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DAS BLÄTTCHEN/1137: Mit gezinkten Karten


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
4. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Mit gezinkten Karten

von Wolfgang Schwarz


Manche Beobachter gewärtigten bereits das Nahen einer neuen, einer partnerschaftlichen Epoche im wechselvollen Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, als die NATO auf ihrem Lissabonner Gipfel im November vergangenen Jahres eine neue Strategie verabschiedete. In dem betreffenden Dokument ist unter anderem vermerkt: "We will actively seek cooperation on missile defence with Russia [...] we want to see a true strategic partnership between NATO and Russia, and we will act accordingly". Zugleich hatte der russische Präsident Dmitri Medwedjew - Gast in Lissabon - erstmals die Bereitschaft Russlands zur Kooperation in Sachen Raketenabwehr erklärt. Damit schienen die Weichen gestellt, einen strategischen Zankapfel mit potenziell weitreichenden Folgen durch den Wechsel von konfrontativem Gegeneinander zu kooperativem Miteinander zu entschärfen.

Die Bush-Administration war im Juni 2002 einseitig vom (sowjetisch-)russisch-amerikanischen ABM-Vertrag zur gegenseitigen Begrenzung der Raketenabwehrsysteme aus dem Jahre 1972 zurückgetreten, um das Tor für neue Generationen derartiger Systeme zu öffnen. Offiziell begründete Washington dies damit, dass man sich gegen die Entwicklung ballistischer Fernwaffen und Atomsprengköpfe durch "Schurkenstaaten" wie Nordkorea und Iran wappnen müsse. Moskau gegenüber ist seither immer wieder versichert worden, dass sich jegliche Raketenabwehrprojekte nicht gegen Russland richteten, ja eine Abwehr gegen dessen breit gefächertes strategisches Nuklearpotential technologisch und finanziell gar nicht möglich sei.

Derartige Erklärungen enthalten allerdings nur die halbe Wahrheit und gehen auf die russischen Befürchtungen in Sachen Raketenabwehr nicht ein. Die russische Sicht besagt nämlich, dass selbst ein beschränktes Raketenabwehrpotenzial nach einem vorangegangenen massiven nuklearen Erstschlag gegen die strategischen Streitkräfte Russlands die dann noch vorhandenen Vergeltungssysteme neutralisieren und somit das grundlegende Axiom der atomaren Abschreckung - "Wer zuerst schießt stirbt als zweiter." - aushebeln könnte. Mit anderen Worten: Moskau sieht in einer weiterentwickelten Raketenabwehr einen potenziellen Schlüssel zum Sieg im Nuklearkrieg. Das mag man angesichts der verheerenden globalen Folgen, die bei einem derart massiven Einsatz von Kernwaffen zu erwarten wären, für aberwitzig halten, aber entsprechende Denkspiele waren schon vor 30 Jahren Teil der strategischen Debatte in den USA - verbunden mit entsprechenden Entwicklungen der Rüstungstechnologie. Das lief damals unter dem Stichwort "atomare Enthauptung".

Und auch heute findet Russland Unterfutter für seine Sicht der Dinge in den konkreten Aktivitäten und Planungen der USA:

- Als im März 2011 mit der USS Monterey das erste mit Abfangraketen vom Typ SM-3 IA bestückte Kriegsschiff ins Mittelmeer abordnet wurde tauchte der Kreuzer wenig später im Schwarzen Meer auf. Zusammen mit einem entsprechenden Frühwarnradar, zu dessen Stationierung sich die Türkei nach anfänglichem Zögern kürzlich bereit erklärt hat (auch aus Georgien gab es diesbezüglich Signale), wird das eine Kombination, die außer nach Süden in Richtung Iran auch ohne Weiteres nach Norden wirksam werden könnte. (30. September waren bereits 23 Kriegschiffe entsprechend armiert; bis 2016 soll Ihre Zahl auf 41 steigen.)

- Im Hinblick auf eine potentielle Raketenbedrohung Europas aus dem Iran mag eine Stationierung von Abwehrflugkörpern in Rumänien - ein entsprechendes amerikanisch-rumänisches Abkommen wurde am 13. September 2011 unterzeichnet - ja noch plausibel sein, im Hinblick auf Polen, wo eine neue Generation von Abfangraketen vom Typ SM-3 IIB ab 2018 stationiert werden soll, gilt das aber nicht. Und die SM-3 IIB wird im Unterschied zu den Vorgängermodellen von ihren Leistungsparametern her in der Lage sein, auch landgestützte strategische Raketen (ICBM), die das Rückgrat der russischen Nuklearstreitkräfte bilden, in einer bestimmten Flugphase abzufangen.

