile. Angesichts der verzerrten Berichterstattung in den schweizerischen Medien Beginn einer Korrespondententätigkeit für «Konzept» und «Vorwärts».

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 175, 21. September 2013, S. 20-23
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2013