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DA/622: Ein Gespräch mit András aus Ungarn


DA - Direkte Aktion
anarchosyndikalistische Zeitung der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA)

Ein Gespräch mit András aus Ungarn

Interview von Nikola Wittkowski - 25. Juli 2018


András ist aus Szeged, einer Großstadt ganz im Süden Ungarns, hat CNC-Programmierer gelernt und studiert Industrial Engineering in Deutschland. Seit einiger Zeit ist er aktiv in der linken Bewegung in Ungarn.


Wittkowski: Kannst Du uns ein bisschen über die Gewerkschaften in Ungarn erzählen?

András: Es gibt einige Gewerkschaften, aber sonderlich eindrucksvoll sind sie nicht. Die einzige Gewerkschaft, die meiner Meinung nach wirklich etwas verändern will, ist VASAS, die Gewerkschaft für die Metallbranche. Sie haben auch angefangen zu diskutieren, was eigentlich die Rolle einer Gewerkschaft sein soll und schulen ihre Mitglieder. VASAS ist sehr präsent, nicht nur in Betrieben, sondern auch bei Festivals, in den Schulen und Unis versuchen sie besonders die jungen Leute zu erreichen. Darüber hinaus streiken sie vergleichsweise oft.

Für viele junge Leute spielen Gewerkschaften jedoch keine Rolle. Manche sehen, dass Gewerkschaften ihnen mehr Geld bringen, aber den Sinn dahinter - die Solidarität - sehen sie nicht. Sie sehen nicht die Notwendigkeit sich gegen Ausbeutung, gegen den Staat oder die Kapitalisten zu organisieren. Aber zur Zeit können die Gewerkschaften im privaten Sektor einige kleinere Erfolge erzielen. Zum Beispiel haben die ArbeiterInnen bei der Supermarktkette Tesco einen Tag lang gestreikt und anschließend eine spürbare Lohnerhöhung bekommen. Tesco hat zwar versucht Studierende als Streikbrecher einzusetzen, das hat aber überhaupt nicht funktioniert. Den Gewerkschaften kommt bei den Arbeitskämpfen zu gute, dass in Ungarn durch Arbeitsmigration in die EU und anderswo momentan Arbeitskräftemangel herrscht.

Ich war einmal bei einem Gewerkschaftstreffen, wo 7 oder 8 Gewerkschaften vertreten waren. Ich habe von dem Treffen zwei Dinge mitgenommen. Erstens waren die anwesenden GewerkschaftsrepräsentantInnen ziemlich alt und zum anderen drehten sich alle Diskussionen nur darum, wie schlimm die Situation ist. Es wurde aber nicht darüber nachgedacht, was Lösungen für diese Probleme sein könnten.

Das ist auch der Grund warum Fidesz [1] so viele Stimmen bekommen hat. Denn nur sie haben eine Agenda für die Arbeiterklasse und haben ihnen eine Weltsicht angeboten, während die sogenannten Linken, die Liberalen, der Arbeiterklasse überhaupt nichts anzubieten hatten.

Wittkowski: Und was bieten sie der Arbeiterklasse an?

András: Am Anfang war ihr Angebot, dass sie ein Ende mit der Korruption und Selbstbereicherung der politischen Klasse machen würden, wie sie unter der Regierung der Ungarischen Sozialistischen Partei vorherrschend wäre und so auch Geld für die Ärmeren bleibt. Allerdings ist natürlich das Gegenteil eingetreten. Wahrscheinlich haben sie sich sogar mehr bereichert, als die Clique der Sozialistische Partei. Sie behaupteten auch, dass sie mit der Ausbeutung der multinationalen Konzerne Schluss machen würden. Was sie allerdings gemacht haben ist, dass sie massiv dafür gesorgt haben, dass die Konzerne ihrer Clique Marktanteile gewonnen haben.

Wittkowski: Kannst Du ein bisschen ausführen, wie sie sich selbst bereichert haben?

