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CORREOS/188: Kolumbien - Wahlen im Land der 100 Jahre Einsamkeit


Correos des las Américas - Nr. 177, 28. April 2014

Wahlen im Land der 100 Jahre Einsamkeit

von José Rodríguez



Im März gab es Parlamentswahlen, im Mai folgen die Präsidentschaftswahlen. Im Resultat der Parlamentswahlen widerspiegelt sich paradoxerweise die Existenz einer grossen und einheitlichen Volksbewegung nicht, auch wenn die wahlpolitische Linke von ihr nicht abgekoppelt ist. Nicht nur die Ergebnisse, auch die Kampagne selbst verweisen auf die antidemokratische Essenz des politischen Regimes, die sich seit dem Sturz der letzten Militärdiktatur 1957 kein Jota geändert hat. Damals beschlossen die beiden traditionellen Parteien, sich alle vier Jahre an der Regierung abzulösen, was den bewaffneten Kampf entscheidend beflügelt hatte. Formal ist dieses Abkommen zwar seit 1973 beendet, praktisch aber dauert es an. Die Friedensdialoge in La Habana und die scheinbaren Differenzen zwischen der ultrarechten Vorgängerregierung von Álvaro Uribe und der jetzigen erlauben es dieser, einen fiktiven demokratischen Wandel vorzuspiegeln.

Von den 167 Sitzen in dem regional gewählten RepräsentantInnenhaus gingen 126 an jene Kräfte, die die regierende Koalition Unidad Nacional unterstützen. Sie alle kommen aus den beiden traditionellen Parteien, der liberalen und der konservativen. Die ebenfalls aus diesen beiden Parteien kommende Ultrarechte um Ex-Präsident Uribe erreichte 24 Sitze. Zusammen verfügt also die Rechte über 89.9% der Sitze im Unterhaus. Die diversen Linksformationen errangen 9 Mandate, weitere 8 gingen an verschiedene Kollektivitäten - indigene, afrikastämmige, religiöse Parteien. Von den 102 Sitzen des national gewählten Senats gingen 67 an das Lager um Unidad Nacional und 24 an die Uribistas, zusammen entspricht das 89.26% der Stimmen. Die Linken holen hier 10 Sitze und andere Kräfte einen weiteren.

Man schätzt, dass ca. 42% der Gewählten familiäre oder politische Abkömmlinge traditioneller Wahl-Kaziken sind; man könnte also von einer plutokratischen Zusammensetzung reden, doch auch von einer korrupten und klientelistischen. Denn es stimmt, was die Uribistas sagen: zweckgebundene Haushaltsgelder, öffentliche Ämter, Güter und Dienstleistungen - alles im Dienst der KandidatInnen des Regierungslagers. Die Zusammensetzung der Kammer ist auch mafiös und paramilitärisch. Gegen 36 in die Kammer und 33 in den Senat Gewählte laufen formelle Untersuchungen wegen Verwicklungen mit dem Paramilitarismus oder dem Drogenhandel. Ein Drittel des Ehrenwerten Senats hat somit laut einer Untersuchung der NGO Paz y Reconciliación mit Paramilitarismus und Drogenhandel zu tun.

Diese Elemente gehören auch nicht ausschliesslich zum Uribismus, sie sind auch im Santos-Lager, generell in allen Parteien ausser den linken, zu finden - ein wichtiges Elemente für die Analyse. Eine Taktik des gesamten Machtblocks besteht darin, glauben zu machen, es bestünden realle Unterschiede im Staatskonzept und in der Klassenzusammensetzung der beiden letzten Regierungen. In Kolumbien kennt die Rechte keine Identität, nur Profitmöglichkeiten. Santos war ein hart gesottener Uribista. Dann übertrug ihm die Oligarchie die Verantwortung, die Staatsverwaltung der von ihr zuvor benutzten Mafia abzunehmen. Der heutige Präsident hatte eine wichtige Wahlhilfe für Uribe dargestellt und war sein Verteidigungsminister und Ideologe seiner Sicherheitspolitik gewesen. Urenkel eines Staatspräsidenten, vertritt er die mächtigste Familie im Land, der auch sein Cousin Francisco Santos, zweitwichtigster Mann im Uribismus, angehört.

