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DAS BLÄTTCHEN/1161: Eurasischer Dialogpartner


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Eurasischer Dialogpartner

von Peter Linke, Moskau


Die Notwendigkeit einer engen Kooperation zwischen Brüssel und der in Peking ansässigen Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ)* wird nur verstehen, wer sich die geopolitische Bedeutung Zentralasiens für das heraufziehende 21. Jahrhundert bewusst macht. Neben der Arktis stellt Zentralasien eine der Schlüsselregionen gegenwärtiger und künftiger internationaler Politik dar: Genau hier wird die seit langem insbesondere durch westliche "Entscheidungsträger" behauptete West-Ost / Europa-Asien-Dichotomie endgültig überwunden werden, ein "eurasischer" Megakontinent als die vielleicht wichtigste weltpolitisch-geographische Realität des heraufziehenden Jahrhunderts seine zentrale Achse haben.

Mag der Begriff Zentralasien geographisch-historisch wenig belastbar erscheinen. Politisch-programmatisch ist er es allemal. Zentralasien als transregionales Phänomen steht für diverse Sachverhalte. Das betrifft vor allem die Zugehörigkeit Kasachstans zum "mittelasiatischen" Raum - ein Novum, bildete doch zu Sowjetzeiten die Kasachische Sozialistische Sowjetrepublik eine separate Wirtschaftseinheit neben den "mittelasiatischen" Republiken Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenien und Usbekistan. Der daraus resultierende Konflikt zwischen den selbst erklärten Regionalmächten Kasachstan und Usbekistan bestimmt in hohem Maße die politische und wirtschaftliche Dynamik der gesamten Region. Gleichzeitig bewirkten konträre "Geschäftsmodelle" Astanas und Taschkents ("Eurasische Union" versus "Neue Seidenstrasse") die regionale Andockung zweier externer Mächte - Russland und China.

Weitere wichtige regionale Charakteristika sind die nicht zuletzt durch den Bürgerkrieg der neunziger Jahre verursachte schleichende "Afpakisierung" Tadschikistans (die zunehmende "Umzingelung" urbaner Ballungszentren durch aus afghanischem und pakistanischem Exil heimkehrende Bürgerkriegsteilnehmer), das Ringen der Türkei, arabischer Staaten und des Iran um Einfluss in einem weitgehend islamisch geprägten Kulturraum sowie wachsendes wirtschafts- und militärpolitisches Interesse des Westens (USA, EU, Japan) sowie verschiedener Schwellenländer, allen voran Indien.

Kurzum: eine komplizierte, unübersichtliche, hochdynamische Gemengelage, die aufgrund wenig effektiver transregionaler Kooperationsmechanismen enorme Sprengkraft aufweist. Die Schaffung und Stärkung derartiger Mechanismen - flexibel in der Handhabung, gegenseitig vorteilhaft in der Wirkung - ist eine der wesentlichen Herausforderungen, vor denen die Länder der Region stehen.

Mit anderen Worten: innovative multilaterale Ansätze tun not. Ein Forum, das Derartiges ausprobiert, ist zweifelsohne die SOZ. Nicht nur Großmächte wie Russland und China empfangen hier seit Jahren nachhaltige Bildungsimpulse. Auch andere, "mittelmächtige" Akteure begreifen die SOZ zunehmend als Hohe Schule neuen transregionalen Miteinanders.

EU-Europa täte gut daran, die auf diesem Wege gewonnen Einsichten nicht gering zu schätzen. Dementsprechend sollte es sich bemühen, von den Schanghaiern offiziell als "Dialogpartner" akzeptiert zu werden. Nur so dürfte es Brüssel letztlich gelingen, in der Region alternative sicherheitspolitische Wege zu gehen. Angesichts seiner auf der Stelle tretenden Zentralasien-Strategie sowie des totalen Scheiterns der NATO-Befriedungsstrategie gegenüber Afghanistan ist dies ein Gebot der Stunde.

Ein Jahrzehnt westlicher Präsenz am Hindukusch hat mehr als deutlich gemacht: Jegliche Beilegung des Afghanistankonfliktes erfordert nicht nur einen Ansatz jenseits des rein Militärischen (Stichwort: Erweiterter Sicherheitsbegriff), sondern auch und vor allem die Aktivierung bzw. Generierung "indigener Konflikthemmer". Wer, wenn nicht die SOZ, könnte hier Pionierarbeit leisten? Als vertrauensbildende Megastruktur ist sie geradezu prädestiniert, entsprechende Interessenbündelungen vorzunehmen und regionalspezifische Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dies umso mehr, als Afghanistan seit geraumer Zeit ohnehin aufs engste mit der SOZ kooperiert - aus gutem Grund, fungieren doch ein Vollmitglied der Organisation (China) und ein Beobachter (Iran) längst als größte "Geber" Kabuls.