- Im amerikanischen Senat gibt es eine starke Fraktion, die jegliche Kooperation mit Russland im Bereich Raketenabwehr blockieren will. So richtete erst im April eine Gruppe von 39 republikanischen Senatoren die Forderung an Barack Obama, eine schriftliche Versicherung abzugeben, keinerlei Informationen, die mittels Frühwarnsystemen gewonnen wurden, an Russland weiterzugeben. Unter Experten gilt ein entsprechender Informationsaustausch einerseits als unter dem Strich wenig substantiell, aber andererseits gerade deshalb als Nagelprobe für den Willen zur Kooperation. Darüber hinaus gibt es im US-Kongress auch Kräfte wie den republikanischen Senator Jim DeMint, die am liebsten Raketenabwehrkapazitäten gegen das gesamte strategische Potenzial Russlands aufbauen würden.

Hinzu kommt, dass Russland mit seinen derzeitigen technologischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf absehbare Zeit außerstande ist, im Hinblick auf neue Raketenabwehrtechnologien mit den USA mitzuhalten. Das ist angesichts des Standes und des Entwicklungspotenzials der russischen strategischen Nuklearstreitkräfte zwar auch gar nicht erforderlich, um eine Zweitschlagskapazität und damit die Abschreckung nuklearer Angriffe im Rahmen der bisherigen Mutual Assured Destruction (MAD) zu gewährleisten. Dieses Unvermögen ist für die Moskauer Führung nichtsdestotrotz ein psychologisches Problem, weil es in deren Sicht ein augenfälliges Indiz für die eigene strategische Zweitrangigkeit gegenüber den USA darstellt.

Russland seinerseits hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, mit denen sowohl die erklärte Bereitschaft zur Kooperation im Bereich der Raketenabwehr zu substantiieren wie auch die russischen Befürchtungen hinsichtlich der künftigen Kapazitäten der USA zu beseitigen wären. Dazu zählt an vorderster Stelle die Idee, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem der USA (und der NATO) sowie Russlands aufzubauen, in dem beide Seiten die Kontrolle über jede Entscheidung zum Start von Abwehrraketen hätten. Das ist vom Westen allerdings ebenso abgelehnt worden wie die gleichfalls lancierte russische Forderung nach einer rechtsverbindlichen Garantie, dass die USA und die NATO ihre Abfangsysteme in keinem Fall auf Russlands strategische Raketen ausrichten würden. Darüber hinaus hat Moskau angeregt, die absolute Zahl künftiger Abwehrraketen, ihre technischen Parameter (vor allem ihre Geschwindigkeit) und ihre Dislozierung vertraglich so zu beschränken, dass sie - mit den Worten des für internationale militärische Zusammenarbeit zuständigen stellvertretenden russischen Verteidigungsministers Anatoly Antonov - "nicht alle (russischen - W.S.) ICBMs abfangen können".(*)

Insgesamt lässt das bisherige Verhalten der USA und der NATO nur den Schluss zu, dass die in Lissabon mit großem Bombast erklärte Bereitschaft zur Zusammenarbeit tatsächlich nur ein Nebelschleier über dem Unwillen und der Unfähigkeit zu wirklich gleichberechtigter Kooperation war. Dass dies von russischer Seite als Spiel mit gezinkten Karten empfunden wird, sollte niemanden verwundern.

Die ganze Entwicklung ist umso bedenklicher, als sich Russland für den Fall eines weiterhin einseitigen westlichen Marsches in Richtung Raketenabwehr zu den möglichen Konsequenzen klar geäußert hat oder diese angesichts erklärter russischer Interessen und diverser Statements auf der Hand liegen. So hat Präsident Medwedjew selbst wiederholt darauf verwiesen, dass das New-START-Abkommen zur weiteren Reduzierung der strategischen Offensivwaffen (siehe Blättchen, 12 / 2011) ausgesetzt oder sogar gekündigt werden könnte und ein Rückfall in den Kalten Krieg drohe. Weiteren atomaren Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und Russland würde der Boden entzogen. Das beträfe auch die taktischen Kernwaffen, bei denen Moskau ein numerisches Übergewicht von etlichen Tausend Systemen gegenüber der NATO hat (siehe Blättchen, 15 und 16 / 2011). Und Moskau würde nicht zuletzt, wie der russische NATO-Botschafter Dmitri Rogosin erst im Frühsommer expressis verbis öffentlich deutlich gemacht hat, mit dem Ausbau seiner strategischen Offensivwaffen gegenhalten. Dafür kämen vor allem mobile landgestützte Systeme und solche mit Mehrfachsprengköpfen in Frage.

All diese Möglichkeiten, da gebe man sich keiner Illusion hin, liegen im Bereich dessen, was Moskau entscheiden und auch realisieren könnte. Zu ergänzen wäre dabei, dass im Falle einer entsprechenden Entwicklung auch das fragile internationale Regime zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (siehe Blättchen, 11 / 2010) wahrscheinlich den endgültigen Todesstoß erhielte.