Im ganzen Wahlprozess waren Ausschluss und institutionalisierte und kriminelle Repression präsent. Mehrere Kader der politischen und Bewegungslinken, «zufällig» alle der systemkritischen Linken zugehörig, wurden Opfer von Strafverfolgung, wieder andere wurden vertrieben, zum Verschwinden gebracht oder ermordet. Die Zahlenangaben sind ungenau. Heute sind es Dutzende, nicht mehr Hunderte von Ermordeten, aber weiter Hunderttausende von Vertriebenen. In seinem Bestreben, einen demokratischen Wandel vorzugaukeln, und als Augenzwinkern in Richtung Guerilla, die eine solche Geste doch gewiss estimieren würde, kommt die Regierung einen Monat vor den Wahlen dem Justizgebot nach, die ausgelöschte Unión Patriótica (UP) wieder zu legalisieren. Obwohl Tausende der seit Jahren inexistenten UP auf dem Friedhof, im Gefängnis oder im Exil sind, wurden ihre KandidatInnen bedroht. Diese würdige Gruppe von RevolutionärInnen verdient unseren Respekt dafür, dass sie in nur einem Moment und ohne Finanzmittel 250.000 Stimmen gemacht hat.

Die Vertrauenskrise des politischen Systems und die Indifferenz in Sachen Wahlen reflektieren folgende Zahlen: Die Wahlabstinenz erreichte 56.42%, in den grossen Städten sogar 65%. 18.5 Millionen Wahlberechtigte gingen also nicht wählen. Nicht oder falsch ausgefüllte Stimmzettel, tendenziell als Proteststimmen einstufbar, summierten sich auf weitere 21.15%, anderthalb mal soviel, wie die stärkste Partei, der Partido de la U von Santos machte (Das «U» steht für Parteigründer Uribe).


Linke Misere und Verwirrspiele

Die linken Formationen (Polo Democrático Alternativo, Polo oder PDA; Alianza Verde, AV und UP) haben mit 19 Mandaten frühere Resultate gehalten. Allerdings hat sich ihre Zusammensetzung geändert und nicht alle Abgeordneten der AV sind links. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der jahrzehntelange schmutzige Krieg des Establishments und die Auslöschung der UP eine substanzielle Veränderung der linken Parteien und die Kooptierung eines relevanten Teils der antisystemischen Linken bewirkt haben. Einige Linkssektoren sind in Folge dieser «Disziplinierung» zu einer für die «Ästhetik» der falschen Demokratie bekömmlichen und nötigen Opposition geworden. Wir haben heute, und das ist neu, eine Linke, die die Idee des Sozialismus aufgegeben hat und für eine Erweiterung der Demokratie und einige soziale Verbesserungen innerhalb des kapitalistischen Modells eintritt. Dies gilt auch für traditionell radikale Kräfte wie das MOIR von Senator Robledo, das in Vertretung des Polo, der bisher grössten linken Koalition in Kolumbien, am meisten Stimmen gemacht hat. Das MOIR kommt aus dem pro-chinesischen maoistischen Lager.

2006 erzielt der Polo mit seinem Präsidentschaftskandidaten Carlos Gaviria, einem klaren Linken, das beste Resultat der Linken in der Geschichte und gewinnt auch die Bürgermeisterwahlen in Bogotá. 2007 beginnt der PDA zu schwächeln, sowohl wegen der Abwanderung vieler Kader, von denen der Staat einige kooptiert, wie auch wegen Korruptionsskandalen seines damaligen Bürgermeisters von Bogotá, Samuel Moreno, der dafür von der Justiz zu Recht abgeurteilt und danach aus der Partei ausgeschlossen wird. 2009 verlässt mit Lucho Garzón ein weiterer Ex-Bürgermeister von Bogotá den Polo und schliesst sich der Grünen Partei an. Für die Präsidentschaftswahlen 2010 gelingt es einem weiteren wichtigen Politiker, Gustavo Petro, dank einer technischen Manipulation, die Primärwahlen im Polo zu gewinnen. Petro, der spätere Bürgermeister von Bogotá, erzielt nicht einmal die Hälfte der Polo-Stimmen von 2006. Im gleiche Jahr verlässt der mit Santos sympathisierende Petro den Polo, auch weil die Partei sich seiner Forderung verweigert, die FARC als Kriminelle zu titulieren. Er gründet das Movimiento Progresista und gewinnt 2011 das Bürgermeisteramt von Bogotá. (Petro ist letztes Jahr vom ultrarechten Prokurator als Bürgermeister abgesetzt worden, nicht wegen Korruption, sondern weil er damit in der Müllabfuhr aufräumen wollte. Santos hat die Absetzung am 19. März 2014 bestätigt, trotz Riesendemos zugunsten von Petro.)