András: Einen guten Teil der Wirtschaft machen ja Fördergelder der EU aus. Die Regierung kann natürlich gucken, wie sie diese Gelder einsetzt. Und so wird geguckt, dass die Gelder in die Taschen ihrer Vasallen wandern. Zum Beispiel bauen sie mit EU-Geldern an den unnützesten Stellen Brücken. Das regt natürlich einige Leute auf und Fidesz hat auch an Zustimmung verloren. Aber dann kam die Flüchtlingskrise. Und so konnte Fidesz den Leuten erzählen, dass es jetzt wichtigere Dinge gibt als Geld und dass wir uns jetzt alle Sorgen um unsere Sicherheit machen sollen. Und die Medien, die der Regierung nahe stehen, verbreiten die absurdesten Hetzgeschichten um den Leuten Angst zu machen. Sie bauen ein Bild auf, dass Ungarn, Europa, das Christentum von zwei Seiten belagert werden. Auf der einen Seite von den muslimischen Flüchtlingen, auf der anderen Seite von den vermutlich jüdischen Herren, die die ganze Welt kontrollieren. Aber wir, die echten Ungarn, wir halten stand und retten das Christentum vor der Zerstörung. Und für diesen Kampf musst Du die Regierung unterstützen, und sollst nicht die Regierung kritisieren, wenn sich Politiker mal wieder selbst bereichern.

Um den Leuten Angst zu machen, hat Orban [2] anfangs eine Menge Flüchtlinge ins Land gelassen, sie aber nicht weiterziehen lassen. In der Zeit wurde dann von den Medien alles mögliche aufgegriffen, um die Flüchtlinge schlecht dastehen zu lassen. Es gab zum Beispiel einen Fall, dass in einer Schule eine Scheibe eingeschlagen wurde. In den Medien wurde der Fall vollkommen aufgebauscht und zwei Wochen lang wurde gemutmaßt, ob vielleicht Flüchtlinge die Scheibe eingeschlagen haben, und was als nächstes für schreckliche Sachen passieren würden. In den Medien wird auch prominent berichtet, wenn beispielsweise ein Flüchtling jemanden in den USA oder sonstwo umbringt. So konnte die Regierung viele Leute verängstigen.

Wittkowski: Was ist denn die Antwort der Linken darauf?

András: Also im Wörterbuch von Orban gibt es das Wort »Linke« nicht, sondern lediglich »Linksliberale« und Kommunisten. Wenn Du zum Beispiel für Rechte von Homosexuellen eintrittst, bist Du ein Kommunist. Und wenn Du ein Kommunist bist, dann unterstützt Du nicht nur die Rechte von Homosexuellen, sondern auch den Islam. Die Fidesz-Leute schmeißen da einfach alles in einen Topf, was sie nicht leiden können. Aber der Hauptfeind ist natürlich George Soros.

Wittkowski: Wer ist George Soros?

András: Soros ist ein ungarischstämmiger US-amerikanischer Investor. Er repräsentiert in den Augen von Fidesz die ganze Verdorbenheit des Westens. Und sie behaupten, dass Ungarn von ihm permanent angegriffen wird. Es gab eine riesige Plakatkampagne in Ungarn, mit riesigen Plakaten, auf denen Soros Gesicht zu sehen ist mit dem Satz »Lass Soros nicht am Ende lachen«. In jeder ungarischen Stadt findet man tausende dieser Plakate. Und wem gehören diese Plakatständer? Den Freunden von Victor Orban.

Wittkowski: Was für soziale Bewegungen gibt es zur Zeit in Ungarn?