Stellt sich die Frage nach der Alternative. Die kann, soll sie die hier skizzierten möglichen negativen Entwicklungen verhindern, nur darin bestehen, strategische Partnerschaft mit Russland nicht nur verbal anzubieten, sondern real auf den Weg zu bringen, und das hieße im konkreten Falle: entweder gemeinsame Raketenabwehr oder - was nach Auffassung des Autors die vernünftigere Option wäre - gemeinsamer Verzicht auf neue Generationen von Abwehrsystemen und Wiederbelebung sowie Weiterentwicklung des früheren ABM-Regimes.

Sollten die USA und die NATO bei ihrer bisherigen Weichenstellung bleiben, wären unter anderem folgende komplementäre Schritte möglich und zum Teil unumgänglich:

- Als vertrauensbildende Maßnahme und zur Vorbereitung künftiger Vereinbarungen und kooperativer Aktivitäten sollten die USA, die NATO und Russland ein ständiges gemeinsames Gremium einrichten, das sich mit der Analyse potenzieller Bedrohungen durch ballistische Mittel- und Langstreckenwaffen sowie mit allen Fragen der Weiterentwicklung, der Herstellung, der Stationierung und der Einsatzgrundsätze gegenwärtiger und künftiger Raketenabwehrsysteme befasst und nach für beide Seiten akzeptablen gemeinsamen Lösungen sucht. Angesiedelt werden könnte ein solches Komitee zum Beispiel beim NATO-Russland-Rat.

- Hilfreich wäre ein gemeinsames Zentrum, in dem die Daten von Frühwarnsystemen der USA, der NATO und Russlands (stationären und mobilen Radaranlagen, Satelliten) zusammengeführt werden, so dass beide Seiten permanent und zeitgleich ein reales Bild von potenziellen Gefahren erhalten. (Die Idee ist bereits etliche Jahre alt, und erst im März hat sich US-Verteidigungsminister Robert Gates erneut in diesem Sinne geäußert.)

- Unumgänglich ist der Austausch von Informationen und Schlüsseltechnologien im Hinblick auf weiterentwickelte und neue Raketenabwehrsysteme. (Wer das angesichts des technologischen Rückstandes Russlands als Einbahnstraße ablehnt, der hat immer noch nicht begriffen, wie Sicherheit zwischen Nuklearmächten unter Einschluss von Raketenabwehr funktioniert: Im Falle einer Konfliktsituation, die eskaliert - 60 Jahre Kalter Krieg haben dafür genügend Beispiele geliefert - könnte sich die unterlegene Seite im Hinblick auf ihre Nuklearstreitkräfte vor die Alternative "use them or loose them" gestellt sehen und zuerst zuschlagen.)

- Letztendlich müssten regionale Raketenabwehrsysteme gemeinsam errichtet und betrieben werden, wo immer es bis zu deren Einsatzreife nicht gelingt, eine potenzielle Raketenbedrohung durch eine politische Lösung zu verhindern oder aus der Welt zu schaffen.

Allerdings - nichts von diesen Ideen und Möglichkeiten scheint derzeit realisierbar. Im Gegenteil - die negativen Tendenzen haben deutlich an Boden gewonnen, nachdem dieses Jahr ohne substanzielle Kooperationsansätze vorüber gegangen ist und angesichts der in Russland und den USA anstehenden Präsidentschaftswahlen nun bis mindestens Ende 2012 mit keinem Fortschritt zu rechnen ist. Ich kann daher meine Einschätzung vom Anfang des Jahres (Blättchen Nr. 2 / 2011) leider nur wiederholen: "Das Projekt einer [...] Raketenabwehr birgt eher das Potenzial in sich, die Gegnerschaft zwischen NATO und Russland neu und nachhaltig zu beleben, als sie endgültig zu überwinden."


P.S.: Parteigängern einer neuen Runde im Rüsten mit Raketenabwehrsystemen, soweit sie von sich annehmen, sicherheitspolitisch zu denken und zu agieren, und nicht einfach nur an einem Bombengeschäft oder am Krieg(sverhinderungs)spielen interessiert sind, noch eines ins Stammbuch: Wo in Feindschaft gegeneinander gerüstet wird, herrscht bestenfalls Nichtkrieg, aber kein nachhaltiger Frieden. Das war im Kalten Krieg so. Das gilt auch heute. Und die Folgen eines Versagens derart fehlgeleiteter Sicherheitspolitik wären immer noch so, dass man es darauf nicht ankommen lassen darf.

(*) - Zu weiteren Details russischer Vorstellungen im Hinblick auf eine mögliche Raketenabwehrkooperation siehe:
A. Diakov / E. Miasnikov / T. Kadyshev, Nuclear Reductions After New START,
http://www.armscontrol.org/act/2011_05/Miasnikov


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 21/2011 vom 17. Oktober, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2011