Lucho Garzón schliesst sich zusammen mit Enrique Peñalosa, einem weiteren, von Uribe unterstützten Ex-Bürgermeister von Bogotá, der Grünen Partei an. Mit ihrem Kandidaten Antanas Mockus machen die Grünen in den Präsidentschaftswahlen 2010 mehr Stimmen als der Polo. Garzón wechselt anschliessend direkt als Minister ins Regierungslager, die Partei bleibt in den Händen des Uribista Peñalosa. Letztes Jahr schliessen sich die Grüne Partei und das Movimiento von Petro zur Alianza Verde zusammen.


Die andere Linke

In diesen Jahren wird langsam eine soziale Bewegung mit pluraler Zusammensetzung und Forderungen geschaffen, die sich, tief politisiert, links der Linken situiert. Ohne Parteiaspirationen hat sich diese Bewegung heute als zentraler Kern einer Linken etabliert, die sich nicht nur die nationale Unabhängigkeit und Autonomie auf die Fahnen schreibt, sondern auch die Überwindung des Kapitalismus. Ihr organisatorischer Ausdruck sind die Marcha Patriótica und der Congreso de los Pueblos. Diesem schon in früheren Correos-Nummern besprochenen Prozess schliesst sich 2012 der Partido Comunista Colombiano an. Deshalb beschliessen die den Polo kontrollierenden Kräfte (das MOIR und mit der Sozialistischen Internationalen, SI, verbundene Sektoren) den Rausschmiss des PCC, der grössten und einzigen linken Kraft mit nationaler Verbreitung, worauf weitere Gruppen den Polo verlassen.


Status Quo und Wahlperspektiven

Es gibt also drei linke Sektoren im Wahlbereich: 1. Der PDA mit SI-nahen Kräften, dem ursprünglich maoistischen MOIR und Sektoren, die mit den politischen Positionen der Guerilla des ELN sympathisieren (5 Sitze im Senat und 3 in der Abgeordnetenkammer, nicht zuletzt dank des Einsatzes des populären Menschenrechtlers Iván Cepeda). 2. Der klar linke Sektor mit KP, UP und Marcha Patriótica, wobei diese ihren Mitgliedern die Wahlbeteiligung anheim stellte (kein Sitz trotz des Renommees der UP-Kandidatin Aída Avella). 3. Die Alianza Verde, politisch ein Sammelsurium, vom neoliberalen Uribista Peñalosa bis zu fortschrittlichen Intellektuellen (5 Sitze im Senat und 6 in der Kammer).

Bei den Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai liegt derzeit Präsident Santos vorne. Laut der letzten Umfrage wird er im ersten Durchgang 30%, in der Stichwahl 39% machen. Die Partei von Uribe, Centro Democrático, schickt Oscar Iván Zúñiga ins Rennen. Er liegt jetzt in den Umfragen mit 10% an dritter Stelle. Für die Konservativen kandidiert, laut Umfragen an vierter Stelle mit 9%, eine ehemalige Verteidigungsministerin von Uribe, Martha Lucía Ramírez. Peñalosa von der AV wird als progressive Figur dargestellt, wobei allerdings die interne Unterstützung durch die Petro-Gruppe lau ist. In den Umfragen ist Peñalosa mit 16% auf Platz 2 vorgerückt und würde Santos in der Stichwahl knapp schlagen. Für die Linke kandidiert Clara López vom Polo, mit Aída Avella von der UP als Vize. Die beiden Parteien haben sich nach den Parlamentswahlen auf ein programmatisches Bündnis geeinigt. López kommt in den Umfragen auch auf 10%, wie der offizielle Kandidat des Uribismus. Falls Petro sie unterstützen würde, käme sie eventuell in die Stichwahl. Petro braucht für ein allfälliges Referendum gegen seine Absetzung als Bürgermeister aber die Unterstützung von Peñalosa, des linken Supports kann er sich mit oder ohne Wahlallianz ohnehin sicher sein. Insgesamt sind also vier der fünf KandidatInnen rechts und drei von ihnen Uribistas, von denen einer, Peñalosa, mutmasslicher Favorit Uribes, auch Stimmen aus dem progressiven Lager holen wird.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 177, 28. April 2014, S. 24-25
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2014