András: Das Problem in Ungarn ist, dass die Linke neben den Liberalen vollkommen verblasst. So gab es große Mobilisierungen für die Verfassung. Das ist ja auch schön und gut, aber diese Verfassung hat die Arbeiterklasse nicht vor der Krise 2008 beschützt, diese Verfassung hat nicht ihre Jobs, ihre Wohnungen oder ihre Gesundheitsversorgung geschützt. Wenn man sich das so ansieht, wundert man sich nicht, dass wenige aus der Arbeiterklasse an den Protesten teilgenommen haben. Seit 8 Jahren gibt es diese liberalen Proteste, die auch einige Leute auf die Straße bringen, aber am Ende verändern sie nichts. Die zweitgrößte Mobilisierung überhaupt war gegen die drohende Schließung der maßgeblich von Soros finanzierten CEU-Universität durch die Regierung. Aber als sie 500 Schulen in den Dörfern geschlossen haben, hat sich niemand darum gekümmert.

Wittkowski: Gibt es auch soziale Proteste von links?

András: Das größte Problem für soziale Proteste in Ungarn ist nicht etwa die Fidesz-Partei, sondern die Liberalen, die versuchen sich bei allen Protesten an die Spitze zu drängen und sie in ihrem Sinne lenken.

Es gibt aber in Budapest und in der südungarischen Stadt Pécs die Organisation 'Die Stadt gehört allen', die zum Beispiel Räumungen von MieterInnen verhindert hat. Darüber hinaus gab es Mobilisierungen gegen horrende Zinsen bei Krediten, die vor allem Leute hart getroffen haben, die ihr Haus oder ihre Wohnung abbezahlen mussten. Zu der ersten Demonstration kamen 50.000 Leute, leider ist das dann aber auch relativ schnell wieder im Sand verlaufen und ist in verschiedene Gruppen zerfasert.

Außerdem wurde in Budapest ein Park für fast zwei Jahre besetzt. Dabei ging es darum zu verhindern, dass dort prestigeträchtige Museen gebaut werden. Wir hatten auch einen gewissen Erfolg damit und konnten den Bau der Museen im Park verhindern. Dieser Kampf wurde auch von vielen BudapesterInnen unterstützt, allerdings haben sie sich nicht aktiv beteiligt. Das Problem in Ungarn ist, dass es praktisch kein Bewusstsein gibt, dass man kollektiv Probleme angehen kann.

Wittkowski: Hast Du Hoffnung, dass es mittelfristig in Ungarn zu Veränderungen in einem progressiven oder gar revolutionären Sinne kommen kann?

András: Ein bisschen Hoffnung habe ich, denn durch diese Lohnkämpfe oder Wohnkämpfe steigt das Bewusstsein der Leute um ihre Lage. Um es mit Margaret Thatcher zu sagen »There is no alternative.« Es gibt keine Alternative zu Gewerkschaften und Klassenkampf. Die Mieten in den Städten sind sehr hoch und ich bin mir sehr sicher, dass die Regierung dieses Problem nicht lösen wird. Dafür müssen sich die Leute selbst organisieren, genauso wie für bessere Löhne oder für bessere Lebensbedingungen. Wenn die Leute in den Städten sich mit den Leuten auf den Dörfern vereinigen, dann kann tatsächlich eine revolutionäre Bewegung entstehen. Wenn Leute leidenschaftlich versuchen würden, eine sozialistische Bewegung in Ungarn aufzubauen, dann wird es ihnen mittelfristig gelingen.

Wittkowski: Können wir als Revolutionäre in Deutschland Euch irgendwie unterstützen?

András: Ja schon. Ihr könnt uns viele Dinge beibringen. Was mich allerdings wirklich stört, ist, dass viele Leute versuchen von außen das System zu verändern, das funktioniert nicht. Aber wenn ihr uns beibringt, wie man eine Bewegung aufbaut, wie man Demonstrationen organisiert, wie wir Leute überzeugen können und so weiter, das wäre sehr hilfreich für uns.


Anmerkungen:
[1.] Fidesz ist die rechtspopulistische Regierungspartei in Ungarn; Siehe dazu auch die Artikel von Leon Bauer in der DA 2011

[2.] Ministerpräsident von Ungarn und Parteivorsitzender von Fidesz


URL:
https://direkteaktion.org/ein-gespraech-mit-andras-aus-ungarn/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2018

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