Will EU-Europa effektiv Einfluss auf Afghanistans künftige Entwicklung nehmen, sollte es dies vor allem in engster Abstimmung mit zentralen regionalen Akteuren tun. Neben Tadschikistan, Russland und China zählt dazu auch die Islamische Republik Iran.

Der Einfluss des Gottesstaates auf seinen östlichen Nachbarn ist erheblich und soll nach dem Willen der iranischen Führung in den nächsten Jahren noch ausgebaut werden. Eine wesentliche Rolle misst man dabei Duschanbe zu: Immer häufiger ist in Teheran die Rede von einem Dreierbund Afghanistan-Iran-Tadschikistan als wesentlichem Element einer "Großiranischen Wertegemeinschaft". Ein Ansatz, der bei vielen Angesprochenen durchaus verfängt. Nicht zuletzt, weil er von diesen - zu Recht - als weiteres Indiz für Teherans Abrücken von der Idee eines "Exports der islamischen Revolution" auch und vor allem nach Zentralasien interpretiert wird.

Für die SOZ ein Grund mehr, ihre ablehnende Haltung gegenüber einer iranischen Vollmitgliedschaft noch einmal gründlich zu überdenken. Denn eines ist vollkommen klar: Ohne Teheran kein stabiles Afghanistan. Und ohne stabiles Afghanistan keine regionale Stabilität.

Dass Irans Interesse an der SOZ strategischer Natur ist, daran besteht kein Zweifel: Die Liste der Absichten, die Teheran mit einer Vollmitgliedschaft verfolgt, ist ebenso lang wie widersprüchlich: qualitativ verbesserte Beziehungen zu Moskau und Peking, weniger regionale Einflussnahme Washingtons, die Aussicht auf Bildung eines gewaltigen Binnenmarktes nach dem Beitritt Indiens und Pakistans, neue Möglichkeiten regionaler militärisch-technischer Kooperation, die Schaffung zusätzlicher Kommunikationskanäle nach EU-Europa ... Die Schanghaier Organisation bietet sich nicht nur als alternativer Korridor nach Afghanistan, sondern auch "geschützter Raum" zur Neuordnung des arg in Mitleidenschaft gezogenen europäisch-iranischen Verhältnisses an - Optionen, denen sich Brüssel nicht verschließen sollte, will es an geopolitischer Statur tatsächlich dazu gewinnen.

Insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in Nahost, der wachsenden Spannungen zwischen den Golfstaaten und dem Iran, die sich durchaus in einem großem Krieg um Syrien entladen könnten, braucht der Westen einen komplett neuen sicherheitspolitischen Ansatz nicht nur gegenüber Riad und Abu Dhabi, sondern auch und vor allem Teheran. Die "Denuklearisierung" der europäisch-iranischen Beziehungen scheint diesbezüglich der einzig Erfolg versprechende Weg zu sein. Statt diplomatisch-militärischem Stalking braucht der Iran reale Sicherheitsgarantien. Die 2006er Initiative Aschchabads, Astanas, Bischkeks, Duschanbes und Taschkents zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Zentralasien stellt einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Im Rahmen der SOZ könnten weitere folgen. Deren Gewicht würde freilich umso größer sein, würden sie an Spree, Seine und Themse gestützt ...

Afghanistan und der Iran - nur zwei mögliche Kooperationsfelder zwischen Brüssel und der SOZ. Letztlich jedoch geht es um weit mehr: eine veränderte geopolitische Optik, die Ausprägung eines neuen transeurasischen Selbstbewusstseins, kurzum einen entschlossenen emanzipatorischen Ruck EU-Europas in außen- und sicherheitspolitischen Belangen. Die SOZ als offene transregionale Dialogstruktur bietet diesbezüglich vorzügliche Anknüpfungspunkte.

Nicht minder wichtig als ein stabiler Euro ist für die Zukunft Europas eine belastbare multilaterale Ostpolitik. Insbesondere für das außen- und sicherheitspolitisch seit Jahrzehnten eher bieder denn innovativ agierende Deutschland eine unerhörte Herausforderung, der sich zu stellen, einer wahrhaften Revolution gleichkäme.


* - Als Vollmitglieder gehören der Organisation derzeit an: Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan und die Volksrepublik China. Beobachterstatus haben: Indien, Iran, die Mongolei und Pakistan. Dialogpartnerstatus hat unter anderem Afghanistan. - Mit Geschichte, Zielstellungen und Perspektiven der SOZ befasste sich der Autor in zwei früheren Blättchen-Beiträgen; siehe Ausgaben 11 und 14 / 2011.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 1/2012 vom 9. Januar, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2012